Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, sagte man einmal. Das gilt heute natürlich nicht mehr. Nichtsdestotrotz herrschte am Russland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg eine lockere und positive Stimmung. (Foto TASS)

«Der Russland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg ist ein Meilenstein»

(Red.) Der russische Politik-Wissenschaftler Dmitri Trenin ist spezialisiert auf die Beobachtung internationaler Beziehungen. Globalbridge.ch hat von ihm schon mehrmals die Bewilligung erhalten, seine Analysen – je nach Originalversion aus dem Russischen oder aus dem Englischen – ins Deutsche zu übersetzen und zu publizieren. Neben all den Versuchen der westlichen Medien, dieses Gipfeltreffen in St. Petersburg als reine Propaganda-Veranstaltung abzutun oder gar lächerlich zu machen, interpretiert Dmitri Trenin das Treffen als Ausdruck einer neuen, positiven Außenpolitik Russlands. (cm)

Der Russland-Afrika-Gipfel vom 27. bis 30. Juli in St. Petersburg war ein Meilenstein in Moskaus Konzept und Praxis der Außenpolitik. Nicht so sehr, weil er zahlreiche afrikanische Politiker und hochrangige Beamte nach Russland brachte. Beim ersten Russland-Afrika-Gipfel vor vier Jahren in Sotschi waren sogar noch mehr afrikanische Staatschefs anwesend. Und nicht nur, weil die Tagesordnung über die Wirtschaft hinausging und eine humanitäre Dimension einschloss. Das ist zwar wichtig, aber auch nicht alles. Im Wesentlichen zeugt das Treffen mit seinen organisatorischen Vorbereitungen und der breiten öffentlichen Berichterstattung innerhalb Russlands von einem grundlegenden Wandel in Moskaus Weltanschauung und seiner internationalen Positionierung gegenüber der aufstrebenden nicht-westlichen Mehrheit in der Welt, wie sie im kürzlich verabschiedeten «Außenpolitischen Konzept» festgelegt wurde. St. Petersburg wurde im frühen 18. Jahrhundert von Peter dem Großen als „Fenster zu Europa“ gegründet. Letzte Woche diente die Stadt als „Fenster nach Afrika“. 

Der Eurozentrismus ist natürlich immer noch tief im Denken und Streben der russischen Elite verankert. Doch das Scheitern von Russlands langen Bemühungen um die Integration in den Westen nach dem Ende der Sowjetunion, das schließlich in den Stellvertreterkrieg gegen die USA und die NATO in der Ukraine mündete, hat zu einem historischen Wandel in der Politik Moskaus geführt, der in seiner Bedeutung mit dem von Peter dem Großen zu vergleichen ist, wenn auch in eine ganz andere Richtung. Auf absehbare Zeit wird das Universum der russischen Außenpolitik in zwei große Teile geteilt bleiben: das Haus der Feinde Europas, Nordamerikas und des Rests der anglophonen – „angelsächsischen“, wie es in Russlands MFA heißt – Welt und das Haus der Freunde anderswo. Die Trennlinie zwischen den beiden ist die Position der jeweiligen Länder zu den Sanktionen gegen Russland.

Afrika auf der richtigen Seite

Afrika befindet sich in dieser Hinsicht größtenteils auf der richtigen Seite dieser Kluft. 49 der 54 Länder des Kontinents waren in St. Petersburg vertreten. Allerdings nahmen nur 17 von ihnen auf der höchsten Ebene teil. Der Westen ist nicht mehr nur ein neugieriger und skeptischer Beobachter, wie beim Sotschi-Gipfel vor vier Jahren, er hat diesmal klare Anstrengungen unternommen, die afrikanischen Staats- und Regierungschefs davon abzuhalten, nach Russland zu reisen und direkt mit Präsident Putin zu verhandeln, indem er sie bedrängte, einschüchterte oder gar bedrohte. Tatsächlich hat der westliche Druck einige Erfolge verzeichnen können, die Zahl der Spitzenpolitiker in St. Petersburg war etwa halb so groß wie in Sotschi, aber es ist nicht gelungen, die Veranstaltung zu untergraben. Was an Repräsentativität verloren ging, wurde durch die Intensität der Zusammenarbeit wieder wettgemacht. Die Zeit, die Wladimir Putin persönlich in die Veranstaltung investierte, die schließlich drei statt nur zwei Tage dauerte, war beeindruckend.  

Die Notwendigkeit, den westlichen Anschuldigungen entgegenzutreten, Russland sei nach Moskaus Rückzug aus dem Schwarzmeer-Getreideabkommen für den Anstieg der Lebensmittelpreise verantwortlich (wobei interessenpolitisch begründet die Tatsache ignoriert wurde, dass die Versprechen an Moskau, die westliche Blockade der russischen Agrarexporte zu beenden, nie eingehalten wurden), veranlasste den Kreml, über die übliche nur verbale Erwiderung hinauszugehen. Auf dem Gipfel versprach Putin nicht nur, fünf der ärmsten Länder Afrikas kostenlos mit Getreide zu beliefern, sondern kündigte auch an, die kommerzielle Schifffahrt auszubauen und eine See- und Luftlogistik zu errichten, die Russland mit Afrika verbinden wird, eine Drehscheibe für den russischen Handel in Afrika zu schaffen und Russlands Anteil an den afrikanischen Lebensmittelimporten zu erhöhen. Und was den Umgang mit westlicher Propaganda angeht, so plant Moskau, die Präsenz russischer Medien auf dem Kontinent stark auszubauen. Die Idee dahinter ist, dass Russen und Afrikaner die Möglichkeit haben müssen, sich direkt übereinander zu informieren und nicht über die nicht-neutralen “Vermittler“ in London, Paris oder New York.   

Es gibt viel zu tun

Russland hat sicherlich eine Menge zu tun. Nachdem Moskau in den frühen 1990er Jahren das reiche Erbe der Sowjetunion in Afrika aufgegeben hat, sieht es sich dort einer starken Konkurrenz ausgesetzt. Verglichen mit Chinas Afrikahandel (280 Mrd. USD) oder Amerikas (60 Mrd. USD) ist der russische Handel mickrig (18 Mrd. USD). Wie auch immer, Moskau kann es künftig viel besser machen. Auf dem Gipfeltreffen in St. Petersburg ging es um eine Reihe von Bereichen, von der bereits erwähnten Ernährungssicherheit über das Gesundheitswesen und die Pharmaindustrie bis hin zu Atomenergie und Sicherheitshilfe. Besonders wichtig werden die Bereiche Bildung und IT sein. Seit den frühen 1960er Jahren ist die Moskauer Lumumba-Universität ein Aushängeschild für die Ausbildung afrikanischer Fachkräfte in Russland. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat die Schule viel von ihrem Glanz verloren. Das wird sich jetzt ändern: Die Zahl der Stipendien für Afrikanerinnen und Afrikaner, die in Russland studieren wollen, wird verdreifacht, und viele russische Universitäten werden ermutigt, Kooperationspartner in Afrika zu suchen. In jüngster Zeit hat Russland enorme Fortschritte bei der Bereitstellung des Internets auf seinem riesigen Territorium gemacht und Moskau zu einem der fortschrittlichsten Ballungsräume der Welt gemacht, was den öffentlichen Wi-Fi-Zugang betrifft. Diese Erfahrung will man künftig unbedingt teilen.

Das wiedererwachte Interesse Russlands an Afrika ist eher strategisch als nur taktisch. Es geht weit über die wichtigen, aber alltäglichen Fragen der wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und technologischen Zusammenarbeit hinaus. Es geht auch über den Krieg in der Ukraine hinaus, über den in St. Petersburg zwangsläufig auch gesprochen wurde und der Putin die Möglichkeit gab, seine Beweggründe für sein Handeln zu erläutern und seine Ansichten über die Modalitäten des Friedens darzulegen. In strategischer Hinsicht sehen russische Politiker Afrika – zusammen mit Asien und Lateinamerika – zunehmend als Teil einer aufstrebenden Woge, die dazu beitragen wird, die derzeitige vom Westen dominierte Weltordnung durch eine vielseitigere Ordnung zu ersetzen, die auf einer Reihe von zivilisatorischen Plattformen, einschließlich der afrikanischen, aufbauen wird. 

Einige Russen behaupten, dass sie in Afrika einen Kontinent voller Freunde haben. Was die Stimmung in der Bevölkerung angeht, ist das weitgehend richtig. Tatsächlich ist Russland – im Gegensatz zu den westlichen Ländern – von der kolonialen und neokolonialen Ausbeutung des afrikanischen Kontinents unbelastet geblieben. Im 20. Jahrhundert leistete es einer Reihe von nationalen Befreiungsbewegungen sogar militärische Hilfe und unterstützte viele der neu unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten durch Infrastrukturprojekte wirtschaftlich. Es bildete Zehntausende von Ärzten, Ingenieuren und Lehrern aus. Doch die politische Realität ist viel komplexer. Die USA und die ehemaligen Kolonialmächte Frankreich, Großbritannien und andere – nicht zu vergessen auch Deutschland –, die Afrika im Wesentlichen als ihren Markt und ihre Rohstoffbasis betrachten, werden versuchen, ihre wirtschaftliche Dominanz und ihren politischen Einfluss zu schützen. Und sie werden Russlands weiteren Weg in Afrika so stark wie möglich behindern. 

Angesichts dieses Widerstands sollte Moskau nicht der Versuchung erliegen, mit äußeren Mächten um Einflussbereiche zu konkurrieren. Es muss sich von seinem nationalen Interesse leiten lassen, das in der Ausweitung einer umfassenden Zusammenarbeit mit afrikanischen Partnern liegt, sowie von seinem Streben nach einer neuen, gerechteren Weltordnung, in der es mit dem Rest der nicht-westlichen Welt auf der gleichen Seite steht. Der zweite Russland-Afrika-Gipfel war trotz aller Schwierigkeiten und Komplikationen, die auf dem Weg nach St. Petersburg auftraten, ein Erfolg. Wichtiger ist jedoch der Paradigmenwechsel im russischen Denken und Handeln über Afrika, der die ehemals exotischen Orte zu normalen und wertvollen Partnern macht.

Der Beitrag erschien zuerst auf der russischen Plattform RT, die hierzulande gesperrt ist. Deshalb kann der Originalartikel auf RT hier nicht eingesehen werden. Es gibt davon aber eine Ausgabe in Englisch auf einer anderen Plattform, die von hier aus online zugänglich ist.

Zum Autor: Dmitri Trenin ist Forschungsprofessor an der «Higher School of Economics» (HSE) und «Leading Research Fellow» am «Institute of World Economy and International Relations» (IMEMO), beide in Moskau. Christian Müller, Herausgeber der Online-Plattform Globalbridge.ch, kennt ihn seit Jahren persönlich. Wer im Suchfeld oben rechts «Trenin» eingibt, findet weitere interessante und informative Beiträge von ihm. (cm)