Headline in der «Aargauer Zeitung» vom 28. Oktober 2022. «Befreit von wem oder von was? Das Wort «befreit» impliziert eine falsche Information. (Screenshot)

Die Meinungsmanipulation startet schon beim Wort «Befreiung»

In politischen Berichten und Kommentaren lohnt es sich, die verwendeten Begriffe genau zu beachten. Ist ein Kämpfer ein Freiheitskämpfer, ein Partisan, ein Rebell oder gar ein Terrorist? Und bei Interviews: Welche Fragen werden gestellt, und welche bewusst vermieden? Gefragt sind Aufmerksamkeit und eine gute Portion Medienskepsis.

Anfang Jahr 2014 haben Demonstranten auf dem Maidan in Kiev den ordentlich gewählten Staatspräsidenten Wiktor Janukowytsch vertrieben und abgesetzt. Darauf wurde, mit «beratender» Beteiligung der USA, eine neue Regierung eingesetzt, in der zum Beispiel auch vier Mitglieder der Neonazi-Partei Swoboda von Oleh Tjahnybok Einsitz hatten. Da diese neue Regierung demokratisch nicht mehr legitimiert war, haben sich die Einwohner der Halbinsel Krim von der Ukraine völkerrechtskonform abgesetzt und mit einem Referendum und mit Zustimmung Moskaus mit Russland wiedervereinigt. 

Mich – promovierter Historiker und professioneller und geopolitisch interessierter Journalist – hat es im Jahr 2019 interessiert, wie die dortige Bevölkerung fünf Jahre nach der Sezession von der Ukraine und der Wiedervereinigung mit Russland auf diese ihre Entscheidung zurückschaut und wie sie die neue Situation beurteilt. In persönlichen Gesprächen mit etlichen Dutzend Einwohnern der Krim, von der Reinigungsfrau im Hotel in Jalta bis zur Uni-Professorin in Sewastopol und auch mit etlichen Krimtataren – und nicht mit Politikern! – habe ich keine Person – keine! – gefunden, die die Wiedervereinigung mit Russland bedauert und wieder zur Ukraine gehören möchte. Soweit die Fakts.

In der UN Charta Artikel 1 Absatz 2 ist das Recht auf Selbstbestimmung der Völker ausdrücklich festgehalten. Das hindert westliche Zeitungen und TV- und Radio-Leute aber nicht, eine «Befreiung» der Krim zu fordern oder auch eine «Befreiung» der Krim im nächsten Jahr vorauszusagen, wie der Screenshot aus der «Aargauer Zeitung» in der Schweiz vom 28. Oktober 2022 – siehe das Aufmacherbild – zeigt. 

Das Wort «Befreiung» impliziert, dass die Betroffenen jetzt unfrei sind. Die Krim betreffend ist das eine absolute aber gut verpackte Falschinformation. Die Menschen auf der Krim haben das in der UNO Charta festgehaltene Recht auf Selbstbestimmung wahrgenommen – und sie würden, wie eine Rückfrage bei persönlichen Bekannten auf der Krim ergeben hat, sich auch jetzt gegen eine militärische Eroberung der Krim durch ukrainische oder NATO-Truppen wehren – auch mit Waffen.

Falsche Fragen im Interview

In der gleichen «Aargauer Zeitung», in der Samstag-Ausgabe vom 5. November, konnte man ein Interview mit dem deutschen Historiker Sönke Neitzel lesen – dem «einzigen deutschen Militärhistoriker», wie man in einer speziellen Box lesen konnte. Der interviewende Journalist stellte dem «einzigen deutschen Militärhistoriker» 14 Fragen, alle zum aktuellen Verlauf des Krieges in der Ukraine, aber keine einzige dazu, wie es zu diesem Krieg überhaupt kommen konnte – wozu der «einzige deutsche Militärhistoriker» ja vielleicht tatsächlich etwas hätte sagen können. Zum Beispiel, dass bei der Wiedervereinigung Deutschlands Russland versprochen wurde, die NATO um keinen Zentimeter Richtung Osten zu erweitern, was dann aber doch gemacht wurde, und wie! Oder dass es Dutzende von Historikern und Politologen gegeben hat, die vor einer Osterweiterung der NATO ausdrücklich und öffentlich gewarnt haben, leider vergeblich. Oder dass die ukrainischen Truppen und Milizen nach 2014 acht Jahre lang den Donbass bombardiert haben und dies in den letzten Wochen vor dem Krieg in zunehmendem Ausmass – mit etlichen tausend Toten. Oder dass im Dezember 2021 Russland von den USA und der NATO nach den gigantischen NATO-Manövern an der russischen Grenze Sicherheitsgarantien verlangt hat, die aber von beiden Instanzen klar abgelehnt wurden. Dazu hätte man dem «einzigen deutschen Militärhistoriker» Fragen stellen können. Aber nein, man stellt ihm 14 Fragen oder macht Antworten erwartende Bemerkungen wie: «Scholz sagt, kein Land schicke so viele Waffen wie Deutschland.» Der Leser erfährt aus einem fast zweiseitigen Zeitungsinterview nichts, aber auch gar nichts über die Vorgeschichte dieses Krieges. Die es natürlich gibt und die mitentscheidend für den Angriff Russlands auf die Ukraine war. 

Man kann, wie man am Beispiel dieses Interviews mit einem sogenannten Experten sieht, Vieles als Information verkaufen, die richtigen und wichtigen Fragen aber einfach weglassen.

Was aber kann man aus solchen Artikeln lernen? Man beachte die einzelnen Formulierungen, ja sogar die verwendeten Begriffe wie «Befreiung». Und man wird öfter als erwartet feststellen, dass die Manipulation der öffentlichen Meinung schon bei einzelnen Wörtern oder bei nicht gestellten Fragen beginnt.

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Zum Recht auf Selbstbestimmung siehe auch: «Die Abspaltung des Donbass von der Ukraine war kein Verstoss gegen das Völkerrecht»

Und siehe auch: «So führt das Verschweigen von Fakten zur Unwahrheit»

Zu Christian Müllers Berichterstattung über die Krim: hier anklicken.