«Ich weiss, dass wir gewinnen werden, und wie» sagte noch am 24. Juli 2024 der Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, Oleksandr Syrskyj, in einem Interview mit der englischen Zeitung The Guardian. Doch bis jetzt war sein Überraschungsangriff Richtung Kursk zwar ein medialer Erfolg, ändern an der schlechten Lage der ukrainischen Armee in diesem Krieg wird er aber nichts. (Screenshot The Guardian)

Déjà-vu-Erlebnisse in der Ukraine

Vor einem Monat landete Kiew mit dem Einfall in die Oblast Kursk (1) einen Coup im Informationskrieg – aber wohl kaum mehr als das. Es ist Zeit für eine Bilanz. Richtig ist, dass Kiew versucht, das Heft in der Hand zu behalten, denn die Möglichkeiten seiner westlichen Verbündeten sind möglicherweise bald ausgereizt. 

Seit dem Verlust der Stadt Avdiivka nordwestlich von Donetsk hat die ukrainische Armee praktisch jeden Tag Terrain verloren. Besonders vielsagend ist die Tatsache, dass die Russen am Westrand von Donetsk und westlich von Avdiivka Geländeteile eingenommen haben, die von den Ukrainern jahrelang festungsartig ausgebaut worden waren. Ihr Angriff auf die Agglomeration Toretsk kam keineswegs überraschend. Bemerkenswert ist hier, dass die Russen die Areale von Bergwerken mit tiefen Schächten und hohen Abraumhalden einnehmen konnten. Vielsagend sind auch ihre Geländegewinne im Raum Bakhmut/Artemovsk und Chasov Yar. In beiden Offensiven zeigen reguläre russische Truppen, dass es bei Angriffen in Städten auch ohne die Gruppe Wagner geht. Nach wie vor setzen die Russen bei ihren Angriffen auf ukrainische Stützpunkte in Überbauungen schwere Fliegerbomben mit großer Präzision nahe vor den eigenen Truppen ein und zerschlagen damit auch gut ausgebaute Stellungen (2). 

Karte: Übersicht über die Front
Quelle: Live UA Map, Ergänzungen Verfasser

In den letzten Tagen ist ein neues Phänomen dazugekommen: Offenbar mussten die Ukrainer im Raum westlich von Donetsk zwischen Hrodivka und Ukrainsk mehrere Siedlungen kampflos preisgeben. Am Dnepr südlich von Kherson mussten die Ukrainer ihren sogenannten Brückenkopf von Krynki aufgeben. Dessen militärischer Sinn war ohnehin nie richtig klar gewesen (3).

Neue Form von Krieg

Zum einen ist dieser Krieg ein industrieller Krieg, in welchem Munition, Ersatzteile und auch Groß-Waffensysteme in großer Zahl verbraucht werden. Vergleichsweise einfache Geräte und Systeme, die in großen Stückzahlen erzeugt, einfach gewartet und schnell repariert werden können, sind hierbei wertvoller als High-Tech. Andererseits bestimmen neue Technologien das Geschehen auf dem Gefechtsfeld. 

Neu ist bestimmt die Rolle, die Drohnen spielen. Dies hatte sich schon im Oktober 2020 in Berg-Karabach angedeutet, als die Aserbaidschaner Drohnen noch primär zur Aufklärung einsetzten und sich dadurch einen Wissensvorsprung vor den Armeniern wahrten (4). Die massenhafte Verwendung als Kampfdrohnen in der Ukraine ist aber neu. Solches begann sich nach 2014 abzuzeichnen, als die OSZE erste Improvisationen von Kleindrohnen im Donbass feststellte, welche vorerst noch kleine Sprengladungen abwerfen konnten (5). Mittlerseile sind industriell hergestellte Kampfdrohnen mit verschiedenen Typen von Bewaffnung im Einsatz. Sie ersetzen heute teilweise Kampfhubschrauber und ergänzen die Artillerie, die zunehmend auch gepanzerte Punktziele vernichten kann (6).

Mittlerweile ist mit den Mitteln der Fernverminung durch Artillerie, präzisionsgesteuerter, panzerbrechender Artillerie-Munition und Kampf-Drohnen möglicherweise eine Situation entstanden, die jener in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs gleicht, als die kriegführenden Armeen feststellen mussten, dass Bewegungen auf dem Gefechtsfeld gefährlich geworden waren. Ob die neuen Trends der Waffentechnik das Ende der Ära der großräumigen Manöver von Panzerverbänden eingeläutet haben, muss sich noch zeigen. Aber es wird schon seinen Grund haben, weshalb die Russen jetzt quer durch Toretsk hindurch angreifen und nicht im offenen Gelände nebenan. Vorsichtshalber sollte man im Westen vorerst nicht voreilig in neue Panzer investieren.

Déjà-vu-Erlebnisse

Die ukrainisch-russische Grenze zwischen den russischen Garnisonsstädten Valuiki und Klinzy ist circa 500 km lang und verlangt für eine lückenlose Besetzung folglich ein gutes Dutzend Divisionen. Dazu müssten noch operative Reserven von mindestens Korpsstärke kommen. So viele Divisionen – zusätzlich zu jenen im Donbass – kann auch die russische Armee nicht stellen. Das Missverhältnis von Raum und Kräften zwingt die Russen zu grenznahem Aufmarsch von Truppen, welche Verteidigungsstellungen erst beziehen sollten, nachdem das Schwergewicht des gegnerischen Angriffs geklärt ist. Gemäß russischer Doktrin liegt deshalb zwischen der Staatsgrenze und der ersten Verteidigungslinie die Polosa Obespecheniya (Полоса Обеспечения), der Sicherstellungsstreifen, der 15 bis 40 km tief sein kann (7). Seine Bezeichnung umreißt seinen Zweck: Er soll sicherstellen, dass die erste Verteidigungslinie nicht schon von Beginn weg im Feuer der gesamten Artillerie des Gegners liegt und dass die Kräfte für die Verteidigung ungestört ihre Stellungen beziehen können. Letzteres braucht jeweils ein paar Tage Zeit. Bis der Bezug abgeschlossen ist, kämpfen schwache Kräfte im Sicherungsstreifen nur hinhaltend. Hinter dem Sicherungsstreifen folgen mehrere Verteidigungslinien, die man eigentlich besser als Verteidigungsstreifen bezeichnen würde, denn sie weisen jeweils eine Tiefe von 10 bis 15 km auf. In der Regel sind vier solcher Streifen im Abstand von jeweils 20 bis 25 km hintereinander angeordnet. Erstmals bewährt hat sich diese Verteidigungsaufstellung im Sommer 1943 – ausgerechnet in der Region Kursk (8). 

Im Rahmen ihrer Sommeroffensive im vergangenen Jahr gelang es den Ukrainern nur gerade an einem einzigen Ort, nämlich in Rabotyne südöstlich von Zaporozhie, den Sicherungsstreifen zu überwinden und in die erste Verteidigungslinie der Russen einzubrechen. Von Durchbrüchen konnte damals keine Rede sein. Überall sonst blieben die Ukrainer bereits im Sicherungsstreifen hängen (9). Das scheint sich jetzt im Fall der Kursker Offensive zu wiederholen. 

Der aktuelle Vorstoß der Ukrainer erinnert ein wenig an die Aufregung um die Entflechtungszonen (Disengagement Areas), welche die OSZE im Sommer 2016 entlang der Frontlinie einzurichten versuchte. Initiator war der Deputy Chief Monitor der Special Monitoring Mission to Ukraine gewesen, Alexander Hug. In diesen Entflechtungszonen sollten die Truppen der Konfliktparteien durch einen Geländestreifen – inoffiziell „graue Zone“ genannt – räumlich voneinander getrennt werden. Davon erhoffte man sich einen Rückgang der Anzahl der Waffenstillstandsverletzungen (10). Das Vorhaben scheiterte einerseits daran, dass Aufklärungspatrouillen beider Seiten in die Entflechtungszonen eindrangen, und andererseits, weil die ukrainische Armee eines Tages in diese Zonen einrückte, einen großen Sieg verkündete und sich anschließend zur Verteidigung einrichtete. Damit entstand wieder dieselbe unbefriedigende Lage von vorher (11). Inoffiziell sprachen die Ukrainer damals von „Creeping Attacks“, man kann es wohl aber auch als das Pflücken tiefhängender Früchte bezeichnen. Das brachte den Ukrainern zwar ein paar Tage lang positive Schlagzeilen, ansonsten aber nur eine Verlängerung des Kleinkriegs, der sich bis zum Februar 2022 hinzog. 

Zweck und Ziel der Invasion

Über Zweck und Ziel des aktuellen ukrainischen Unternehmens in der Oblast Kursk ist schon mehr als genug spekuliert worden. Wer Räume, Ausdehnungen und eingesetzte Kräfte vergleicht, dem erschließt als Sinn des Unternehmens ein Coup im Informationskrieg.

Die ukrainische Armee ist Anfang August auf einer Frontbreite von circa 40 km über die Staatsgrenze gestoßen und hat bisher einen Grenzstreifen von maximal 60 x 20 km unter ihre Kontrolle gebracht. In einer Anfangsphase setzte sie mehrere Brigaden mit zusammengenommen 6’000 Mann ein. Teile der angreifenden Truppen, die mit dem modernsten westlichen Gerät ausgerüstet sind, sind dem Vernehmen nach von der belarussischen Grenze abgezogen worden. Es scheint, dass die Ukraine auf strategische Reserven zurückgreift. Jetzt soll die Zahl der eingesetzten Truppen auf 20’000 Mann erhöht werden. Offenbar sind die Ukrainer bereit, das Risiko einer weiteren Schwächung ihres Dispositivs im Norden in Kauf zu nehmen (12).

Die Breite von 40 km entspricht eigentlich einem Angriffsstreifen eines Armeekorps mit drei Divisionen und einem halben Dutzend Brigaden der Unterstützungstruppen in Form von Pionieren, Artillerie, Raketentruppen, Fliegerabwehr, Aufklärung, Heeresfliegern, ABC-Abwehr, Fernmeldern, sowie Logistik und anders mehr, das heißt einer Streitmacht von mindestens 60’000 Mann. Von einem derartigen Kräfteeinsatz ist die Ukraine derzeit weit entfernt. 

Einerseits wurde spekuliert, dass es den Ukrainern darum gehe, die Russen zum Abzug von Truppen von der Front in den Räumen Avdiivka, Chasov Yar und Donetsk zu zwingen. Bislang schaut es nicht so aus, als ob den Ukrainern dies gelänge, eher das Gegenteil ist der Fall: Die Russen haben mittlerweile New York eingenommen bzw. die Siedlung Novhorodske, welche besonders eifrige Transatlantiker vor einiger Zeit so umbenannt hatten. Auch in Toretsk und Chasov Yar stehen die Dinge nicht gut für die ukrainische Armee. Derzeit ist eher davon auszugehen, dass die Russen gefasst bleiben und sich nicht von ihrer ursprünglichen Absicht abbringen lassen, die ganze Oblast Donetsk unter ihre Kontrolle zu bringen. Ihnen ist die Berichterstattung in der westlichen Presse egal.

Karte: Lage im Donbass
Quelle: Live UA Map, Ergänzungen Verfasser

Andere Spekulationen besagten, die Ukraine wolle im Sinn einer Pfandnahme ein paar russische Dörfer besetzen, um sie in bald beginnenden Verhandlungen als Tauschobjekte einzusetzen und dadurch Selenskyjs Verhandlungsposition zu stärken. Es ist aber absehbar, dass Putin einen Austausch dieser Dörfer gegen jene vorschlägt, welche die Russen im Mai dieses Jahres bei Kharkiv besetzten. In dieser Hinsicht bringt das aktuelle Unternehmen wenig.

Angriffsziel Kursk?

Hätten die Ukrainer das Kernkraftwerk westlich von Kursk einnehmen wollen, das circa 60 km von der Staatsgrenze entfernt liegt, dann hätten sie vorgängig eine taktische Luftlandung mit einer Luftlandebrigade durchführen müssen, um die wichtigsten Teile der Anlage unzerstört in Besitz zu nehmen. Ein Bataillon hätte hierfür nicht ausgereicht. Aber auch mit aller westlicher Unterstützung ist den Ukrainern nicht zuzutrauen, dass sie eine Luftlandebrigade in 50 km Tiefe abzusetzen und mehrere Tage lang unterstützen können, bis Bodentruppen zu ihr aufgeschlossen sind. Wenn man die Erfahrungswerte für Angriffsgeschwindigkeiten aus früheren Kriegen heranzieht, kommt man übrigens zur Erkenntnis, dass die Ukrainer eigentlich bereits seit Mitte August beim KKW Kursk stehen müssten oder schon am Stadtrand von Kursk.  

Karte: Lage im Südwesten der Oblast Kursk
Quelle: Verfasser

Für einen Stoß in das 90 km von der Grenze entfernt liegende Kursk hätten die Ukrainer ein Armeekorps einsetzen müssen. Die Ukrainer haben keine Erfahrung in der Einnahme derart großer Städte, überhaupt nicht in der Einnahme von Städten: Sie haben auch im Rahmen ihrer letztjährigen Sommeroffensive nicht eine einzige Stadt einnehmen können. Sie haben viel eher Erfahrung im Verlieren von Städten. Aber selbst wenn sie die Stadt Kursk mit einer Ausdehnung von circa 15 x 25 km einnehmen könnten, brauchten sie wohl einen divisionsstarken Verband, um die Stadt hinterher unter Kontrolle zu halten. Auf dem Weg dorthin müssten sie auch noch den Fluss Seim überschreiten (13). Auch darauf haben wir derzeit keine Hinweise. Im Gegenteil: Die ukrainischen Angriffe auf die Brücken bei Glushkovo und Svannoe deuten darauf hin, dass die ukrainischen Streitkräfte keinen raschen Vorstoß in die Tiefe, beispielsweise auf die Stadt Rylsk planten (14). Natürlich hätte die Symbolwirkung der Einnahme des ehemaligen Landsitzes von Hetman Mazepa bei Ivanovskoe östlich von Rylsk den Ukrainern gutgetan, aber dieses Ziel war wohl zu weit entfernt (15). 

Billige Stimmungsmache

Damit zeigt sich erneut der Charakter des aktuellen Kriegs als Informationskrieg, in welchem gewisse Aktionen unternommen werden, um Schlagzeilen in der Presse zu erzeugen. Das ist den Ukrainern mit dem Unternehmen in der Oblast Kursk sicherlich gelungen. Von den Misserfolgen im Donbass abzulenken, war wohl das hauptsächliche Ziel der Ukrainer, die ein neues Narrativ schaffen mussten, nachdem sie gezwungen gewesen waren, ihre Truppe aus dem „Brückenkopf“ Krynki abzuziehen (16). Hinter solchen militärisch fragwürdigen Aktionen stecken NATO-Theorien, die im Kern darauf herauslaufen, dass man Kriege durch Propaganda gewinnt. Auch in dieser Hinsicht stellt sich ein Déjà-vu-Erlebnis ein:  Es entsteht der Eindruck, die Berichterstattung hierzulande sei entschlossen, das Geschwätz vom Frühjahr 2023 aufzuwärmen, als man schon von Siegesparaden in Sewastopol und Moskau schwadronierte. Der Misserfolg der ukrainischen Sommeroffensive von 2023 hätte zu realistischeren Urteilen führen müssen, aber die westliche Presse scheint unbelehrbar zu sein. Immerhin: Im Informationskrieg kann sich die Ukraine nach wie vor auf ihren treusten Verbündeten, die westliche Presse, verlassen, die bar jeden militärischen Sachverstands unkritisch jede Verlautbarung Kiews und Brüssels unkommentiert weitergibt (17). 

Die andauernde Negativ-Berichterstattung über Russlands Armee hat natürlich auch ihren Zweck: Dem Westen soll die Aussicht auf einen leichten Sieg suggeriert werden, damit er sich noch rasch an einem Krieg beteilige, der ja eigentlich schon gewonnen sei. Dass man die entsprechenden Erfolgsaussichten im Westen hingegen eher skeptisch beurteilt, zeigt die Tatsache, dass die NATO weder in der Luft noch zur See russisches Territorium mit eigenen Kräften angegriffen hat, denn das könnte sie teuer zu stehen kommen. Die  Erfahrungswerte der Kriege der vergangenen Jahrzehnte legen die Vermutung nahe, dass die menschlichen Kosten für einen einmonatigen Einsatz eines Armeekorps der NATO zugunsten der Ukraine hoch sein könnten: Wäre ein solches Unternehmen beispielsweise Deutschland 5‘000 Tote und 4‘000 Invalide wert? 

Im Lichte dieser Berichterstattung wundert es einfach, wie die Ministerien und die Generalität in Deutschland und in der Schweiz Panik verbreiten und Milliarden für die Rüstung fordern. Ja was ist die russische Armee nun, das Ungeheuer, das nur darauf wartet, Westeuropa zu überfallen, oder der desorganisierte Haufen Alkoholiker, geführt von unfähigen Generälen, der schon bald eine ukrainische Siegesparade in Sewastopol und Moskau zulassen muss? Irgendwann sollten sich die Propagandisten hierzulande dann doch auf eine einheitliche Linie festlegen. Die russische Armee verfügt nicht über die Mittel und die Fähigkeiten, um Operationen in großem Maßstab weit entfernt von den Grenzen Russlands zu führen. Um diejenigen Mittel zu beschaffen, die Russland bräuchte, um Westeuropa zu erobern, müsste die russische Regierung wohl eine Reihe jährlicher Rüstungsprogramme auflegen, welche die russische Wirtschaft ruinieren würden. Aber unterschätzen sollte man die Stärke dieser Armee in Operationen in Grenznähe nicht. Wenn jetzt die Spitzen der Schweizer Armee und der deutschen Bundeswehr behaupten, sie würden in den kommenden Jahren Milliarden benötigen, um die Russen von etwas abzuhalten, was diese nicht können und wohl auch nicht wollen, dann ist das bestenfalls als billige Stimmungsmache zu qualifizieren. 

Krieg vor dem Krieg?

Aus russischer Sicht zeigt sich seit längerem der wahre Zweck dieses Kriegs, in welchem sich die Ukrainer zur Verfügung stellten, um an der Spitze des Westens Russland anzugreifen. Vor dem Februar 2022 verfügte die Ukraine über die zweitgrößte Armee auf dem europäischen Kontinent, grösser noch als die polnische. Diese Armee und das hinter ihr stehende Potenzial zu zermahlen, ist jetzt zum Ziel russischer Kriegführung geworden. In Moskau rechnet man sicher auch mit der Möglichkeit, dass derzeit der regionale Krieg vor dem globalen stattfindet, und dass ein Angriff der NATO erfolgt, sobald Russland Ermüdungserscheinungen zeigt. Und deshalb hält man wohl ein paar Asse im Ärmel zurück. Irgendwie erinnert das an den Winterkrieg 1939/1940 zwischen der Sowjetunion und Finnland, in welchem die Sowjetunion ihre wahren militärischen Möglichkeiten nie ganz offenlegte (18). Sollte aber wirklich ein großer globalen Konflikt bevorstehen, will Russland sich bestimmt nicht frühzeitig verheizen lassen. 

China, das den nächsten Schlag zu erwarten hat, sobald der Krieg in der Ukraine beendet ist, wird Russland als einen potenziellen Verbündeten im globalen Ringen nicht einfach so fallenlassen. Interessant ist auch das Verhalten Nordkoreas: Es stellt den Russen selbst entwickelte Panzerabwehr-Systeme zur Verfügung, wohl weniger, weil Russland solche angefordert hat, sondern eher zum Testen unter Echtbedingungen (19). Ähnliches tut der Iran. Auch hier bereitet man sich auf den großen Krieg vor.

Sucht der Westen die Eskalation?

Die ungünstigste Lageentwicklung für die Ukrainer besteht jetzt darin, dass sie die in Kursk eingesetzten Kräfte nicht mehr vom Feind lösen und nicht mehr an die Brennpunkte des Geschehens im Donbass verlegen können, sollte sich der russische Vorstoß dort nicht aufhalten lassen. In Kiew wird man sich überlegen müssen, wie viele Kräfte man noch in ein Unternehmen investieren will, dessen militärischer Sinn zweifelhaft ist und an welchem die westlichen Medien schon bald ihr Interesse verlieren dürften. 

Die Russen ihrerseits können jetzt versuchen, möglichst starke ukrainische Kräfte möglichst lang zu binden und die Tatsache ausnutzen, dass nur schon aus geographischen Gründen ein Krieg so nahe an Russlands Grenzen für die NATO schwierig zu gewinnen ist (20). Solange die russische Armee in den Räumen Chasov Yar, Bakhmut und Toretsk weiter vorrückt, stellt sich die Frage nach einer Eskalation für sie nicht.

In Washington und Brüssel wird man sich darüber Rechenschaft geben müssen, dass das militärische Prestige des Westens weiter bröckelt und dass mehrere Akteure bereitstehen, dessen militärische Schwäche auszunutzen. Wenn ein Akteur ein Interesse an einer Eskalation hat, dann ist es der Westen, denn er weiß, dass sich zum militärischen Misserfolg bald auch der diplomatische gesellen könnte, namentlich dann, wenn China oder ein anderes nicht-westliches Land die Federführung in Verhandlungen übernimmt.

Peking hat schon vor einiger Zeit einen Friedensplan vorgelegt und wird geduldig warten, bis die Voraussetzungen für seine Annahme eingetreten sind (21). Dort wird man wissen, dass man vom Westen auch nach den Präsidentschaftswahlen in den USA nicht viel zu erwarten hat. Die US-Wähler haben die Wahl zwischen einem narzisstischen Großmaul, der in seiner ersten Präsidentschaft in außenpolitischer Hinsicht großen Schaden angerichtet hat, und einer Kandidatin, deren Leistungsausweis in einer frühzeitigen Abreise vom Bürgenstock-Gipfel besteht. Beide werden eine globale Führungsrolle für sich reklamieren, aber keiner wird sie wahrnehmen können. 

Kleiner Hinweis zum Aufmacherbild: Ein ehemaliger ukrainischer Innenminister prophezeit bereits den Rauswurf Syrskys … (Red.)

Anmerkungen

  1. Wirtschaftlich bedeutend in der Region Kursk ist vor allem der Eisenerz-Abbau. Im Untergrund der Oblaste Kursk, Belgorod und Orel lagern auf einer Fläche von etwas mehr als jener Österreichs circa 200 Milliarden Tonnen Eisenerz und damit so viel, dass stellenweise die Magnetnadel des Kompasses von der Nordrichtung abweicht. Die Region stellt die weltweit stärkste Anomalie des Erdmagnetfeldes dar. Darüber hinaus besteht der Boden aus fruchtbarer Schwarzerde und ist landwirtschaftlich äußerst ergiebig.
  2. Seit September 2023 setzen die russischen Streitkräfte schwere Fliegerbomben der Typen FAB-500, -1500 und -3000 teilweise wenige hundert Meter vor den eigenen Truppen ein, was als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass sie der Präzision des Einsatzes von FAB Bomben vertrauen. Dass sie diese Präzision trotz der Gegenwehr ukrainischer Flugabwehr und elektronischer Gegenmaßnahmen erreichen, ist bemerkenswert. Die Abkürzung FAB, russisch ФАБ, steht für ФугаснаяАвиационная Бомба (transkribiert Fugassnaya Aviatsionnaya Bomba) und bedeutet Fliegerbombe mit Sprengwirkung. Die KAB (Корректируемая Авиационная Бомба) ist mit einem Korrekturmodul versehen, das mittels einer Fernsehkamera, Laser oder Inertial-Navigation die präzise Steuerung der Bombe erlaubt. KAB sind erheblich wirksamer als Artilleriegranaten und selbst als die konventionellen Gefechtsköpfe von Marschflugkörpern und ballistischen Raketen. Vgl. „Das Rennen nach der letzten Bombe in der Ukraine“, bei Global Bridge, 28.03.2024, online unter https://globalbridge.ch/das-rennen-nach-der-letzten-bombe-in-der-ukraine/
  3. Siehe „Der Kampf um positive Schlagzeilen am Dnepr“, bei Global Bridge, 22.12.2023, online unter https://globalbridge.ch/der-kampf-um-positive-schlagzeilen-am-dnepr/
  4. Der Verfasser befasste sich bis Herbst 2020 als Mitarbeiter der Hochrangigen Planungsgruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE mit der Lage im Südkaukasus. 
  5. Ab 2015 stellte die Sonderbeobachtungsmission der OSZE, die SMM den Einsatz von improvisierten Kampf-Drohnen mit Abwurf-Vorrichtung durch alle Konfliktparteien fest. Der Verfasser war damals in der OSZE tätig. Vgl. John Wendle: The Fighting Drones of Ukraine, bei Smithsonian Magazine, Februar 2018, online unter https://www.smithsonianmag.com/air-space-magazine/ukraines-drones-180967708/
  6. Endphasengesteuerte panzerbrechende Artillerie-Munition ist weltweit von verschiedenen Herstellern entwickelt worden. Auf westlicher Seite gehört dazu in erster Linie die 155mm Artillerie-Granate „M982 Excalibur“; siehe https://www.deagel.com/Weapons/M982%20Excalibur/a001159 und Mike Milner: Precision Strike Association Excalibur Overview, Picatinny Arsenal, New Jersey, online unter https://ndiastorage.blob.core.usgovcloudapi.net/ndia/2012/annual_psr/Milner.pdf. Ein Konkurrenzprodukt ist die deutsch-italienische „Vulcano“ in den Kalibern 76mm, 127mm und 155mm. Siehe https://electronics.leonardo.com/en/products/vulcano-155mmhttps://electronics.leonardo.com/en/products/vulcano-127mmund https://electronics.leonardo.com/en/products/vulcano-76. Auf russischer Seite ist die lasergelenkte „Krasnopol“ ausgiebig im Einsatz. Siehe 2К25 «Краснополь» auf der Homepage von Русская Сила, online unter https://xn—-7sbb5ahj4aiadq2m.xn--p1ai/guide/army/bp/2k25.shtml, in russischer Sprache. 
  7. Der Verfasser hatte als Teilnehmer am Generalstabslehrgang der russischen Armee in den Jahren 2013 und 2014 ausgiebig Gelegenheit, sich mit den Einsatzverfahren der russischen Streitkräfte vertraut zu machen. 
  8. Die Verteidigungsoperation Kursk, in der deutschen Geschichtsschreibung unter der Tarnbezeichnung „Unternehmen Zitadelle“ bekannt, war die zweitletzte große Offensive der Deutschen im deutsch-sowjetischen Krieg von 1941 bis 1945. Der deutsche Angriff musste am 13. Juli 1943 nach 8 Tagen abgebrochen werden, weil es nicht gelungen war, die Verteidigung der Roten Armee zu durchbrechen. Von den zahlreichen Publikationen sei hier nur auf diejenige des, auf die sowjetische Militärgeschichte spezialisierten US-amerikanischen Militärhistorikers David Glantz verwiesen: David M. Glantz, Jonathan M. House: The Battle of Kursk. Kansas, 2004, eingeschränkte Vorschau unter https://archive.org/details/battleofkursk0000glan/page/n1/mode/2up. Etwas kompakter ist Jonathan Klug: Revisiting a „Lost Victory“ at Kursk, LSU Master’s Theses, Liz., Louisiana State University, 2003, online unter https://repository.lsu.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=4415&context=gradschool_theses. Zur Panzerschlacht von Prokhorovka siehe Dieter Brand: Vor 60 Jahren; Prochorowka (Teil I), in: Österreichische Militärische Zeitschrift. Ausgabe 5/2003, online unter https://www.bmlv.gv.at/omz/ausgaben/artikel.php?id=142 und Teil II, in: Österreichische Militärische Zeitschrift. Ausgabe 6/2003, online unter https://www.bmlv.gv.at/omz/ausgaben/artikel.php?id=158
  9. Vgl. Markus Reisner: „Katerstimmung“ für die Ukraine? – eine Lagebeurteilung von Oberst Markus Reisner, auf der Homepage des Österreichischen Bundesheers, 08.01.2024, online unter https://www.bundesheer.at/aktuelles/detail/katerstimmung-fuer-die-ukraine-eine-lagebeurteilung-von-oberst-markus-reisner. Vgl. „Wird Russlands Armee unterschätzt? – Militärexperte Reisner bei ZDFheute live“, 22.05.2023, online unter https://www.youtube.com/watch?v=Ggt40ENs280 und „Militärexperte Oberst Reisner: Was Putins Armee aus Fehlern gelernt hat“, bei ZDFheute live, online unter https://www.youtube.com/watch?v=Hn6gE_u22cM.
  10. In der Trilateralen Kontaktgruppe der OSZE war am 21.09.2016 eine Entflechtung der verfeindeten Truppen in Stanytsia Luhanska, Petrivske und Zolote beschlossen worden: Framework Decision of the Trilateral Contact Group relating to disengagement of forces and hardware. Siehe “ РАМОЧНОЕ РЕШЕНИЕ Трёхсторонней контактной группы о разведениисил и средств“ auf der Homepage der OSZE, online unter https://www.osce.org/files/f/documents/2/4/266271.pdf, in russischer Sprache. Vgl. Latest from OSCE Special Monitoring Mission (SMM) to Ukraine, based on information received as of 19:30, 25 September 2016, Kyiv 26 September 2016, online unter https://www.osce.org/ukraine-smm/268261
  11. Der Verfasser erlebte diese Vorgänge als militärischer Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz bei der OSZE und als Senior Planning Officer der OSZE-Sonderbeobachtungsmission SMM in der Ukraine. 
  12. Siehe Igor Lenkewitsch: Greift Lukaschenko in den Krieg ein: bei Dekoder, 26.08.2024, online unter https://www.dekoder.org/de/article/belarus-truppen-grenze-krieg-lenkewitsch. Über eine Einnahme Kiews durch russische und belarussische Truppen spekulierte jüngst Gilbert Doctorow: Moscow: Three villages seized in eastern Ukraine, Iran’s Press TV last night, auf der Homepage von G. Doctorow, mit deutscher Übersetzung von Andreas Mylaeus, 31.08.2024, online unter https://gilbertdoctorow.com/2024/08/31/moscow-three-villages-seized-in-eastern-ukraine-irans-press-tv-last-night/
  13. Der in Ost-West-Richtung verlaufende Seim-Fluss bietet sich streckenweise als Verteidigungslinie vor Kursk an.
  14. Siehe  „Russland: Ukraine zerstört Brücke in Kursk mit westlichen Waffen“, bei tagesschau.de, 17.08.2024, online unter https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-ukraine-samstag-420.html#Russland-Ukraine-zerstoert-Bruecke-in-Kursk-mit-westlichen-Waffen; Radina Gigova, Maria Kostenko: Ukraine aims to create Kursk ‘buffer zone,’ Zelensky says, as Kyiv’s forces blow up second Russian bridge, bei CNN International, 19.08.2024, online unter https://edition.cnn.com/2024/08/18/europe/zelensky-kursk-incursion-second-bridge-intl/index.html (englisch) und Andrew E. Kramer: Ukraine Strikes Bridges in Russia, Aiming to Entrap Troops, bei The New York Times, 19.08.2024, online unter https://www.nytimes.com/2024/08/19/world/europe/ukraine-attacks-russia-bridges-border.html
  15. Hetman Mazepa (zuweilen auch Mazeppa geschrieben) war nach 1687 Anführer der Saporoger Kosaken und gilt in der heutigen Ukraine als Nationalheld.  
  16. Siehe „Der Kampf um positive Schlagzeilen am Dnepr“, a.a.O. 
  17. Ein besonders krasses Beispiel in dieser Hinsicht ist die deutsche Boulevardzeitung „Bild“: Am 17. Februar 2022 besuchte W. Zelensky in Begleitung des Stellvertretenden Chefredakteurs der „Bild“ Mariupol. Gleichentags ereignete sich der angebliche Beschuss eines Kindergartens in Stanytsia Luhanska, bei welchem nicht auszuschließen ist, dass er inszeniert war. Die Schlagzeile „Putins Schergen beschießen ukrainischen Kindergarten“ (online unter https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/angriff-in-der-ost-ukraine-putins-schergen-beschiessen-kindergarten-79184470.bild.html) widerspricht dem Tagesbericht der SMM vom 18.02.2022. Ein weiteres Beispiel ist die Schlagzeile des schweizerischen Boulevardblatts „BLICK“ vom 31. Mai 2022, online unter https://www.blick.ch/ausland/fahne-auf-botschaft-sorgte-fuer-wirbel-angriffe-von-russischen-kampfpiloten-befuerchtet-darum-musste-die-schweiz-in-kiew-ihre-flagge-einholen-id17536583.html, welche auf einer Twitter-Nachricht des russischen Bloggers und Oppositionellen Ilya Novikov basierte, dessen Identität vom „Blick“ nicht weiter recherchiert wurde. Ein weiteres Beispiel ist die  Berichterstattung über die angebliche Entlassung von Generalleutnant Sergej Kisel, dem Oberkommandierenden der 1. Russischen Garde-Panzerarmee am 19.05.2022. Siehe Don Silas: Ukraine war: Russia suspends Lieutenant General Kisel over failure to capture Kharkiv, bei der nigerianischen Daily Post, 19.05.2022, online unter https://dailypost.ng/2022/05/19/ukraine-war-russia-suspends-lieutenant-general-kisel-over-failure-to-capture-kharkiv/, basierend auf der „Intelligence Update“ des britischen Verteidigungsministeriums vom gleichen Tag, ebenso wie die türkische haber7com, online unter https://m.haber7.com/dunya/haber/3224110-putin-serhiy-kisel-ile-igor-osipovu-gorevden-aldi und der britische The Telegraph: James Kilner, Putin purges top generals over failure to capture Kharkiv and Moskva sinking, online unter https://www.telegraph.co.uk/world-news/2022/05/19/putin-purges-top-generals-failure-capture-kharkiv-moskva-sinking/.  Die Schreibweise des Namens ist falsch, sie entspricht der ukrainischen Schreibweise des russischen Vornamens Sergey. Das britische Verteidigungsministerium und Teile der westlichen Presse haben offensichtlich ungeprüft die Schreibweise aus einer ukrainischen Quelle übernommen. Das ist bestenfalls als unprofessionell zu bezeichnen. 
  18. Der sowjetisch-finnische Winterkrieg wird in der Geschichtsschreibung vollkommen gegensätzlich bewertet: Während in der sowjetischen Geschichtsschreibung  das sowjetische Vorgehen als legitime Handlung zur Sicherung der Lage Leningrads bezeichnet wird, betrachtet die finnische und die westliche Historiografie den Angriff der Sowjetunion als Ausdruck einer imperialistischen Politik Stalins. Ursprünglich hatte der Chef des Generalstabs der Roten Armee, Marschall Boris Shaposhnikov, eine mehrmonatige Operation unter Einsatz des Gros der Roten Armee geplant. Der Befehlshaber des Leningrader Militärbezirks General Kirill Meretskov hingegen hielt eine wenige Wochen dauernde Operation mit den Truppen des Leningrader Militärbezirks für ausreichend. Stalin war nicht bereit, das Gros der Roten Armee einzusetzen. Nach ersten Misserfolgen im Dezember 1939 konnte die Rote Armee im Februar 1940 nach umfassenden Umgruppierungen und Verstärkungen den Kampf für sich entscheiden. Am 13. März 1940 endete der Krieg mit dem Friedensvertrag von Moskau. Für eine kurze Darstellung siehe Benjamin Fredrich: Die Sonderstellung Finnlands während des Zweiten Weltkriegs, bei eKRITIK.de, online unter http://www.ekritik.de/html/die_sonderstellung_finnlands_w.html
  19. Dabei handelt es sich offenbar um den nordkoreanischen Panzerjäger „Bulsae-4“. Siehe „Северокорейская ракетнаясистема «Булсае-4» впервые замечена на Украине?“ bei Техника и Механика, auf YouTube, 31.07.2024, online unter https://www.youtube.com/watch?v=umjhCgR_M0g, in russischer Sprache. Vgl. “ North Korean Bulsae-4 Anti-Tank Missile Vehicle Reportedly Spotted in Ukraine for First Time„, bei Armyrecognition, 30.07.2024, online unter https://armyrecognition.com/news/army-news/army-news-2024/north-korean-bulsae-4-missile-system-reportedly-spotted-in-ukraine-for-first-time
  20. Siehe „Leopard-Panzer an der Grenze der Geografie“, bei Global Bridge, 31.01.2023, online unter https://globalbridge.ch/leopard-panzer-an-der-grenze-der-geografie/
  21. Vgl. „Peking ergreift die Initiative im Ukraine-Konflikt“, bei Global Bridge, 27.02.2023, online unter https://globalbridge.ch/peking-ergreift-die-initiative-im-ukraine-konflikt/.