Der Westen wollte den langen Krieg und verhinderte eine Verhandlungslösung
(Red.) Es wird immer klarer, dass eine schnelle Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg möglich war, dass aber die USA, Großbritannien und weitere NATO-Staaten sie verhindert haben, weil sie den Krieg als Chance sahen, Russland militärisch zu besiegen und für immer zu schwächen. Jetzt hat die Schweizer Zeitschrift «Zeitgeschehen im Fokus» eine detailreiche Recherche dazu publiziert, die Globalbridge.ch in ganzer Länge, also auch inklusive redaktionellem Vorspann, und wörtlich hier wiedergibt:
«Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit»
Dieses geflügelte Wort hat der US-amerikanische Senator Hiram Johnson im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg 1914 geäussert, und leider hat es über hundert Jahre später seine Gültigkeit nicht verloren, weder in der neuesten Krise im Nahen Osten noch im Ukraine-Krieg noch in vielen Kriegen davor.
Der emeritierte Professor für Politikwissenschaften, Hans Joachim Funke, und der ehemalige Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr, General a. D. Harald Kujat, haben in folgendem Artikel den Ablauf der Friedensverhandlungen in Istanbul zwischen der ukrainischen und der russischen Delegation kurz nach Beginn des russischen Einmarschs genaustens untersucht. Sie zeigen die westlichen Aktivitäten während der Gespräche auf und legen dar, warum die Verhandlungen kurz vor ihrem Durchbruch gescheitert sind. Damit wird das, was wir bis heute mehrheitlich durch die Medien erfahren, auf den Kopf gestellt.
Die Aussage «Das erste Opfer im Krieg ist die Wahrheit» hat sich beklagenswerterweise wieder einmal bewahrheitet. Man kann kaum glauben, welch mieses Spiel hinter den Kulissen getrieben wurde, nachdem die Friedensgespräche nahezu abgeschlossen waren. Der Artikel ist erhellend und erschreckend zugleich.
Seit dem 7. Oktober ist der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt zwischen Palästinensern und der israelischen Regierung erneut aufgeflammt, in einer Art und Weise, wie es seit den Kriegen 2006 oder 2014 nicht mehr der Fall war. Vernunft, die es jetzt dringend braucht, ist in weite Ferne gerückt. Es herrscht das Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dass dabei Hunderte von Opfern, vor allem zivile, auf beiden Seiten zu beklagen sind und weiterhin sein werden, wird mehrheitlich ausgeblendet. Israel beruft sich auf sein Existenz- und Selbstverteidigungsrecht, die Palästinenser auf das Recht auf Widerstand gegen die spätestens seit 1967 bestehende Besetzung und Unterdrückung. Beide haben eine völkerrechtliche Legitimation, doch in der Wahl der Mittel und des Vorgehens gibt es Völkerrechtsbrüche und Verletzungen des humanitären Völkerrechts auf beiden Seiten.
Was am Morgen des 7. Oktober geschehen ist, müsste eine internationale und neutrale Kommission unter Führung der Uno untersuchen sowie alle weiteren Kriegsverbrechen. Dass unsere Medien jetzt lieber die völkerrechtswidrigen Terrorangriffe der Hamas auf Zivilisten thematisieren als das seit über einem halben Jahrhundert ungelöste Palästinaproblem, folgt dem Schema von Gut und Böse, das auch in anderen Konflikten bemüht wird. Nach 9/11 hatte George W. Bush den «Krieg gegen den Terror» als einen Kampf des Guten gegen das Böse («the good against the evil») inszeniert und Hundertausende unschuldiger Menschen in Afghanistan, im Irak, in Libyen etc. in den sicheren Tod gebombt. Soll das jetzt in diesem Krieg wiederholt werden?
Doch mit Gut und Böse lässt sich der Konflikt nicht lösen. Das Problem ist zu komplex, als dass es sich in ein so billiges Schema pressen lässt. Es geht auf beiden Seiten um Menschen.
Unser Engagement muss dem Frieden und dem friedlichen Zusammenleben der Völker auf der Grundlage des Völkerrechts gelten. Wir reden nicht der einen oder anderen Seite das Wort, sondern lassen neben der Darstellung der völkerrechtlichen Grundlagen verschiedene Stimmen zu Wort kommen, die einen differenzierteren Blick auf die aktuelle Krise erlauben, als derjenige des US-amerikanischen Präsidenten, Joe Biden, der die Führungsrolle der USA in der Welt propagiert und den völkerrechtswidrigen Angriff der Hamas mit Putins Krieg in der Ukraine gleichsetzt. Es geht uns darum, Einschätzungen und verschiedene Positionen zur aktuellen Krise im Nahen Osten zur Kenntnis zu bringen, um zu einer unabhängigen Sicht der Dinge zu gelangen. Nur wenn man alle Seiten ohne Voreingenommenheit betrachtet, wird man zum Frieden beitragen können.
Die Redaktion «Zeitgeschehen im Fokus», veröffentlicht am 26.Oktober 2023
Wie eine aussichtsreiche Friedensregelung des Ukraine-Krieges verhindert wurde
Der Westen wollte stattdessen den Krieg fortsetzen. Eine detaillierte Rekonstruktion von Prof. Dr. Hajo Funke und General a. D. Harald Kujat¹
Im März 2022 hatte es im Zuge von Verhandlungen zwischen der ukrainischen und russischen Seite ernsthafte Chancen gegeben, den Krieg zu beenden. Die Verhandlungen wurden jedoch nicht zum Abschluss gebracht, weil einige Staaten des Westens drängten, den Krieg fortzusetzen, während der ukrainische Präsident Selenskyj ihn beenden wollte.
Die Verhandlungen waren Anfang März 2022 durch den ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett vermittelt worden.
Naftali Bennett hatte ab der ersten Märzwoche 2022 Vermittlungsbemühungen unternommen. In einem Videointerview vom 4. Februar 2023 mit dem israelischen Journalisten Hanoch Daum² sprach er erstmals ausführlich über den Ablauf und das Ende der Verhandlungen. Dieses Videointerview ist Grundlage eines detaillierten Berichts in der Berliner Zeitung vom 6. Februar 2023: «Naftali Bennett wollte den Frieden zwischen Ukraine und Russland: Wer hat blockiert? Israelischer Ex-Premier sprach erstmals über seine Verhandlungen mit Putin und Selenskyj. Der Waffenstillstand war angeblich zum Greifen nahe.»³
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe ihn, Bennett, nach Ausbruch des Krieges gebeten, Wladimir Putin zu kontaktieren.
«Am 5. März 2022 war Bennett auf Einladung Putins in einem privaten, vom israelischen Geheimdienst bereitgestellten Jet nach Moskau geflogen. In dem Gespräch im Kreml habe Putin, so Bennett, einige substanzielle Zugeständnisse gemacht, insbesondere habe er auf sein ursprüngliches Kriegsziel einer Demilitarisierung der Ukraine verzichtet. […] Der ukrainische Präsident erklärte sich im Gegenzug bereit, auf einen NATO-Beitritt zu verzichten – eine Position, die er kurze Zeit später auch öffentlich wiederholte. Damit war eines der entscheidenden Hindernisse für einen Waffenstillstand aus dem Weg geräumt. […] Auch andere Themen wie die Zukunft des Donbas und der Krim sowie Sicherheitsgarantien für die Ukraine seien in diesen Tagen Gegenstand von intensiven Gesprächen gewesen.»⁴
Bennett: «Ich hatte damals den Eindruck, dass beide Seiten grosses Interesse an einem Waffenstillstand hatten […].» Ein Waffenstillstand sei damals, so Bennett, in greifbarer Nähe gewesen, beide Seiten waren zu erheblichen Zugeständnissen bereit. Doch vor allem Grossbritannien und die USA hätten den Prozess beendet und auf eine Fortsetzung des Krieges gesetzt. Auf die Frage, ob die westlichen Verbündeten die Initiative letztlich blockiert hätten, antwortete Bennett: «Im Grunde genommen, ja. Sie haben es blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht.» Sein Fazit: «Ich behaupte, dass es eine gute Chance auf einen Waffenstillstand gab, wenn sie ihn nicht verhindert hätten. Ob die Entscheidung des Westens, den Verhandlungsprozess zu beenden, langfristig richtig sei, könne er nicht beurteilen.»⁵
Die Aussagen von Bennett werfen einige grundsätzliche Fragen auf. Warum wurden die Verhandlungen über ein Ende des Krieges blockiert? Welche Position hat die deutsche Regierung eingenommen? Und kommt dem Westen womöglich eine Mitschuld an der folgenden Eskalation des Krieges zu?
Parallel liefen ukrainisch-russische Friedensverhandlungen
Seit Ende Februar 2022 wurden direkte Verhandlungen zwischen einer ukrainischen und einer russischen Delegation geführt, die sich in der dritten Märzwoche, «also nur einen Monat nach Ausbruch des Krieges, auf die Grundzüge einer Friedensvereinbarung geeinigt [haben]: Die Ukraine versprach, der NATO nicht beizutreten und keine Militärbasen ausländischer Mächte auf ihrem Territorium zuzulassen, während Russland im Gegenzug versprach, die territoriale Unversehrtheit der Ukraine anzuerkennen und alle russischen Besatzungstruppen abzuziehen. Für den Donbas und die Krim gab es Sonderregelungen.»⁶
Während der vom türkischen Präsidenten Erdoğan vermittelten Verhandlungen legte die ukrainische Delegation am 29. März 2022 ein Positionspapier vor, das zum Istanbuler Kommuniqué führte. Die Vorschläge der Ukraine wurden von der russischen Seite in einen Vertragsentwurf umgesetzt.
Das Istanbuler Kommuniqué vom 29. März 2022 im Wortlaut⁷:
Vorschlag 1: Die Ukraine erklärt sich selbst zu einem neutralen Staat und verspricht, blockfrei zu bleiben und auf die Entwicklung von Atomwaffen zu verzichten – im Gegenzug für internationale rechtliche Garantien. Zu den möglichen Garantiestaaten gehören Russland, Grossbritannien, China, die Vereinigten Staaten, Frankreich, die Türkei, Deutschland, Kanada, Italien, Polen und Israel, aber auch andere Staaten wären willkommen, dem Vertrag beizutreten.
Vorschlag 2: Diese internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine würden sich nicht auf die Krim, Sewastopol oder bestimmte Gebiete im Donbas erstrecken. Die Vertragsparteien müssten die Grenzen dieser Gebiete festlegen oder sich darauf einigen, dass jede Partei diese Grenzen unterschiedlich versteht.
Vorschlag 3: Die Ukraine verpflichtet sich, keiner Militärkoalition beizutreten und keine ausländischen Militärstützpunkte oder Truppenkontingente aufzunehmen. Jegliche internationale Militärübungen wären nur mit Zustimmung der Garantiestaaten möglich. Die Garantiestaaten bestätigen ihrerseits ihre Absicht, die Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union zu fördern.
Vorschlag 4: Die Ukraine und die Garantiestaaten kommen überein, dass (im Falle einer Aggression, eines bewaffneten Angriffs gegen die Ukraine oder einer Militäroperation gegen die Ukraine) jeder der Garantiestaaten nach dringenden und sofortigen gegenseitigen Konsultationen (die innerhalb von drei Tagen stattfinden müssen) über die Ausübung des Rechts auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung (wie in Artikel 51 der UN-Charta anerkannt) (als Reaktion auf einen offiziellen Appell der Ukraine und auf dessen Grundlage) der Ukraine als dauerhaft neutralem Staat, der angegriffen wird, Hilfe leisten wird. Diese Hilfe wird durch die sofortige Durchführung der erforderlichen individuellen oder gemeinsamen Massnahmen erleichtert, einschliesslich der Schliessung des ukrainischen Luftraums, der Bereitstellung der erforderlichen Waffen und der Anwendung bewaffneter Gewalt mit dem Ziel, die Sicherheit der Ukraine als dauerhaft neutralen Staat wiederherzustellen und dann zu erhalten.
Vorschlag 5: Jeder derartige bewaffnete Angriff (jede militärische Operation überhaupt) und alle daraufhin ergriffenen Massnahmen werden unverzüglich dem UN-Sicherheitsrat gemeldet. Diese Massnahmen werden eingestellt, sobald der UN-Sicherheitsrat die zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Massnahmen ergriffen hat.
Vorschlag 6: Zum Schutz vor möglichen Provokationen wird das Abkommen den Mechanismus zur Erfüllung der Sicherheitsgarantien der Ukraine auf der Grundlage der Ergebnisse von Konsultationen zwischen der Ukraine und den Garantiestaaten regeln.
Vorschlag 7: Der Vertrag gilt vorläufig ab dem Datum seiner Unterzeichnung durch die Ukraine und alle oder die meisten Garantiestaaten.
Der Vertrag tritt in Kraft, nachdem (1) der dauerhaft neutrale Status der Ukraine in einem landesweiten Referendum gebilligt wurde, (2) die entsprechenden Änderungen in die ukrainische Verfassung aufgenommen wurden und (3) die Ratifizierung in den Parlamenten der Ukraine und der Garantiestaaten erfolgt ist.
Vorschlag 8: Der Wunsch der Parteien, die Fragen im Zusammenhang mit der Krim und Sewastopol zu lösen, wird für einen Zeitraum von 15 Jahren in bilaterale Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland eingebracht. Die Ukraine und Russland verpflichten sich ausserdem, diese Fragen nicht mit militärischen Mitteln zu lösen und die diplomatischen Lösungsbemühungen fortzusetzen.
Vorschlag 9: Die Parteien setzen ihre Konsultationen (unter Einbeziehung anderer Garantiestaaten) fort, um die Bestimmungen eines Vertrags über Sicherheitsgarantien für die Ukraine, die Modalitäten der Waffenruhe, den Rückzug von Truppen und anderen paramilitärischen Verbänden und die Öffnung und Gewährleistung sicher funktionierender humanitärer Korridore auf kontinuierlicher Basis sowie den Austausch von Leichen und die Freilassung von Kriegsgefangenen und internierten Zivilisten vorzubereiten und zu vereinbaren.
Vorschlag 10: Die Parteien halten es für möglich, ein Treffen zwischen den Präsidenten der Ukraine und Russlands abzuhalten, um einen Vertrag zu unterzeichnen und/oder politische Beschlüsse zu anderen ungelösten Fragen zu fassen.»
Offensichtliche Unterstützung der Vermittlungsbemühungen durch westliche Politiker
Die Tatsache der Unterstützung der Verhandlungen durch westliche Politiker ergibt sich aus der Abfolge der Telefonate und Treffen in der Zeit von Anfang März bis mindestens Mitte März. Am 4. März telefonierten Scholz und Putin; am 5. März traf Bennett Putin in Moskau; am 6. März trafen sich Bennett und Scholz in Berlin; am 7. März besprachen sich die USA, Grossbritannien, Frankreich und Deutschland in einer Videokonferenz zum Thema; am 8. März telefonierten Macron und Scholz; am 10. März trafen sich der ukrainische Aussenminister Kuleba und der russische Aussenminister Lawrow in Ankara; am 12. März telefonierten Scholz und Selenskyj sowie Scholz und Macron, und am 14. März trafen sich Scholz und Erdoğan in Ankara.⁸
NATO-Sondergipfel vom 24. März 2022 in Brüssel
Michael von der Schulenburg, der ehemalige UN Assistant Secretary-General (ASG) in UN-Friedensmissionen, schreibt, dass «die NATO bereits am 24. März 2022 auf einem Sondergipfel beschlossen hatte, diese Friedensverhandlungen (zwischen der Ukraine und Russland) nicht zu unterstützen.»⁹ Zu diesem Sondergipfel war der US-Präsident eigens eingeflogen. Offenkundig war ein Frieden, wie er von den russischen und ukrainischen Verhandlungsdelegationen ausgehandelt worden war, nicht im Interesse einiger NATO-Staaten.10
Selenskyj widerspricht
«Noch am 27. März 2022 hatte Selenskyj den Mut gezeigt, die Ergebnisse der ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen vor russischen Journalisten in aller Öffentlichkeit zu verteidigen.»11
Nach von der Schulenburg hatte es sich bei den russisch-ukrainischen Friedensverhandlungen um eine historisch einmalige Besonderheit gehandelt, die nur dadurch möglich war, weil sich Russen und Ukrainer gut kennen und die «gleiche Sprache sprechen».12
Am 28. März erklärte Putin, als ein Zeichen des guten Willens die Bereitschaft, Truppen aus dem Raum Charkow und dem Raum Kiew abzuziehen; dies geschah offenkundig bereits vor dieser öffentlichen Erklärung.
Die Absage an Selenskyj und Putin
Am 29. März 2022 telefonierten Scholz, Biden, Draghi, Macron und Johnson erneut zur Lage in der Ukraine. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich offenbar die Haltung wichtiger westlicher Bündnispartner verhärtet. Sie formulierten im Gegensatz zum Vorgehen von Bennett und Erdoğan Vorbedingungen für Verhandlungen: «Die Staats- und Regierungschefs waren sich einig, die Ukraine weiter tatkräftig zu unterstützen. Sie drängten den russischen Präsidenten Putin erneut dazu, einer Waffenruhe zuzustimmen, alle Kampfhandlungen einzustellen, die russischen Soldaten aus der Ukraine abzuziehen und eine diplomatische Lösung […] zu ermöglichen.»13
Die Washington Post berichtete am 5. April, dass in der NATO die Fortsetzung des Krieges gegenüber einem Waffenstillstand und einer Verhandlungslösung bevorzugt wird: «Für einige in der NATO ist es besser, wenn die Ukrainer weiterkämpfen und sterben als einen Frieden zu erreichen, der zu früh kommt oder zu einem zu hohen Preis für Kiew und das übrige Europa.» Selenskyj solle «so lange weiterkämpfen, bis Russland vollständig besiegt ist».
Boris Johnson am 9. April 2022: Wir führen den Krieg weiter
Am 9. April 2022 traf Boris Johnson unangemeldet in Kiew ein und erklärte dem ukrainischen Präsidenten, dass der Westen nicht bereit sei, den Krieg zu beenden. Laut britischem Guardian vom 28. April hatte Premier Johnson den ukrainischen Präsidenten Selenskyj «angewiesen», «keine Zugeständnisse an Putin zu machen».
Darüber berichtete die Ukrainska Pravda am 5. Mai 2022 in zwei Beiträgen ausführlich:
«Kaum hatten sich die ukrainischen Unterhändler und Abramovich/Medinsky nach den Ergebnissen von Istanbul auf die Struktur eines möglichen künftigen Abkommens in groben Zügen geeinigt, erschien der britische Premierminister Boris Johnson fast ohne Vorwarnung in Kiew.
Johnson brachte zwei einfache Botschaften mit nach Kiew. Die erste lautet, dass Putin ein Kriegsverbrecher sei; man sollte Druck auf ihn ausüben, nicht mit ihm verhandeln. Die zweite lautet, dass selbst wenn die Ukraine bereit sei, mit Putin einige Vereinbarungen über Garantien zu unterzeichnen, es der kollektive Westen aber nicht ist. Wir können [ein Abkommen] mit Ihnen [der Ukraine] unterzeichnen, aber nicht mit ihm. Er wird sowieso alle über den Tisch ziehen», fasste einer der engen Mitarbeiter Selenskyjs den Kern des Besuchs von Johnson zusammen. Hinter diesem Besuch und den Worten Johnsons verbirgt sich weit mehr als nur die Abneigung, sich auf Abkommen mit Russland einzulassen. Johnson vertrat den Standpunkt, dass der kollektive Westen, der noch im Februar vorgeschlagen hatte, Selenskyj solle sich ergeben und fliehen, nun das Gefühl habe, dass Putin nicht wirklich so mächtig ist, wie sie es sich zuvor vorgestellt hatten. Darüber hinaus bestehe eine Chance, ihn ‹unter Druck zu setzen›. Und der Westen will sie nutzen.»14
Die Neue Züricher Zeitung (NZZ) meldete am 12. April, dass die britische Regierung unter Johnson auf einen militärischen Sieg der Ukraine setzt. Die konservative Unterhausabgeordnete Alicia Kearns sagte: «Lieber bewaffnen wir die Ukrainer bis an die Zähne, als dass wir Putin einen Erfolg gönnen.» Die britische Aussenministerin Liz Truss bekundete in einer Grundsatzrede, dass der «Sieg der Ukraine […] für uns alle eine strategische Notwendigkeit» sei und daher die militärische Unterstützung massiv ausgeweitet werden müsse. Guardian-Kolumnist Simon Jenkins warnte: «Liz Truss riskiert, den Krieg in der Ukraine für ihre eigenen Ambitionen anzufachen». Dies sei wohl der erste Tory-Wahlkampf, «der an den Grenzen Russlands ausgetragen wird». Johnson und Truss wollten, dass Selenskyj «so lange weiterkämpft, bis Russland vollständig besiegt ist. Sie brauchen einen Triumph in ihrem Stellvertreterkrieg. In der Zwischenzeit kann jeder, der nicht ihrer Meinung ist, als Schwächling, Feigling oder Putin-Anhänger abgetan werden. Dass dieser Konflikt von Grossbritannien für einen schäbigen bevorstehenden Führungswettstreit missbraucht wird, ist widerwärtig.»
Nach seinem Kiew-Besuch am 25. April 2022 erklärte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, die USA wollten die Gelegenheit nutzen, um Russland im Zuge des Ukraine-Kriegs auf Dauer militärisch und wirtschaftlich niederzuringen.15 Laut New York Times geht es der US-Regierung nicht mehr um einen Kampf über die Kontrolle der Ukraine, sondern um einen Kampf gegen Moskau im Zuge eines neuen Kalten Krieges.
Bei dem von Austin einberufenen Treffen von Verteidigungsministern der NATO-Mitglieder und weiterer Staaten in Ramstein in Rheinland-Pfalz am 26. April 2022 gab der Pentagon-Chef den militärischen Sieg der Ukraine als strategisches Ziel vor.16
Der türkische Aussenminister Çavuşoğlu wird später über die gescheiterte Friedenskonferenz in Istanbul sagen: «Einige NATO-Staaten wollten, dass der Krieg in der Ukraine weitergeht, um Russland zu schwächen.»17
Die amerikanische Zeitschrift Responsible Statecraft schrieb am 2. September 2022:
«Hat Boris Johnson geholfen, ein Friedensabkommen in der Ukraine zu verhindern?» Einem kürzlich in der Zeitschrift Foreign Affairs erschienenen Artikel zufolge haben Kiew und Moskau möglicherweise bereits im April eine vorläufige Vereinbarung zur Beendigung des Krieges getroffen. Russland und die Ukraine könnten sich bereits im April auf ein vorläufiges Abkommen zur Beendigung des Krieges geeinigt haben, heisst es in einem kürzlich erschienenen Artikel in Foreign Affairs. «Laut mehreren ehemaligen hochrangigen US-Beamten, mit denen wir gesprochen haben, schienen sich russische und ukrainische Unterhändler im April 2022 vorläufig auf die Umrisse einer ausgehandelten Zwischenlösung geeinigt zu haben», schreiben Fiona Hill und Angela Stent. «Russland würde sich auf seine Position vom 23. Februar zurückziehen, als es einen Teil der Region Donbas und die gesamte Krim kontrollierte, und im Gegenzug würde die Ukraine versprechen, keine NATO-Mitgliedschaft anzustreben und stattdessen Sicherheitsgarantien von einer Reihe von Ländern zu erhalten. Die Entscheidung, das Abkommen scheitern zu lassen, fiel mit Johnsons Besuch in Kiew im April zusammen, bei dem er den ukrainischen Präsidenten Selenskyj drängte, die Gespräche mit Russland aus zwei wesentlichen Gründen abzubrechen: Mit Putin kann man nicht verhandeln, und der Westen ist nicht zu einem Ende des Krieges bereit.»18
Der Autor stellt in seinem Beitrag Fragen, die im weiteren Verlauf des Krieges immer grössere Bedeutung gewonnen haben:
«Diese offensichtliche Enthüllung wirft einige wichtige Fragen auf: Warum wollten die westlichen Führer Kiew davon abhalten, ein offenbar gutes Verhandlungsergebnis mit Moskau zu unterzeichnen? Betrachten sie den Konflikt als einen Stellvertreterkrieg mit Russland? Und vor allem: Was wäre nötig, um wieder zu einem Verhandlungsergebnis zurückzukehren?»19
In seiner Ankündigung der Teilmobilmachung erklärte Putin am 21. September 2022:
«Das möchte ich heute zum ersten Mal öffentlich machen. Nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation, insbesondere nach den Gesprächen in Istanbul, äusserten sich die Kiewer Vertreter recht positiv zu unseren Vorschlägen. Diese Vorschläge betrafen vor allem die Gewährleistung der Sicherheit und Interessen Russlands. Aber eine friedliche Lösung passte dem Westen offensichtlich nicht, weshalb Kiew nach der Abstimmung einiger Kompromisse tatsächlich befohlen wurde, alle diese Vereinbarungen zunichte zu machen.»20
Anlässlich des Besuchs einer afrikanischen Friedensdelegation am 17. Juni 2023 zeigte Putin die in Istanbul ad referendum akzeptierte und paraphierte Vereinbarung demonstrativ in die Kameras.
Fazit: vertane Chance
Anhand der öffentlich zugängigen Berichte und Dokumente ist nicht nur nachvollziehbar, dass es im März 2022 eine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft sowohl der Ukraine als auch Russlands gab. Offensichtlich einigten sich die Verhandlungspartner sogar ad referendum auf einen Vertragsentwurf. Selenskyj und Putin waren zu einem bilateralen Treffen bereit, bei dem das Verhandlungsergebnis finalisiert werden sollte. Die Tatsache, dass die wesentlichen Verhandlungsergebnisse auf einem Vorschlag der Ukraine beruhten, Selenskyj diese noch am 27. März 2022 gegenüber russischen Journalisten sehr positiv bewertet und sich bereits zuvor in ähnlicher Weise geäussert hatte, belegt, dass der Ausgang der Istanbuler Verhandlungen durchaus den ukrainischen Interessen entsprach. Umso schwerer wiegt die westliche Intervention, die ein frühzeitiges Ende des Krieges verhinderte. Die Verantwortung Russlands für den völkerrechtswidrigen Angriff wird nicht dadurch relativiert, dass die Verantwortung für die in der Folge entstandenen schwerwiegenden Konsequenzen für die Ukraine und deren westliche Unterstützer auch den Staaten zuzurechnen ist, die die Fortsetzung des Krieges verlangt haben.
Der Krieg hat nun ein Stadium erreicht, in dem eine weitere gefährliche Eskalation und eine Ausweitung der Kampfhandlungen nur durch einen Waffenstillstand verhindert werden kann, der vielleicht zum letzten Mal eine friedliche Lösung durch Verhandlungen ermöglicht. Es gibt Friedensvorschläge von China, der Afrikanischen Union, Brasilien, Mexiko, Indonesien, einen auf Einladung des Vatikans entwickelten Vorschlag sowie einen von deutschen Experten vorgeschlagenen Weg zu einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen.21 Der Verlauf des Krieges seit den gescheiterten Istanbul-Verhandlungen und der gegenwärtig äusserst kritische Zeitpunkt sollten den verantwortlichen Staaten Anlass genug für ein Umdenken sein.
Siehe auch: «Wie es war und wie es mit der Ukraine sein wird» (auf Globalbridge.ch)
und auch: «Zum Tanzen braucht es zwei – aber auch zu Verhandlungen» (auf Globalbridge.ch)
Fussnoten:
¹ Unter Einbezug von Gesprächen mit Michael von der Schulenburg und Hilde Schramm. Die ausführliche Version findet sich demnächst in https://hajofunke.wordpress.com/
² www.youtube.com/watch?v=qK9tLDeWBzs; vgl. auch ARD vom 17.2.23 und Tagesspiegel vom 10.02.23
³ www.berliner-zeitung.de/open-source/naftali-bennett-wollte-den-frieden-zwischen-ukraine-und-russland-wer-hat-blockiert-li.31487
⁴ ebd.
⁵ ebd.
⁶ vgl. Michael von der Schulenburg: UN-Charta: Verhandlungen! In : Emma vom 6. März 2023
⁷ Eigene Übersetzung aus der uns zugänglich gemachten englischen Version: Vgl. Farida Rustamova vom 29.03.2022 nach einem Link aus Sabine Fischer: Friedensverhandlungen im Krieg zwischen Russland und der Ukraine: Mission impossible. SWP-Aktuell 2022/A 66, 28.10.2022. (This is an English translation of this article, kindly made by Kevin Rothrock from Meduza).
⁸ vgl Petra Erler: Betreff: Rückblick März 2022: Wer kein schnelles Kriegsende in der Ukraine wollte, in: «Nachrichten einer Leuchtturmwärterin», 1.September 2023
⁹ vgl. Michael von der Schulenburg: UN-Charta: Verhandlungen! In: Emma vom 6. März 2023
10 NATO, 24.03.22: Statement by NATO Heads of State and Government. «We condemn Russia’s invasion of Ukraine in the strongest possible terms. We call on President Putin to immediately stop this war and withdraw military forces from Ukraine, and call on Belarus to end its complicity, in line with the Aggression against Ukraine Resolution adopted at the UN General Assembly of 2 March 2022. Russia should comply with the 16 March ruling by the UN International Court of Justice and immediately suspend military operations. Russia’s attack on Ukraine threatens global security. Its assault on international norms makes the world less safe. President Putin’s escalatory rhetoric is irresponsible and destabilizing.»
11 ebd., vgl. auch ZEIT-online vom 28.03.22 (www.zeit.de/politik/ausland/2022-03/selenskyj-interview-medienaufsicht-warnung): Wolodymyr Selenskyj will Forderung nach Neutralität «gründlich» prüfen […] In den Verhandlungen über ein Ende des Kriegs in der Ukraine will die Regierung in Kiew die Frage der von Russland geforderten Neutralität des Landes «gründlich» prüfen. Dies sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Sonntag in einem Interview mit mehreren unabhängigen russischen Medien. «Dieser Punkt der Verhandlungen ist für mich verständlich und er wird diskutiert, er wird gründlich geprüft», sagte Selenskyj. Eine Neutralität der Ukraine ist eine der russischen Hauptforderungen in den Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Der Kreml hatte unlängst das Modell Schwedens oder Österreichs als mögliches Vorbild genannt. Die Ukraine müsste bei einem solchen Neutralitätsmodell auf einen Beitritt zur NATO verzichten, was Selenskyj aber bereits in Aussicht gestellt hat. Die Ukraine sei auch zur Neutralität bereit, sagte Selenskyj weiter. «Wir müssen uns mit dem Präsidenten der Russischen Föderation einigen», gab er an […] Ein Sieg für die Ukraine bestünde für ihn darin, wenn sich die russischen Truppen in die von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete im Osten «zurückziehen». «Von dort aus werden wir versuchen, die Donbass-Frage zu lösen», sagte Selenskyj, der betonte: «Wir verstehen, dass es unmöglich ist, das Gebiet vollständig zu befreien.»
12 vgl. auch: https://chasfreeman.net/the-many-lessons-of-the-ukraine-war/: Chas Freeman: The Many Lessons of the Ukraine War, in: Chas Freeman 2023-09-26:
«In mid-March 2022, the government of Turkey and Israeli Prime Minister Naftali Bennett mediated between Russian and Ukrainian negotiators, who tentatively agreed on the outlines of a negotiated interim settlement. The agreement provided that Russia would withdraw to its position on February 23, when it controlled part of the Donbas region and all of Crimea, and in exchange, Ukraine would promise not to seek NATO membership and instead receive security guarantees from a number of countries. A meeting between Russian President Putin and Ukrainian President Zelensky was in the process of being arranged to finalize this agreement, which the negotiators had initialed ad referendum – meaning subject to the approval of their superiors. On March 28, 2022. President Zelensky publicly affirmed that Ukraine was ready for neutrality combined with security guarantees as part of a peace agreement with Russia. But on April 9 British Prime Minister Boris Johnson made a surprise visit to Kyiv. During this visit, he reportedly urged Zelensky not to meet Putin because (1) Putin was a war criminal and weaker than he seemed. He should and could be crushed rather than accommodated; and (2) even if Ukraine was ready to end the war, NATO was not.»
13 Petra Erler: Betreff: Rückblick März 2022: Wer kein schnelles Kriegsende in der Ukraine wollte, in: «Nachrichten einer Leuchtturmwärterin», 1. September 2023
13 Ukrainska Pravda, 5. Mai.2022: Von Selenskyjs «Kapitulation» zu Putins Kapitulation: Wie die Verhandlungen mit Russland verlaufen
14 www.pravda.com.ua/eng/news/2022/05/5/7344206/; www.pravda.com.ua/eng/articles/2022/05/5/7344096/
15 vgl. Tagesschau, vom 25.04.2022: «Austin hält Sieg der Ukraine für möglich. Nach Einschätzung Austins kann die Ukraine die russischen Streitkräfte mit ausreichend militärischer Unterstützung sogar besiegen. ‚Sie können gewinnen, wenn sie die richtige Ausrüstung und die richtige Unterstützung haben‘, sagte Austin. Der erste Schritt zum Sieg sei der Glaube daran, gewinnen zu können, so der US-Verteidigungsminister weiter.»
16 NYT, 25.04.22: «Behind Austin’s Call for a ‹Weakened› Russia, Hints of a Shift,. The United States is edging toward a dynamic that pits Washington more directly against Moscow, and one that U.S. officials see as likely to play out for years» «Emboldened by Ukraine’s Grit, U.S. Wants to See Russia Weakened. Hours after the American secretaries of defense and state met with Ukraine’s president in Kyiv, Russia hit at least five Ukrainian railway stations in rocket attacks.»
17 vgl. Emma vom 6. März 2023: «UN-Charta: Verhandeln» von Michael von der Schulenburg. Bei ihm heisst es weiter: «Auch nach dem Ausbruch des Krieges wurden alle unternommenen Friedensbemühungen von der NATO, insbesondere von den USA und UK, torpediert. In der ersten Woche des März bemühte sich bereits der damalige Premierminister Israels, Naftali Bennett, um einen Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine. Nach seinen kürzlich gemachten Aussagen hatte Russland und Ukraine ein grosses Interesse an einem schnellen Ende des Krieges. Durch Konzessionen Russlands war auch, so Bennet, ein Waffenstillstand „in greifbare Nähe» gerückt. Dazu kam es aber nicht, denn, so Bennett weiter, «sie (die USA und UK) haben einen Waffenstillstand blockiert, und ich dachte, sie hätten unrecht».
18 https://responsiblestatecraft.org/2022/09/02/diplomacy-watch-why-did-the-west-stop-a-peace-deal-in-ukraine/
19 ebd.
20 http://en.kremlin.ru/events/president/news/69390
21 Den Krieg mit einem Verhandlungsfrieden beenden: https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/sonderausgabe-vom-28-august-2023.html