
Die Geschichten von russischen «Kinderräubern».
Die USA haben in allen Kriegen von Vietnam bis Afghanistan Tausende von Kindern evakuiert und dies als humanitäre Mission deklariert. Wenn Russland Waisen aus den Kampfgebieten in der Ukraine bringt, stellt ein überwältigender westlicher Propaganda-Apparat dies als Kindsraub und Verbrechen dar.
Im April 1975, als der Vietnamkrieg dem Ende zu ging, transportierten die US-Streitkräfte in der Operation «Babylift» nach offiziellen Angaben einige tausend Kinder aus Vietnam in die USA. Der Transport geriet damals in die Schlagzeilen, weil die erste Maschine mit vietnamesischen Kindern an Bord bei Saigon abstürzte. Ein knappes halbes Jahrhundert später, im Dezember 2021, meldete CNN, die US-Streitkräfte hätten 1450 Kinder aus Afghanistan in die USA gebracht. Eine Meldung, die in der politischen Öffentlichkeit nicht mehr Aufsehen machte, als eine Staumeldung oder der Wetterbericht.
Ich weiss nicht, wie viele Kinder die USA in all ihren Kriegen verfrachtet haben: aus Lateinamerika, Asien und Afrika, vom Balkan, aus dem Irak, aus Libyen oder Syrien. Allein im Vietnam-Krieg waren es laut Medienberichten mehr als 50’000, und dort, wie auch in anderen Fällen, waren viele fromme und weniger fromme christliche Hilfswerke beteiligt. Keine Journalistin, kein Journalist einer großen westlichen Zeitung kam bei all diesen Transporten auf die Idee, von «Kinderraub» oder «Deportationen» zu reden. Ganz im Gegenteil. Schutz der Schutzlosen war immer Gebot des humanitären Völkerrechts. Die Genfer Konventionen regeln den Schutz von Zivilpersonen, also auch von Kindern, im Krieg.
Das gilt aber nicht für Russland. Wenn die russische Armee elternlose Kinder und Jugendliche aus ukrainischen Kampfgebieten evakuiert, kann dies keine humanitäre Aktion sein, weil Russland in der Gestalt von Putin jede Menschlichkeit und Barmherzigkeit abzuerkennen ist. Auf dieser verqueren Logik beruhen offensichtlich die Propaganda-Fiktionen, die seit Kriegsbeginn von zahlreichen Menschenrechts-NGO fabriziert und in großen westlichen Medien kolportiert werden.
Die meisten dieser NGO sind nicht das, was ihr Name verspricht, nämlich vom Geld der Regierungen und ihrer Pressure Groups unabhängig zu sein. Viele betreiben Regime Change, wo der Westen diesen beabsichtigt. Und das lässt sich immer weniger verbergen. Indien hat in den letzten Jahren 15’000 (fünfzehntausend) Nicht-Regierungsorganisationen die Zulassung entzogen.
Die ausführlichen Stellungnahmen der russischen Regierung zu den Vorwürfen der Kinderverschleppung werden in den großen westlichen Medien verschwiegen oder auf zwei, drei Sätze zusammengestaucht, üblicherweise unter dem Buzzword «Moskau leugnet wieder». Russland ist weitgehend machtlos gegen eine gewaltige westliche Propaganda-Maschinerie, welche die Aufrüstung forciert und einen Krieg gegen Russland heraufbeschwört.
«Kinderfänger Putin»
Es bedurfte keiner anspruchsvollen Propagandatechnik zur Herstellung der Erzählungen über «Deportationen ukrainischer Kinder». Die Sache ist simpel. Kinder, die aus Gefahrenzonen der Frontlinien von russischen Truppen evakuiert wurden, sind normalerweise in der Ukraine als Einwohner registriert. Kaum wird ein Gebiet von russischen Truppen eingenommen, können Kinder dieser Zone als «Verschwundene» aufgelistet und als «Verschleppte» deklariert werden.
Dabei sind der erzählerischen Kreativität, wo es um den «Kinderfänger Putin» (NZZ am Sonntag) geht, offensichtlich keine Grenzen gesetzt. Mykola Kuleba, Regierungsbeauftragter für Kinderrechte in Kiew, sagte vor dem UN-Sicherheitsrat: «Mehr als eine Million Kinder sind in den besetzten Gebieten der Krim und des Donbass gestrandet (ended up) und wurden nach Moskau deportiert. Sie wurden gestohlen und zu Waffen gemacht. Tausende von ihnen kämpfen nun gegen ihr Heimatland.»
Die Vorstellung, die russische Regierung entführe Kinder aus der Ukraine, um sie in Erziehungslagern zu «russifizieren», ihre «Identität auszulöschen» und sie dann als Kanonenfutter an die Front zu schicken, geistert unaufhörlich durch die Medien. In unseren Talk-Shows zur Ukraine wartet man bis heute vergeblich auf eine Psychologin oder Strategie-Expertin, die die ernüchternde Frage stellt, welchen militärischen und politischen Nutzen die russische Armee von solchem Vorgehen haben sollte, und ob man dem Kreml eine Strategie von solcher Dummheit zutrauen soll.
Große Zeitungen wie die Neue Zürcher, aber auch renommierte Menschenrechts-Organisationen wie Amnesty International lassen sich desungeachtet dazu verleiten, die Geschichten vom «russischen Kinderräuber» zu beglaubigen. Aber da ist Vorsicht geboten. Amnesty zum Beispiel hat sich immer wieder durch Propagandalügen täuschen lassen, so im Fall der «Brutkasten-Babys» im ersten Golfkrieg und im Fall des von Muammar al-Gaddafi angeblich «geplanten Massenmordes» in Benghasi im Libyen-Krieg. Amnesty International hat seine Fehler jeweils kleinlaut eingeräumt und Fakes gelöscht, scheint aber offensichtlich immer wieder in die gleiche Falle zu tappen.
Von der Leyen: «Erinnerung an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte»
Im März 2023 stellte der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Haftbefehle gegen Präsident Putin und die russische Kommissarin für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa aus. Mit der Begründung, es gebe «berechtigte Gründe für die Annahme», dass beide «individuell strafrechtlich verantwortlich» für die unrechtmäßige Deportation ukrainischer Kinder nach Russland seien. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach anschließend in Brüssel nicht gerade von einer Million, sondern von 16.200 ukrainischen Kindern, die Russland verschleppt haben soll.
«Es ist eine schreckliche Erinnerung an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte, was dort geschieht, die Deportation von Kindern», sagte von der Leyen. Dabei ist klar, was gemeint ist, wenn eine deutsche Politikerin sich auf die dunkelsten Zeiten ihrer Geschichte bezieht. Man erinnert sich an den deutschen Außenminister Josef («Joschka») Fischer, der landauf landab mit der Parole «Nie wieder Auschwitz» für den NATO-Angriff gegen die Serben mobil machte.
Der Strafgerichtshof in Den Haag gibt nicht bekannt, auf welche Fakten er seinen Haftbefehl gründet. UNO-Organisationen wie das Kinderhilfswerk UNICEF oder der Hohe Flüchtlingskommissar (UNHCR) haben nie bestätigt, dass ukrainische Kinder widerrechtlich von Russland entführt wurden. UNHCR hält fest:
«In der Ukraine leben fast 100.000 Kinder in Heimen und Internaten, die Hälfte davon sind Kinder mit Behinderungen. Viele dieser Kinder haben lebende Verwandte oder Erziehungsberechtigte. Wir haben Berichte über Einrichtungen erhalten, die versuchen, Kinder in Nachbarländer oder ins Ausland in Sicherheit zu bringen. Wir erkennen an, dass humanitäre Evakuierungen unter bestimmten Umständen lebensrettend sein können, und begrüßen Bemühungen, Kinder in Sicherheit zu bringen.»
Das Internationale Rote Kreuz (IKRK) teilt nichts anderes mit, als dass es sowohl mit russischen als auch ukrainischen Behörden zusammenarbeitet für Kinderschutz und Familien-Zusammenführung in Russland und in der Ukraine.
Den Haag: Nur Strafverfahren gegen Russen sind erlaubt
Es ist indessen erstaunlich, mit welcher juristischen Flexibilität das Tribunal in Den Haag der Regierung in Kiew entgegenkommt. Die Ukraine ist dem Haager Gericht erst 2024 beigetreten. Dabei stellte die Regierung Selenskyj klar, dass nur russische Verbrecher verfolgt werden sollen. Die Zuständigkeit des Gerichtes für Angehörige der ukrainischen Armee oder ihrer Freiwilligen-Milizen wird von der Ukraine nicht anerkannt. Kiew befürchtet Ermittlungen zu Gräueltaten, die die ukrainische Armee und ihre Milizen unter dem Werknamen «Anti-Terror-Operation» ab 2014 an der Bevölkerung im Donbass verübt haben sollen.
Schon der Umstand, dass die Ukraine diese Bedingungen stellen kann, wirft Fragen auf nach der politischen Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter in Den Haag. Was hinter den Kulissen läuft, kann man nicht wissen. Zweifelsfreier Fakt ist aber der enorme Druck einer Russland feindlich gesonnen Öffentlichkeit. Die Versuchung, diesem Druck Rechnung zu tragen, ist umso größer, je folgenloser die Entscheidungen sind. Denn jedes Urteil in dieser Sache würde wirkungslos bleiben, da das Gericht keine polizeiliche Exekutivmacht hat, es gegen den Widerstand von Großmächten zu vollstrecken. Die USA sowie Russland, China, Indien, die Türkei, Israel und andere Staaten haben das 1998 im Römer Statut konstituierte Gericht nicht anerkannt. Der Haftbefehl gegen Wladimir Putin ist also nichts anderes als ein politisches Symbol. Es befördert die Dämonisierung des russischen Präsidenten.
Wer nicht unserer Meinung ist, macht verdeckte Kriegsführung.
Der russische Sender Russia Today hat am 8. Juni in seiner deutschen Ausgabe die Angaben russischer Kinderschutz-Behörden ausführlich wiedergegeben und kommentiert. Der Kanal ist von der EU verboten worden. Wer ihn aufschaltet oder verbreitet, muss mit hohen Strafen rechnen, weil jede Äußerung des Feindes als Propagandalüge im «Cognitive Warfare» dargestellt wird. Heute gilt in Brüssel: Wer nicht unserer Meinung ist, macht verdeckte Kriegsführung. Das neue Mediengesetz Digital Services Act (DSA) erlaubt es Brüssel de facto, alles zu löschen und zu verbieten, was die eigenen Wahrheiten in Frage stellen könnte.
Die russischen Behörden für Flüchtlinge und Kinderschutz haben laut RT folgende Zahlen publiziert: Im Kriegsjahr 2022 flüchteten etwa 4 Millionen Einwohner der Ukraine nach Russland, darunter 730.000 Kinder. Sie wurden in den russischen Datenbanken registriert. Die überwiegende Mehrheit dieser Minderjährigen kam mit einem gesetzlichen Vertreter nach Russland: mit Eltern, Erziehungsberechtigten, Tutoren. Weiter heißt es:
«Ein Teil der Kleinen kam aus Heimen (Waisen, Behinderte), auch aus staatlichen Sozialheimen. Sie wurden aufgrund ihrer Gefährdung inmitten von Kriegshandlungen im Jahr 2022 von Hilfskräften aus dem Donbass und vom russischen Militär nach Russland evakuiert – etwa 2.000 Kinder – und fanden dort eine Aufnahme in Kinderheimen. Verletzte und traumatisierte Kinder wurden in russischen Pflegeeinrichtungen oder in Reha-Kliniken behandelt. Andererseits kamen 380 Kinder in russische Pflegefamilien (keine Adoption), bis ihre Familiensituation geklärt war.»
Russische Behörden arbeiten mit Internationalen Hilfswerken zusammen.
Die russischen Behörden arbeiten laut ihren Angaben mit Hilfs-Organisationen der Regierung in Kiew zusammen, um Kinder zu ihren fernen oder vermissten Eltern zurückzubringen. Die Regierung von Katar finanziert in Zusammenarbeit mit Moskau weitgehend die erforderliche Logistik. IKRK und UNO-Organisationen sind beteiligt. Das darf aber auf der ukrainischen Seite nicht öffentlich erwähnt werden, weil dann das Bild vom «Kidnapper Putin» sich in Luft auflösen könnte. Doch die Ungereimtheiten und Widersprüche innerhalb der Narrative vom «russischen Kinderräuber» lassen sich nicht mehr verbergen.
So publiziert das Yale Humanitarian Research Lab (HRL), eine der federführenden unter Hunderten westlicher NGO, die sich an der Aufdeckung russischer Verbrechen abarbeiten, dass von 19’000 verschleppten Kindern 1’366 ausfindig gemacht und in die Ukraine zurückgebracht werden konnten. Ähnliche Zahlen präsentierte Juri Witrenko, seit Februar ukrainischer Botschafter bei der UNO und der OSZE in Wien.
Was dabei wohlweislich verschwiegen wird, ist die Tatsache, dass diese Rückführungen unmöglich wären ohne die Mitarbeit der russischen Behörden. Oder wie soll man sich das vorstellen? Dass ukrainische Kinderhilfe-Kommandos in russische Pflegeheime eindringen, um Kinder bei Nacht und Nebel zurück über die Grenze zu bringen?
«Kinder» als PR-Instrument
Die Evakuierungen von Kindern war selten reine Humanität, sondern in der Regel «Öffentlichkeitsarbeit» im Kalten Krieg. Die «Operation Babylift» in Vietnam sollte der Welt und den südvietnamesischen Verbündeten zeigen, dass die USA ihre Freunde nicht «in die Hände der Kommunisten» fallen ließen und den kleinen Vietnamesen-Kindern ein besseres Leben im freien Westen offerierten.
Die PR-Agentur Hill&Knowlton gelangte zu internationaler Bekanntheit durch die falsche Zeugenaussage der «Stagiaire Nayirah», eines 15jährigen Mädchens, das im Oktober 1990 vor dem US-Kongress angab, sie habe mit eigenen Augen gesehen, wie irakische Soldaten Brutkasten-Babys die Schläuche herausrissen und sie «auf dem kalten Boden sterben ließen».
Die hochemotionale Fake-Story war das Meisterstück in einer PR-Kampagne, die den US-Kongress veranlasste, grünes Licht für den Kriegseintritt der USA zu geben. Das Führungspersonal von Hill and Knowlton war eng verflochten mit der Regierung in Washington. Die falsche Story fand rasende Verbreitung in Medien rund um den Globus.
«Operación Pedro Pan»
Viele Hilfswerke haben sich mit dem Geschäftsmodell der Spenden-Barmherzigkeit vor den politischen Karren der Kalten Krieger spannen lassen. Ein geradezu klassischer Präzedenzfall ist die Operation Peter Pan. Zwischen 1960 und 1962 wurden mehr als 14’000 Minderjährige aus Kuba in die USA geflogen. Die geheimen Flüge wurden «Freedom Flights» genannt. Organisatorisch federführend war Pater Bryan O. Walsh vom Catholic Welfare Bureau, einer auf Flüchtlingshilfe spezialisierten Organisation der Katholische Kirche der USA. Anti-Castro Zeitungen wie der Miami Herald und das vom CIA kontrollierte Radio Swan verbreiteten Gerüchte, Fidel Castro wolle den Eltern ihre Kinder wegnehmen und sie in Umerziehungslager in die Sowjetunion schicken.
Die Behauptungen entbehrten jeder Grundlage. Tatsache war zwar, dass die kommunistische Regierung in Havanna das gesamte Schulwesen, also auch Privatschulen, verstaatlicht hatte und die Lehrpläne wohl gemäß «antiimperialistischer Doktrin» gestalten ließ. Aber selbst Castro-Kritiker mussten einräumen, dass Kuba innerhalb weniger Jahre den höchsten Alphabetisierungsgrad in Lateinamerika erreichte.
Es gab jedoch viele kubanische Familien, die auf dem Sprung waren, Kuba zu verlassen. Sie ließen sich damals überzeugen, dass ihre Kinder in Sicherheit gebracht werden müssten und gaben sie frei für die Ausreise. In Miami winkte ihnen «a better life». Präsident Eisenhower genehmigte Ende 1960 eine Million Dollar für die Unterstützung der Operation Peter Pan. Seit die kubanische Regierung die Industrie verstaatlicht und Enteignungen im großen Stil in Gang gesetzt hatte, hatten Kubaner massenweise die Insel verlassen. Die Operation Peter Pan war nur ein kleines Element in einem schonungslosen Medienkrieg, der damals zwischen Kuba und USA ausgetragen wurde, und der 1962 in der Kuba-Krise seinen Höhepunkt fand.
Ein Psychologe der Schweizer Armee hat einmal in Bezug auf Kriegs-Propaganda festgehalten, es brauche etwa drei bis vier Jahre, um eine Bevölkerung von der Notwendigkeit eines Krieges zu überzeugen. Kein Krieg kann langfristig geführt werden ohne die mehrheitliche Zustimmung der Bevölkerung. Da diese Zustimmung aber kaum zu haben wäre, wenn man den Leuten die komplizierte Wahrheit sagte, dass nämlich die Außenpolitik substantiell von den Energiekonzernen, den Rüstungskonzernen, den Militärs, den «Währungshütern» und anderen Interessengruppen gemacht wird, muss ein anderer, einfacher zu begreifender Kriegsgrund her.
Das beste Propaganda-Argument war noch immer ein Feind, der das Land bedroht und als grosser Teufel an die Wand gemalt wird. Wenn Putin ein Verbrecher ist, der ukrainische Kinder kidnappen lässt, um ihnen in Erziehungslagern ihre «Identität auszulöschen», werden viele Menschen sich überzeugen lassen, dass Aufrüstung und Krieg gegen Russland die einzige Lösung sind.
Wer es schafft, glaubhaft zu machen, dass der Feind Kindern Gewalt antut, der hat erreicht, dass der Feind als ein bestialisches Ungeheuer wahrgenommen wird. Mit einem Feind, dem derart die Menschlichkeit abgesprochen wurde, kann es keine Verständigung geben, keine Friedensverhandlungen, kein Pardon. Wer eine Bevölkerung «kriegswillig» machen will, der muss den Feind als Monster darstellen.