Wladimir Putin hält am 25. September 2001 im Deutschen Bundestag eine Rede – zu einem guten Teil sogar in deutscher Sprache. (Bild Archiv Bundestag)

Brief aus Moskau – heute zu Macht und Moral

(Red.) Westliche Polit-Kommentatoren sagen oft, es sei unsinnig, russisches Radio zu hören oder russisches Fernsehen zu schauen. Was dort gesagt werde, sei eh nur Propaganda im Sinne des Kremls. Um so wichtiger ist es, auch andere Stimmen aus Moskau oder auch aus Petersburg zu vernehmen – als Beispiele genannt seien in deutscher Sprache etwa die Plattformen «Anti-Spiegel», herausgegeben von einem Deutschen, Thomas Röper, oder die «Stimme aus Russland», herausgegeben vom Schweizer Peter Hänseler. Auch die von der Plattform «Seniora.org» regelmäßig ins Deutsche übersetzten Artikel von Gilbert Doctorow, der halbzeitig in Brüssel, halbzeitig in Petersburg lebt, müssen da erwähnt werden. Hier geben wir einem in Moskau lebenden Italiener das Wort, der einen Blick auf die westliche Moralisiererei wirft. (cm)

Noch ein Sonntag, noch eine Sonntagspredigt von dem «Guardian»-Pastor Simon Tisdall. Der britische Journalist hatte vor ein paar Wochen die Entsendung von NATO-Truppen in die Ukraine gefordert – als wollte er dem Wunschdenken ein Ende bereiten, der Westen sei noch nicht Teil des Krieges zwischen der Ukraine und Russland. Diesmal schreibt Herr Tisdall, die Ukraine wolle, dass sich Putin in seinem Sarg umdreht, gequält, ohne jede Möglichkeit eines Freispruches, dass er für die Ewigkeit verdammt wird – und dass die Ukraine dabei für die gesamte westliche Welt sprechen könne.

Sadistische Fantasien dieser Art über den Tod und das Leiden eines Tyrannen können bei jenen Leuten entschuldigt werden, die ihre Stadt durch Bomben zerstört sehen. Sie befinden sich, verständlicherweise, ja in einem Affektzustand. Aber es ist überraschend, dass diese Art von Bildern in den Kolumnen einer der großen westlichen Zeitungen verwendet wird. Vor allem, wenn es sich um eine Zeitung handelt, die den Ruf hat, die Zeitung für ein gebildetes, humanistisches, gut erzogenes und intellektuelles Publikum zu sein. Und doch ist diese Art der Argumentation, selbst von einer gebildeten, „linken“ und humanitären Öffentlichkeit, wenn man darüber nachdenkt, nicht allzu überraschend.

Traditionell wird davon ausgegangen, dass die heutige westliche Welt von der Erbsünde des Rassismus befreit ist und Rassismus nun als eines der schlimmsten aller Übel ansieht. Toleranz und Offenheit gegenüber der Welt werden im heutigen Westen ständig als höchste Tugenden propagiert, Tugenden, ohne die ein moralisches Leben unmöglich ist. Im Namen dieser Tugenden, der vielbeschworenen „westlichen Werte“, behauptet der Westen, nachdem er die abscheuliche Idee des biologischen Rassismus beiseitegelegt hat, weiterhin seine Überlegenheit, seine außergewöhnliche Position, seine Moral gegenüber dem Rest der Welt, sei es nun Russland, China, Indien, Südafrika oder Brasilien. Der heutige westliche Bürger muss sich, wenn er in der Gesellschaft respektabel und vorzeigbar erscheinen will, öffentlich zu den Werten des Multikulturalismus und der Toleranz bekennen. Aber nichts hindert ihn daran zu glauben, die „westlichen Werte“, die eine wirklich menschliche und respektvolle Gesellschaft erlauben, seien nur und ausschließlich im Westen möglich. 

Wenn wir unter Rassismus nicht nur biologischen Rassismus verstehen, sondern ganz allgemein eine grundsätzliche Ablehnung der Standpunkte anderer im Namen „unserer“ Überlegenheit, ist es schwer, nicht zu erkennen, wie sich die westliche Welt heute, insbesondere in der großen geopolitischen Arena der Welt, zutiefst rassistisch verhält: Der Westen hat Recht. Wer nicht auf unserer Seite ist, ist nicht nur gegen uns, sondern auch gegen die heiligen Prinzipien der Freiheit und Demokratie.

Hierin liegt ein weiterer Fehler, der im westlichen Diskurs heute gerne begangen wird, nämlich die moralische Ebene eines Konfliktes oder Krieges mit der Realitätsebene der Geopolitik der internationalen Beziehungen zu verwechseln. Es gibt natürlich einen realistischen Ansatz in der Erforschung der internationalen Beziehungen, der beispielsweise durch den prominenten Forscher John Mearsheimer vertreten wird. Leider wurde dieser Art von „realistischem“ Ansatz in den letzten Jahren, insbesondere seit 1989, nicht allzu viel Bedeutung beigemessen. Die Euphorie des unipolaren Moments nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat dazu geführt, dass sich der Westen hochmütig in seiner Macht und in sich selbst verliebt fühlt. Realismus galt als zynisch. Die amerikanische Machtelite hatte eindeutig eine andere Vorstellung von Realismus, wie einer der Berater von US-Präsident George Bush Sohn, Karl Rove, es meisterhaft ausdrückte: „Wir sind jetzt ein Imperium, wir erschaffen unsere eigene Realität.“

Wenn heute jemand versucht, den russisch-ukrainischen Konflikt, faktisch einen Krieg zwischen dem Westen und Russland auf ukrainischem Boden, aus geopolitischer Sicht zu analysieren, wird ihm heftig vorgeworfen, die russische Aggression zu rechtfertigen. Die Ukraine kann nur ein absolut unschuldiges Opfer sein. Der Westen kann nur der universelle Wohltäter sein. Die einzig akzeptable Erklärung für die Interpretation von Krieg ist das moralische Narrativ. Das Narrativ, das einen Tyrannen als verrückt, krank, paranoid, aggressiv und gewalttätig gegen die gesamte zivilisierte Welt darstellt. Ein Tyrann, der so handelt, nur weil er von Natur aus verrückt und aggressiv ist. Es ist eine Interpretation, die von unseren Journalisten und Politikern ständig wiederholt wird und die vielen europäischen und amerikanischen Bürgern das Herz erwärmt: „Ach, was für ein Glück, die einzig wahren moralischen Menschen in einer so brutalen und barbarischen Welt zu sein!“

Es ist aber schlicht unglaublich, dass es nach der Invasion des Irak im Jahr 2003, die zum gewaltsamen Tod von einer halben bis einer Million Irakern führte, immer noch so viele Europäer und Amerikaner gibt, die fest von der Außergewöhnlichkeit des westlichen Humanismus überzeugt sind und die gar keinen Zweifel an diesem sektiererischen Glauben haben. Saddam war sicherlich ein gewalttätiger Diktator, aber der „Krieg zur irakischen Befreiung“ hat das Leben der irakischen Bevölkerung sicherlich nicht verbessert. Das Gleiche gilt für Gaddafis Libyen, das nach der Absetzung des Autokraten in ein jahrzehntelanges Chaos gestürzt ist. Der Ausruf mit dem ekstatischen Blick der damaligen Außenministerin Hillary Clinton „Wir kamen, wir sahen, er starb“ sollte klar bezeugen, dass jenseits der Rhetorik moralischer Erwägungen das eiserne Gesetz der Macht auch für den Westen, der angibt, an der zynischen Welt der Geopolitik nicht interessiert zu sein, die grundlegende Logik bleibt. Leider scheinen viele Westler fest davon überzeugt zu sein, dass die Menschen im Rest der Welt einfach zu dumm sind, um diese Dinge zu sehen.

In der Welt der physischen und geografischen Realität, in einer Welt, in der sich Atommächte mit großen Armeen, hochmodernen Waffen, Flotten und Geheimdiensten gegenüberstehen, wird die Moral oft – allzu oft – der Macht untergeordnet. Es ist einfach eine Tatsache. In einer Welt, in der reine Macht, sei es ökonomische, militärische oder technologische Macht, eine so große Rolle spielt, laufen Personen, Staaten und Allianzen, die nur moralisch handeln wollen, Gefahr, nicht zu überleben. Sie enden wie der hochmoralische Christus am Kreuz oder der hochmoralische Sokrates, der von seiner eigenen Stadt zum Tode verurteilt wird. Es ist sicherlich nicht realistisch, zu erwarten, dass die ganze Welt die andere Wange hinhält und keinen Widerstand leistet.

Putin ist vielleicht kein lupenreiner Demokrat, wie ihn der ehemalige Bundeskanzler Schröder einst nannte. Aber es ist wirklich schwer vorstellbar, dass ein vom Westen unterstützter Tyrannenmord und die danteske Verurteilung Putins, wie sie Herr Tisdall – bequem von seinem Cottage in einem Londoner Vorort aus oder von wo auch immer – befürwortet und worüber auch so viele andere westliche Kommentatoren fantasieren, die Probleme zwischen dem Westblock und Russland lösen würden. 

Sollte Putin abgesetzt werden, wäre Russland destabilisiert, gespalten, um es allgemein auszudrücken, zwischen einer Gruppe von Putin-Anhängern, Menschen, die mit der aktuellen Macht verbunden sind, und einer Gruppe revolutionärer Erneuerer. Wie anpassungsfähig Menschen, die Macht anstreben, auch sein mögen: die unter dem gegenwärtigen russischen Regime lebenden Menschen, die an jahrelange Macht gewöhnt sind, würden diese kaum kampflos aufgeben. Insbesondere wenn der derzeitige russische Präsident mit Hilfe eines fremden Landes gewaltsam abgesetzt werden sollte. Es dürfte dies im Gegenteil das perfekte Rezept für Jahre des Chaos und Bürgerkriegs sein, wie sie 1917 auf die von Deutschland gesponserte bolschewistische Revolution folgten. 

Putins Absetzung wäre keine epische Befreiung von einem Tyrannen. So viel “Menschlichkeit” und “Altruismus” seitens des Westens würden bei vielen noch heftigeren Unmut hervorrufen. Genau wie im Irak, genau wie in Libyen. Vielleicht kann es einigen russischen Experten und Kommentatoren verzeiht werden, wenn sie bei der Lektüre ähnlicher Argumente wie denen von Herrn Tisdall aus London zum Schluss kommen, dass genau das Chaos und die Destabilisierung Russlands die wahren Ziele des immer so moralischen Westens sind.

Putin ist sicherlich kein idealer Politiker – welcher hochrangige Politiker auf dieser Welt ist schon „ideal“? Aber in Russland hat man im Gegensatz zum idealistischen Westen die Lektion von Hobbes gelernt: besser „Diktatur“ als Bürgerkrieg. Aber der heutige Westen, geblendet vom Glauben an seine moralische Überlegenheit, lehnt die Lektion der Geschichte hartnäckig ab. Die Ermordung Caesars führte nicht auf magische Weise zu einer Ära des Glücks und der Gerechtigkeit, wie manche aus Naivität oder Bosheit glauben oder andere überzeugen wollen. Der Mord des „Tyrannen“ löste einen Bürgerkrieg aus, der fast 15 Jahre dauerte und erst endete, als ein neuer starker Mann, der Adoptivsohn von Caesar, Octavian Augustus, der erste römische Kaiser, die Ordnung wiederherstellte. Ohne die realistische Lektion zu verstehen und Scheinheiligkeit beiseite zu lassen, wird der Konflikt zwischen Russland und dem Westen zwangsläufig bestehen bleiben, mit oder ohne Putin.


Zum Autor: Stefano di Lorenzo ist 1982 in Milano geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist dann nach Deutschland umgezogen, wo er in Berlin zusätzlich Amerikanistik mit Schwerpunkt Wirtschaft und Politik studiert hat. Heute lebt er in Moskau und erlebt vor Ort, wie der kollektive Westen mit allen Mitteln versucht, Russland schlecht zu reden.

Zum Aufmacherbild: Wladimir Putin hielt im September 2001 im Deutschen Bundestag in Berlin eine Rede und warb dabei für gute Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Von einem Tyrannen redete damals niemand, im Gegenteil: Die Anwesenden spendeten Putin als Applaus eine Standing Ovation. Gute Beziehungen zwischen Deutschland und Russland waren aber schon damals weder im Interesse der USA noch im Interesse der NATO. Die USA wussten, dass ein Zusammengehen von Deutschland mit seiner Technologie und seiner Industrie und Russland mit seinen unerschöpflichen Bodenschätzen eine Konkurrenz für die USA sein würde, der die USA nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen hatten. Und die NATO, die sich im Gegensatz zum Warschauer Pakt nach dem Kalten Krieg nicht aufgelöst hatte, brauchte zur Selbstlegitimierung einen Feind. Und wer eignete sich dazu besser als Russland? – Das Bild zeigt Wladimir Putin als Redner im Bundestag, seine Rede kann hier abgehört werden. (cm)

Siehe dazu auch: «Der Krieg fiel nicht vom Himmel II. Putins Rede im Bundestag nach 9/11» (von Leo Ensel)