Die sogenannte «Operation Upshot-Knothole» im Jahr 1953 war die neunte amerikanische Atomwaffentestserie auf dem Testgelände im Bundesstaat Nevada. Insgesamt wurden elf Bomben getestet. (Bild Wikipedia)

Der halsbrecherische Umgang mit der Atomkriegsgefahr

Der grassierende Sofa-Bellizismus überschlägt sich mittlerweile in Ton und rüstungspolitischen Postulaten. Dass dabei im Worst Case nichts weniger als ein Atomkrieg in Europa riskiert wird, beweist nicht etwa Mut, sondern die erschreckende Apokalypse-Blindheit der sogenannten Verantwortlichen in Medien und Politik.

Es ist die Zeit der galoppierenden Radikalisierung. Und die Zeit der schamlosen Bagatellisierungen.

Seit Monaten liefern sich die Leitmedien und die von ihnen gehetzte Politik einen atemberaubenden Überbietungswettbewerb, die anzustrebenden westlichen Kriegsziele in der Ukraine betreffend. Ging es zu Kriegsbeginn noch darum, die Kampfhandlungen schnellstmöglich zu stoppen und Blutvergießen wie Zerstörungen zu beenden – immerhin gab es zeitweise in Istanbul ernsthafte Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, die Anfang April sehr wahrscheinlich auf Druck aus Washington und London abgebrochen wurden –, sollte der Krieg dann laut EU-Außenminister Josep Borrell schon „on the battlefield“ gewonnen werden. Wenig später reichte auch das nicht mehr. „Wir wollen“, so tönte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zwei Monate nach Kriegsbeginn, „dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist.“ Parallel dazu postulierte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der Krieg sei erst dann beendet, wenn sämtliche von Russland besetzten Gebiete, einschließlich der Krim (!), zurückerobert seien.

Die Gefahr eines Atomkrieges …

Mittlerweile hat die Eskalationsspirale längst das halsbrecherische Niveau erreicht, auf dem ein möglicher Einsatz von Atomwaffen bereits offiziell verdeckt oder offen einkalkuliert, angedroht,  ja sogar – kaum verklausuliert – gefordertwird.

Als eine der Ersten wagte sich im April mal wieder die stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland, die sich auch zu Euromaidan-Zeiten drastisch exponiert hatte, vor und sicherte der Ukraine für den Fall der Fälle schon mal zu, die USA würden das Land bei einem russischen Atomangriff nicht alleine lassen – was auch immer dieses ominöse Versprechen bedeuten mag! 

Vor einem Monat ging der russische Präsident einen entscheidenden Schritt weiter. Anlässlich seiner Anordnung zur Teilmobilmachung der Streitkräfte am 21. September drohte Wladimir Putin: „Diejenigen, die sich solche Äußerungen (eines möglichen westlichen Atomwaffeneinsatzes; d.V.) gegenüber Russland erlauben, möchte ich daran erinnern, dass auch unser Land über verschiedene Zerstörungsmittel verfügt, von denen einige Komponenten fortschrittlicher sind als die der Nato-Länder. Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen.“ Er fügte unmissverständlich hinzu: „Dies ist kein Bluff.“

Und Wolodymyr Selenskyj legte, wie immer, noch einen drauf. Bei einem Videoauftritt vor dem australischen Lowy Institut in Sydney forderte er, die NATO müsse die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes durch Russland ausschließen. Und dann wörtlich: „Wichtig ist aber – ich wende mich wie vor dem 24. Februar deshalb an die Weltgemeinschaft – dass es Präventivschläge sind, damit sie wissen, was ihnen blüht, wenn sie sie anwenden.“ Er stellte klar: „Nicht umgekehrt: Auf Schläge von Russland warten, um dann zu sagen: ‚Ach du kommst mir so, dann bekommst du es jetzt von uns‘.“ (Überflüssig zu betonen, dass Kiew sich schon einen Tag später zu versichern beeilte, Selenskyj sei bei seinem Auftritt vor australischen Meinungsmachern falsch verstanden worden …)

Allein die Tatsache, dass solche Szenarien mittlerweile ernsthaft und in aller Öffentlichkeit in Erwägung gezogen werden, ist in höchstem Maße alarmierend und sollte eigentlich, wie vor 40 Jahren zu Nachrüstungszeiten, die Menschen aller europäischen Staaten zu Hundertausenden auf die Straße treiben! Der Skandal besteht nicht etwa nur darin, dass nichts dergleichen geschieht. Er wird noch dadurch überboten, dass in Politik und Medien mediokre Gestalten mit großem Mundwerk, durchschnittlichem Verstand, erschreckend wenig Verantwortungsbewusstsein und einem völligen Ausfall an Phantasie die Gefahr auf das Kriminellste bagatellisieren, im Worst Case gar noch anheizen. 

… und ihre Bagatellisierung

Bereits vor einem halben Jahr legte sich unter der originellen Überschrift „Wie ich die Bombe lieben lernte“ ein seltsamer Spiegel-Gastautor aus dem Fenster, der – so rasant radikalisieren sich in diesen Zeiten Ton und Forderungen – noch im Dezember letzten Jahres lediglich kokett dafür plädiert hatte, „mehr Kalten Krieg zu wagen“ und „Putin vor sich her zu treiben“. Aber mit solch zurückhaltenden Postulaten gab sich ein Nikolaus Blome schnell nicht mehr zufrieden. Das ungebrannte Kind spielte nun risikoselig mit dem Feuer: „Es braucht die Bombe für Deutschland. Denn es sind Atomwaffen, die den Atomkrieg bis heute verhindert haben“, polterte der Sofa-Bellizist die friedensverweichlichte deutsche Gesellschaft wach. Die subkutane logische Konsequenz der Argumentation des ehemaligen Bild- und Spiegel-Spitzenjournalisten: Gebt allen Staaten Atombomben, dann wird schon Friede auf Erden herrschen! 

Womit er sogar Recht behalten könnte. Allerdings in einem etwas anderen Sinne.

Der ehemalige Leiter der GRÜNEN-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Fücks, mochte es in dem von ihm initiierten Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz – dem Pawlow’schen Reflex auf das an die gleiche Adresse am 29. April vorausgegangene Schreiben von Alice Schwarzer und 27 anderen Prominenten – etwas moderater: „Der Gefahr einer atomaren Eskalation muss durch glaubwürdige Abschreckung begegnet werden.“ Dass die Dinge sich verselbständigen und allen Akteuren entgleiten, dass wir uns mögli­cherweise in einer ähnlichen Situation befinden könnten wie die berühmten „Schlafwandler“ von 1914, auf diese Idee kamen der Ex-Maoist, für dessen Übervater in den Siebziger Jahren die Atombombe bekanntlich eh nur ein „Papiertiger“ war, und seine aufrüstungsfreudigen Mitunterzeichner nicht.

Seit Putins unmissverständlicher Drohung vom 21. September – und nicht zuletzt auf dem Hintergrund der kurz darauf erfolgten Annexion der vier Oblaste im Donbass und an der Schwarzmeerküste – dominiert nun in Politik und Medien das Mantra, man dürfe sich von Putin nicht einschüchtern oder gar erpressen lassen. Genau das wolle er doch schließlich mit seiner „angeblichen“ Drohung bezwecken. (Unausgesprochene Konsequenz: Machen wir also weiter wie zuvor!) Dass Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel hier deutlich widersprach, ging im allgemeinen Beschwichtigungsgewitter unter.

Am Geschicktesten macht es freilich die junge grüne Außenministerin. Schon Anfang Mai ging sie scheinbar auf „die Sorgen der Menschen vor einem Atomkrieg als Worst Case-Szenario“ ein: „Wem das keine Angst macht, der ist entweder unehrlich oder hat die Lage nicht verstanden.“ Aber „wir können auch nichts komplett ausschließen. Und wir haben eine Verantwortung, immer die Risiken deutlich machen und auf der anderen Seite keine Panik schüren.“ 

Ängste verstehen, Risiken deutlich machen, keine Panik schüren – der Baerbock‘sche Dreiklang ist ein Klassiker der Bagatellisierung und Einschläferung. Denn es fehlt immer der entscheidende Satz: „Im Übrigen eskalieren wir weiter wie bisher!“

Apokalypse-Blindheit

Der banalisierende Umgang mit der Atomkriegsgefahr ist allerdings nicht allein ein Privileg gedanken- oder gar verantwortungsloser Politiker und Journalisten. Der Defekt ist allgemeiner ‚Natur‘ und betrifft prospektive Täter wie Opfer gleichermaßen. Niemand hat diese, von ihm so genannte „Apokalypse-Blindheit“ – die Unfähigkeit, die Gefahr des menschgemachten Weltenendes weder rational und schon gar nicht emotional adäquat zu erfassen – früher und präziser auf den Begriff gebracht als der Philosoph Günther Anders. Bereits vor 65 Jahren schrieb er:

„Betrauern können wir einen geliebten Toten. Vorstellen können wir uns vielleicht zehn Tote. Maximal. Umbringen können wir mit den heutigen Mitteln Hunderttausende auf einen Streich. Vor dem Gedanken der Apokalypse schließlich streikt die Seele! Der Gedanke bleibt nur ein Wort.“

Kurz: Herstellen können ‚wir Menschen‘ die Apokalypse – die Vernichtung allen Lebens auf diesem Planeten – mit Hilfe der Atombombe; Vorstellen können wir es uns nicht. Wir können uns nicht mehr vorstellen, was wir herstellen und anstellen können! In diesem Sinne sind wir zugleich größer und kleiner als wir selbst: Als Vernichter haben wir durch die Bombe gottgleiche Allmacht erlangt, als Vorstellende sind wir dieser unserer unbeschränkten negativen Allmacht in keinster Weise gewachsen. Unsere Vorstellungen bleiben hinter den Effekten, die unsere Handlungen zeitigen können, unendlich weit zurück.

So auch unsere Unfähigkeit zur Angst vor einem möglichen atomaren Inferno. Diese ist nicht etwa Ausdruck von ‚Mut‘, sondern nichts Anderes als Phantasielosigkeit: die Unfähigkeit und der Unwille, uns den Worst Case vorzustellen und dies auch auf der Ebene der Gefühle zu realisieren – als Angst!

Die Gottheiten der Vernichtung

Und dies gilt, wie gesagt, für Politiker und Militärs, Spitzenjournalisten und Bild-Zeitungs-Leser, Professoren wie Sonderschüler gleichermaßen. Es wäre naiv zu glauben, professionelle Abwiegler oder Droher, Frauen und Männer wie Annalena Baerbock, Ralf Fücks, Wladimir Putin, Wolodymyr Selenskyj, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Nikolaus Blome, Andrij Melnik oder Joe Biden – sie mögen smart aussehen wie die deutsche Außenministerin, harmlos wie Selenskyj, grimmig dreinschauen wie der russische Präsident oder leicht debil wie dessen Antipode – wären ‚in Sachen Apokalypse‘ kompetenter als wir, die möglichen Opfer!

Günther Anders brachte es auf klassische Formulierungen: „‚Die Götter der Pest‘, so heißt es in einem alten Sprichwort, ‚sind friedliche Männer und selbst nicht pestkrank.‘ Ihnen gleichen die Gottheiten der heutigen Vernichtung: Nichts ist ihnen weniger anzusehen, als was sie auslösen könnten; und ihr Lächeln ist wohlwollend, nicht selten sogar ohne Falsch.“

Aber es gibt nichts Entsetzlicheres als das ehrlich wohlwollende Lächeln, als die Naivität, die Gedankenlosigkeit und die als Moral getarnte Scharfmacherei der Gottheiten der Vernichtung.

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Dieser Beitrag von Leo Ensel erschien zuerst auf der Plattform NachDenkSeiten. Dort kann er auch als Podcast abgehört werden.