Alexander Lukaschenko, langjähriger Präsident von Belarus, vom kollektiven Westen seit den Protesten nach den Wahlen 2020 nicht mehr als legitimer Präsident von Belarus anerkannt. (Foto Maxim Guchek / BelTA / TASS)

Brief aus Moskau – warum Russen und Belarussen einander mögen

(Red.) Gerade in den letzten Tagen war in den westlichen Medien wieder viel von Alexander Lukaschenko die Rede, und natürlich wurde er unisono als Diktator und Putin-Vasall verurteilt. Aber was halten die Russen in Moskau von Lukaschenko? in der Covid-Pandemie-Zeit zum Beispiel führte er sein Land ja ganz anders als Moskau oder etwa die EU, praktisch ohne staatliche Vorschriften. Globalbridge.ch fragte Stefano di Lorenzo, was der „Mann von der Straße“ in Moskau von Belarus und seinem Präsidenten hält. (cm)

Russland und Belarus sind zwei wichtige Verbündete, das ist einfach eine Tatsache. Einerseits ist es natürlich nicht immer richtig, Betrachtungen über die Beziehungen zwischen zwei Ländern und zwei Völkern nur auf die Ebene offizieller und institutioneller Beziehungen zu reduzieren. Andererseits ist es im Falle Russlands und Belarus heute sehr schwierig, die Ebene der großen Politik wegzulassen. Politische Figuren wie Putin und Lukaschenko dominieren die kollektive Vorstellung derart, dass sie unweigerlich prägen, was Russen und Belarussen voneinander denken und wie sie einander verstehen.

Nach dem kurzen und gescheiterten Aufstandsversuch einiger Mitglieder der Wagner-Privatmiliz vor einigen Wochen in Russland, der laut Angaben dank der Vermittlung des belarussischen Präsidenten Lukaschenko beigelegt werden konnte, sind die Beziehungen zwischen Russland und Belarus wieder zu einem wichtigen Thema geworden.

Aber was denken die „normalen“ Russen über Lukaschenko und über Belarus im Allgemeinen? In einer großen Umfrage des russischen Umfrage-Instituts «Levada Center» äußerte sich vor einigen Jahren die Mehrheit der Russen, nämlich 57 Prozent, positiv zu Lukaschenko. Das war zu einer Zeit, in der Lukaschenkos Macht nach den Wahlen 2020 und den darauffolgenden Protesten, die von den europäischen und amerikanischen „Freunden“ des belarussischen Volkes wärmstens ermutigt wurden, ins Wanken zu geraten schien. Hat sich die Haltung der Russen gegenüber Lukaschenko heute, fast drei Jahre später, nun aber verändert? In einer neuen Umfrage, die erst vor wenigen Wochen geführt wurde, äußerten 70 Prozent der Befragten ihre Zustimmung zum belarussischen Präsidenten. Die Russen scheinen Lukaschenko also wirklich zu mögen.

Die 1990er Jahre der Privatisierungen hat Belarus besser überstanden

Traditionell wird Lukaschenko, insbesondere von der älteren Generation, gelobt, weil er positive Elemente der sowjetischen Industrie und des Wohlfahrtsstaats in der belarussischen Wirtschaft zu bewahren wusste. Und vor allem auch, weil dank ihm die brutale Privatisierung der 1990er Jahre in Russland unter Präsident Boris Jelzin und auch in der Ukraine, die die Entstehung einer allmächtigen Oligarchie auf Kosten einer verarmten Bevölkerung begünstigt hatte, in Belarus vermieden wurde. Die Russen, insbesondere diejenigen, die in den 1990er Jahren bereits einen bestimmten Wissensstand hatten und die das Chaos dieser Jahre gut in Erinnerung haben, wissen solche Dinge heute noch zu schätzen. 

Darüber hinaus scheint es für Russen sehr wichtig zu sein, was auch sehr verständlich ist, wie ein bestimmtes Land zu Russland steht. Unter der Führung von Präsident Lukaschenko konnte Belarus im Gegensatz zu vielen anderen Ländern konstruktive, freundschaftliche Beziehungen zu Russland pflegen. Das ist ein Verdienst, das die Russen sehr zu schätzen wissen.

Unabhängig von der Politik gilt Belarus für die Russen liebevoll als Nachbarland in Kultur und Geschichte und gelten die Belarussen im Allgemeinen als brüderliches Volk. Zwei Völker, die dieselbe Sprache sprechen und im Guten wie im Schlechten zumindest zwei Jahrhunderte Geschichte und Kultur miteinander geteilt haben.

Allerdings scheint diese Nähe nicht von allen geschätzt zu werden. Es ist schwer vorstellbar, was in einer gepflegten Brüderlichkeit bösartig sein könnte. Doch viele Europäer – ganz zu schweigen von den Amerikanern – scheinen heute zutiefst irritiert zu sein, wenn Russen und Belarussen als „Brudervölker“ bezeichnet werden. Das sehr humanistische Europa hat oft versucht, den Samen des antirussischen Nationalismus auch in Belarus zu streuen. Es mag paradox erscheinen, dass das heutige Europa, ein politisches Gebilde, das äußerst stolz darauf ist, die nationalen Egoismen angeblich überwunden zu haben, in anderen Ländern außerhalb der Europäischen Union einen atavistischen, überholten Nationalismus fördert. Dabei handelt es sich allerdings nur scheinbar um einen Widerspruch. Um die Logik dahinter zu verstehen, muss die Befreiungsrhetorik in der großen Politik nicht immer ganz wörtlich interpretiert werden.

Man denke an die herdersche Romantik, an die Nationalpolitik in der multikulturellen Österreichisch-Ungarischen Monarchie, wo Völker oft gegeneinander ausbalanciert wurden, bis hin zum Wilhelminischen Reich und dem letzten Deutschen Reich in den zwei Weltkriegen. Europa, insbesondere das germanische Europa, hat oft nicht allzu versteckte Versuche unternommen, in Ländern wie Belarus, der Ukraine und auch in den baltischen Staaten, einen veralteten, unzeitgemäßen Nationalismus zu fördern. In Ländern also, die seit Jahrhunderten politisch in den russischen Einflussbereich einbezogen waren. Es ist eine Art Drang nach Osten, der sich in dem Wunsch nicht nur der NATO, sondern auch der Europäischen Union zeigt, nach einer Expansion in Richtung Ukraine. Als ob dies das einzig mögliche offenkundige Schicksal wäre, das von den unwiderstehlichen Kräften der Geschichte angeordnet wurde.

Ein Blick zurück

Hier ist ein kleiner historischer Exkurs notwendig. Sowohl Belarus als auch die Ukraine – oder besser gesagt die Bevölkerung der Gebiete, die heute als Belarus und Ukraine bekannt sind – teilen eine gemeinsame Vergangenheit in der alten Rus vom 10. bis 13. Jahrhundert. Danach gehörten diese Gebiete zum Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen bis 1795. Man nehme dieses Datum allerdings rein zur Vereinfachung. Der Prozess der Auflösung von „Großpolen“ dauerte fast 150 Jahre und die Gebiete, die Polen verlor, wurden nach und nach in das wiederauferstandene Russische Reich eingegliedert.

Es ist aber extrem wichtig zu verstehen, dass, im Gegensatz zu der Auffassung von einem altertümlich-romantischen Nationalismus, der von Europa und dem Westen in den Nachbarländern Russlands propagiert wird – in Europa selbst wird jede Manifestation des Nationalismus sofort und mit großer, demonstrativer Empörung abgelehnt – nationale Identitäten nicht für immer und ewig festgelegt sind. Nationen sind keine platonischen Ideen, die außerhalb der Zeit und der Geschichte leben. Nationen entwickeln sich im Laufe der Jahrhunderte. Nationale Identitäten werden geformt und oft findet diese Gestaltungsarbeit nicht auf der Ebene des Bewusstseins einer Person oder von Gruppen statt. Dann kommt es oft vor, dass eine neue nationale Identität, die größtenteils das Produkt konkreter politischer Umstände und kultureller Entscheidungen einer kleinen Gruppe von Menschen ist, zu einem metaphysischen Prinzip erhoben wird, auf dem die Identität eines ganzen Volkes basieren muss. Man wird dann zuerst Pole, Belarusse, Lette, Este, Deutscher oder Ukrainer, zum Beispiel, und erst danach Bürger und Mensch. Als ob das Nationalgefühl das Wichtigste an einem Menschen wäre. Dies ist oft die Ursache blutiger Konflikte. Die Geburt einer nationalen Identität ist, wie die Geburt eines Neugeborenen, ein Moment extremen Schmerzes.

Veränderte Landkarte

Im Jahr 1795 sah die Europakarte deutlich anders aus als das heutige Europa. Doch niemand in Europa würde denken, dass Schleswig zu Dänemark zurückkehren sollte, oder Rügen zu Schweden, um historisches Unrecht auszugleichen. Die Europäische Union finanziert in Flensburg oder Kiel keine Dänischkurse, um das dänische Nationalgefühl zweier Städte wiederzubeleben, die unter der Unterdrückung eines fremden und feindlichen Deutschen Reiches gelitten haben sollen. Doch genau das tut Europa in Belarus, so wie es auch in der Ukraine gemacht wurde, und fördert so die Spaltung zwischen zwei sehr nahestehenden Völkern. Dass die Ergebnisse dieser Politik in der Ukraine katastrophal sind, spielt keine Rolle. Das Wichtigste ist, seine eigenen Werte zu projizieren. Oder man erweitert, unter dem Vorwand, seine universalen und unbestreitbaren Werte einzubringen, seinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Selbst um den Preis, Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte und die Beziehungen zwischen zwei Völkern zu vergiften.

Russen und Belarussen teilen mindestens zwei Jahrhunderte gemeinsame Geschichte – ihre neueste Geschichte, wenn wir das Jahr 1795 als Datum der Wiedervereinigung zwischen Russland und Belarus nehmen wollen. Viele Gebiete des heutigen Belarus gehörten nämlich schon früher zum Russischen Reich. Aber so oder so zwei Jahrhunderte Geschichte, die die Identität und Kultur zweier Völker geprägt haben, durch die Schaffung einer gemeinsamen literarischen Sprache und einer gemeinsamen Kultur. 

Viele Menschen in Belarus wurden, wie die Proteste im Jahr 2020, aber auch einige andere soziale Ereignisse schon davor zeigten, vom neuen „Geist der Nationalisierung“ der belarussischen Gesellschaft beseelt, um sich von der russischen „Vasallenschaft“ zu emanzipieren. Unter ihnen viele junge Menschen, an die sich verschiedene europäische und amerikanische sogenannte Nichtregierungsorganisationen – NGOs – oft direkt wenden, um das Gewissen dieser neuen „Freiheitskämpfer“ zu formen. Es ist bekannt, dass junge Menschen, trotz ihrer zutiefst jugendlichen, eisernen Überzeugung, absolut immun gegen jede Art von Manipulation und Konditionierung zu sein, sehr leicht beeinflussbar und erregbar sind. Doch nachdem die jugendliche Aufregung und die Aufstände des Jahres 2020 wieder zur Ruhe gekommen sind, bleiben Belarus und Russland Länder, die freundlich und treu zueinander sind. Die Tage der Revolutionen bleiben für viele Menschen denkwürdige und aufregende Tage, aber wenn der Normalzustand zurückkehrt, dann siegen wieder Vernunft und Pragmatismus, und diese schaffen für beide Seiten vorteilhafte und friedliche Beziehungen.

Zumindest will man das so hoffen.


Zum Autor: Stefano di Lorenzo ist 1982 in Milano geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist dann nach Deutschland umgezogen, wo er in Berlin zusätzlich Amerikanistik mit Schwerpunkt Wirtschaft und Politik studiert hat. Heute lebt er in Moskau und erlebt vor Ort, wie der kollektive Westen mit allen Mitteln versucht, Russland schlecht zu reden.