Das Ende Berg-Karabachs: ein beklemmender Präzedenzfall
Die gewaltsame Vertreibung der Bevölkerung aus Berg-Karabach findet begeisterte Nachahmer im Nahen Osten. Ein Rückblick.
Im Zentrum der armenischen Hauptstadt Jerewan erinnert nichts an die grosse Flucht vom letzten September, als über hunderttausend traumatisierte Menschen aus Berg-Karabach in Armenien Zuflucht suchten: Man sieht keine Flüchtlinge, die an Strassenrändern die Passanten um einen Gefallen bitten, keine Zelte, keine ausserordentlichen Zeichen der Not. Tagsüber wirkt der weitläufige «Platz der Republik» ausgelassen – wie schon seit je: Im Park neben dem Regierungsgebäude nippen Studenten an ihrem Kaffee oder tanzen beschwingt nach den Klängen ihrer Smartphones. Ältere Damen und Herren suchen sich laut gestikulierend sonnige Ecken aus, während junge Mütter ihren Kleinen zärtlich mahnend nachrennen. Ein Strassenmusikant zaubert aus seinem selbstgebauten, aus Glasflaschen in unterschiedlichsten Grössen bestehenden Instrument Melodien und versetzt die Zuschauer ins Staunen. «Es sind die Nächte, die wir nicht ertragen», sagt der armenische Autor Grigor Shashikyan. «Trauer und Traumata holen uns dann ein; und dieses Gefühl der ständigen Bedrohung».
Flucht durch ein ethnisch gesäubertes Gebiet
Die Geschichte der Armenier ist reich an Traumata von Vertreibung und Mord; der Konflikt um Berg-Karabach bildet dabei das aktuellste. «Ich werde mein Leben lang meine Augen hassen, weil sie Zeugen wurden von einem Berg-Karabach ohne Armenier», sagt Pater Derenik Sahakyan. Bis Ende letzten Septembers war der 35-jährige Pater Abt in Berg-Karabachs berühmtem Kloster «Dadivank» aus dem 16. Jahrhundert, das er liebevoll «unsere Aghia Sofia» nennt. Im Krieg von 2020 war das Kloster zwar unter Kontrolle der Aserbaidschaner geraten. Dank einer Intervention des russischen Patriachen Kyrill durften Pater Derenik und zwei Diakonen aber weiterhin Messen in Dadivank halten. Noch wurden Kloster und Geistliche von ein paar Soldaten der russischen Friedenstruppen beschützt. Dank diesen Soldaten gelang den drei Geistlichen in letzter Stunde auch die Flucht nach Armenien.
Das war am 1. Oktober. «Nachts kehren die Bilder unserer Flucht wie ein nie endender Albtraum zurück», erzählt er: «Die menschenleeren Dörfer und die gespenstige Stille unserer so quirligen Hauptstadt Stepanakert, die allein vom Gejaul hungernder Hunde gebrochen wurde; dann der Latschin-Korridor, der voll war von verlassenen Kleiderstücken, Koffern und Menschenleichen». Pater Derenik und seine Diakone dürften die letzten Armenier gewesen sein, die Berg-Karabach über den Latschin-Korridor verlassen haben, bevor Aserbaidschan aus dieser Route jegliche Zeichen der chaotischen Flucht hat räumen können. «Hundert Jahre nach dem ersten Genozid an den Armeniern darf der Armenier in seinen eigenen Kirchen wieder nicht beten, in seinem eigenen Haus nicht schlafen; und er wird aus seiner Urheimat erneut vertrieben». Auf Verordnung der Jungtürken kamen zwischen 1915 und 1920 von den einst 2,2 Millionen Armeniern des Osmanischen Reichs über 1.2 Millionen ums Leben; die übrigen wurden vertrieben. Die jahrtausendalte armenische Kultur war aus Anatolien ausgelöscht. Es handelte sich um den ersten Genozid im 20. Jahrhundert von einem so erschreckendem Ausmass. Die Verzweiflung Pater Dereniks ist abgrundtief.
Ist ein Frieden möglich?
Der aktuelle Konflikt um Berg-Karabach, um eine kleine, wasserreiche Region mit weichen Hügeln am Fusse des Kleinen Kaukasus, geht auf die Ära kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1988 zurück. Die Frage, ob die 150’000 Armenier Berg-Karabachs das Recht hätten, wie jede andere post-sowjetische Nation über ihr Schicksal selber zu bestimmen, heizte die Gemüter in Aserbaidschan und Armenien an. Die Armenier, die seit je in Berg-Karabach über 80 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten, forderten ihre Unabhängigkeit von Aserbaidschan und wurden dabei vom Mutterland Armenien unterstützt. Aserbaidschan bestand jedoch auf seine territoriale Integrität; Josef Stalin hatte in seiner «Teile-und-Herrsche»-Manie 1921 Berg-Karabach Aserbaidschan zugeschlagen. Aserbaidschanische Truppen belagerten die aufmüpfige Region, liessen keine Nahrung und keinen Treibstoff mehr durch und lösten damit den ersten, grossen Krieg um Berg-Karabach aus.
Im ersten Krieg konnten die Armenier den Sieg für sich erringen: Anfang der 1990er Jahre hatten sie Berg-Karabach unter ihrer Kontrolle gebracht – aber auch sieben um Berg-Karabach liegende Provinzen Aserbaidschans, aus denen sie die aserbaidschanische Bevölkerung gnadenlos vertrieben. Sie gründeten auf Berg-Karabach ihren de-facto-Staat, der 30 Jahre lang überlebt hatte, aber von keinem einzigen Land, nicht mal von Armenien, anerkannt wurde.
Im Jahr 2003 wurde Ilham Alijew zum Präsidenten Aserbaidschans gekürt, und er versprach seinem Volk Rache. Im Herbst 2020 schlug Aserbaidschan tatsächlich mit aller Härte zurück. Im ersten Drohnenkrieg der Weltgeschichte haben Alijews Truppen sämtliche von den Armeniern besetzte Gebiete zurückerobert; in Bergkarabach konnten sie ferner die armenische Armee buchstäblich vernichten – fortan war Armenien Aserbaidschan wehrlos ausgeliefert. Aus der nie anerkannten de-facto-Republik Artsakh blieb ein Rumpfstaat zurück, in dem sich rund Hunderttausend Menschen aufhielten. Am 19. September 2023 verordnete Alijew den bislang letzten Krieg um Berg-Karabach, den dritten in drei Jahren gegen seinen wehrlosen Nachbarn.
Auf sich allein gestellt
Als der Krieg begann, ahnte Artak Beglaryan, dass Berg-Karabach diesmal von niemandem Hilfe erwarten konnte: «Nicht von Russland, das sich beim Waffenstillstand 2020 vertraglich verpflichtet hatte, für den Schutz Berg-Karabachs zu stehen, das aber die Seiten längst gewechselt und nun als teilnahmsloser Zuschauer auftrat», sagt der junge, hagere Mann und wirkt beinah gebrechlich. «Auch vom Westen nicht, hatten die EU und die USA Berg-Karabach doch zur internen Angelegenheit Aserbaidschans deklariert. Und schliesslich auch nicht vom Mutterland Armenien; Jerewan hoffte, mit Zugeständnissen in der Berg-Karabach-Frage dem Westen entgegenzukommen und Alijews Expansionshunger zu stillen und bekannte sich lediglich zum Schutz des eigenen Territoriums», erläutert Beglaryan desillusioniert. Beglaryan, der in Berg-Karabach diverse offizielle Posten bekleidet hatte, bevor er Ombudsmann für Menschenrechte wurde, sagt: «Wir waren verzweifelt».
Die humanitäre Lage in Berg-Karabach mutete letzten Sommer auch ohne Krieg hoffnungslos an: Aserbaidschan hatte Berg-Karabach seit Juni vollständig belagert und liess keine Nahrungsmittel, keinen Treibstoff, keine Medikamente mehr durch. Es war, so Beglaryan, der langsame, sichere Weg, die Menschen massenhaft umzubringen. Im August machte sich Hunger breit. Zwei Beschlüsse des Internationalen Gerichtshofs, dem Leid der Menschen ein Ende zu setzen, hat Alijew demonstrativ ignoriert, und drei ausserordentliche Sitzungen im Sicherheitsrat der UNO in Bezug auf Berg-Karabach wurden mal von Russland, dann von den USA blockiert. Die Weltgemeinschaft schien die Aushöhlung ihrer wichtigsten internationalen Organisationen widerstandslos hinzunehmen.
Ein perfekter Plan zur Demoralisierung
Der Krieg vom 19. September lief laut Beglaryan geschmiert wie nach einem «perfekten Plan zur Demoralisierung der Zivilisten, einem perfekten Plan, um die Region von Armeniern zu entvölkern». Bereits am ersten Tag hätten demnach rund 20.000 eingeschüchterte Flüchtlinge die Hauptstadt erreicht; auf ihrem Weg erzählten sie Gräuelgeschichten von Mord in ihren Dörfern und von entköpften Kinderleichen und schürten pure Angst. Zeitgleich machten in aserbaidschanischen Sozialen Medien Berichte die Runde, wonach die aserbaidschanischen Soldaten jene Männer verhaften würden, die in den Kriegen gegen Aserbaidschan teilgenommen hatten – für Berg-Karabach bedeutete dies faktisch alle erwachsene Männer: «In Panik setzten unzählige ihre Dokumente in Brand. Dann wurde die Elektrizitätsversorgung ganz gedrosselt. Ohne Elektrizität gab es keinen Internet-Anschluss mehr, die Kommunikation brach zusammen. Für vier lange Tage konnten die Menschen ihre Liebsten telefonisch nicht erreichen, die Mütter nicht ihre Söhne und Kinder finden, niemand wusste, wer überhaupt den Krieg überlebt hatte. Vier lange Tage irrten immer mehr interne Flüchtlinge schutzlos in den Strassen herum, während die verzweifelte Stadtbevölkerung in den Kellern ohne Nahrung, ohne Brennstoff, ohne Kommunikation, ohne Hoffnung ausharrte».
Als Aserbaidschan am 24. September den Latschin-Korridor öffnete, floh die gesamte Bevölkerung von über 100’000 Menschen innerhalb einer knappen Woche nach Armenien. Die Geschichte kennt manche Beispiele ethnischer Säuberungen. Selten wurde aber eine in so kurzer Zeit vollzogen wie in Berg-Karabach. Alijew sprach von einer «freiwilligen Abwanderung der Armenier». Die EU hüllte sich in Schweigen.
Triumph der westlichen Diplomatie?
Dabei sollte ausgerechnet ein von der EU-Ratspräsidentschaft initiierter und von den USA unterstützter Friedensplan den 30-jährigen Konflikt im Südkaukasus spätestens Ende 2023 lösen. Diesem Plan nach sollten Armenien und Aserbaidschan gegenseitig die territoriale Souveränität und Integrität ihrer Staaten auf der Grundlage der Grenzen der ehemaligen Sowjetrepubliken anerkennen. Berg-Karabach, der eigentliche Kernkonflikt der verfeindeten Nachbarn, wurde bewusst ausgeklammert, strebten die euroatlantischen Partner doch seine Wiedereingliederung in den aserbaidschanischen Staat auf dem Verhandlungsweg mit Garantien für die Rechte und Sicherheit der armenischen Bevölkerung an.
Im Oktober 2022 haben Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew und der armenische Premier Nikol Paschinjan auf dem EU-Gipfel in Prag den EU-Friedensplan akzeptiert. Auf ihren Treffen im Mai und Juli 2023 in Brüssel bestätigten beide nochmals ihre Unterstützung für den Brüsseler Friedensplan. Planungsgemäss sollte dieser Ende 2023 in Brüssel oder Washington unterzeichnet werden und den «Triumph der westlichen Diplomatie im Südkaukasus mit weniger Russland und Iran besiegeln», kommentierte Benyamin Poghosyan, der in Jerewan das renommierte «Center for political and economic strategic Studies» führt, sarkastisch. «Hat Ilham Alijew den Westen in die Irre geführt, um die Armenier aus Berg-Karabach ohne Widerstand des Westens vertreiben zu können?» Oder haben die westlichen Partner vielmehr die ethnische Säuberung Berg-Karabachs kühl in Kauf genommen, um Aserbaidschan nicht zu verstimmen und den Despoten Alijew für ihren Friedensplan zu gewinnen, wie Artak Beglaryan glaubt?
Was auch zutreffen mag: Ilham Alijew hat nach der ethnischen Säuberung Berg-Karabachs sein Interesse am Westen verloren und hat geplante Treffen in Granada, Brüssel und Washington abgesagt. Oft spricht er nun von der destruktiven Rolle der westlichen Mächte in der Region und tritt dafür ein, «lokale Probleme durch lokale Mächte zu lösen». Entgegen seinen Beteuerungen, die territoriale Integrität Armeniens zu anerkennen, hält seine Armee nach wie vor armenisches Territorium besetzt. Und ein Ende seiner Forderungen nach mehr Zugeständnissen von seinem wehrlosen Nachbar ist nicht in Sicht: Anstatt in Brüssel oder Washington den hoch gepriesenen euro-atlantischen Friedensplan zu unterzeichnen, bezeichnet er die Errichtung eines Korridors auf südarmenischem Staatsgebiet als eine «strategische Angelegenheit». Wird der Westen im anbrechenden Jahr den Verlust mehr armenischen Territoriums genauso passiv hinnehmen, wie im Jahr 2023 die ethnische Säuberung Berg-Karabachs?
«Die gewaltsame Auflösung Berg-Karabachs wird noch jahrelang im armenischen Bewusstsein präsent sein und auch in anderen Konflikten zwischen Mehrheits- und Minderheitengruppen auf der ganzen Welt nachhallen», mahnt der belgische Wissenschaftler Laurence Broers, einer der führenden Experten für den ex-sowjetischen Raum. Tatsächlich muss Armenien sich damit abfinden, dass es geostrategischen Interessen der Großen schutzlos ausgeliefert ist: sein strategischer Partner Russland hat 2020 die Seiten gewechselt. Wladimir Putin hofft damit, die Türkei gegen die NATO ausspielen zu können und braucht zudem die Pipelines über Aserbaidschan, um russisches Erdgas zu den Weltmärkten zu bringen. Die USA haben nach der ethnischen Säuberung Berg-Karabachs kurz protestiert, wollen ihre Beziehungen mit dem allmächtigen Alijew aber nicht verderben. Und die EU?
«Zwangsumsiedlungen sind als schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts strengstens verboten» kritisierte jüngst EU-Chefdiplomat Joseph Borrell die Politik Israels in Gaza. In Israel plädieren rechtsextreme Teile der Regierung Netanyahu offen für eine israelische Wiederbesiedlung des Gazastreifens, möglicherweise auch Westjordanlands und sprechen nach dem Beispiel Aserbaidschans von einer «freiwilligen Abwanderung» der Palästinenser. Auch sie setzen die Politik des Aushungerns fort. Die gewaltsame und im Stillen geduldete Tragödie Berg-Karabachs hat ganz offensichtlich einen beklemmenden Präzedenzfall geschaffen.
Siehe dazu: Einmal mehr siegt die nackte Gewalt (von Amalia van Gent)