Die Politik des argentinischen Präsidenten Milei scheint die Armen in den Elendsvierteln (Villas) nicht zu treffen: „Die Lebenshaltungskosten sind am Explodieren …“ - „Spielt keine Rolle, wir zahlen weder für Miete und Licht noch für Gas und Wasser“

Argentinien blutet unter der «Kettensäge»

Argentiniens neuer Präsident Javier Milei macht sein Wahlversprechen wahr und baut Wirtschaft und Gesellschaft des krisengeschüttelten Landes radikal um. Seit der Wahl von Milei (mit 56% der Stimmen) im vergangenen November erduldet die Bevölkerung ein soziales und ökonomisches Experiment von gigantischem Ausmass.

Milei will das einst reiche und heute tief verschuldete Land aus der Misere führen, hat aber im Kongress keine politische Mehrheit. Das Parlament bremst ihn denn auch immer wieder aus und verwirft seine umfangreichen Gesetzesvorlagen. Trotzdem kann Milei mit Dekreten seine neue Politik rücksichtslos durchsetzen, wird aber bei wichtigsten Reformen (z.B. Arbeitsrecht) von Gerichten gestoppt.

Ungeachtet des heftigen Widerstands boxt der Präsident seine ultraliberale Reformpolitik durch und privatisiert die Staatsbank sowie Energie- und Transportunternehmen, schließt die Hälfte aller Ministerien (u.a. für Gleichstellung und für Frauen) und baut massiv Subventionen im Kulturbereich ab (z.B. bei der Nationalbibliothek, diversen grossen Theatern und Museen). Auch die Universitäten müssen mit gekürztem Budget weiter funktionieren und die staatliche Medienagentur wird wegen „politischer Parteilichkeit“ ganz weggespart.

Die Folgen dieses dramatischen Kahlschlags mit der „Kettensäge“, wie Milei selbst im Wahlkampf ankündete, sind derzeit verheerend, vor allem für die Bevölkerung mit tieferen Einkommen. Die Preise steigen täglich – für Bus und Bahn, die Mieten, für Strom und Gas sowie das Essen. Die Schlangen vor den Suppenküchen sind auf mehrere hundert Meter angewachsen, die Obdachlosen in den Strassen haben sich sichtbar vermehrt, die öffentlichen Abfallcontainer werden detailliert nach Nahrung und verwertbaren Dingen durchsucht. Mutig springen die Menschen über die Drehkreuze in den Bahnhöfen, ohne Tickets. Die Aufseher schauen weg.

Die Leute können sich immer weniger leisten: Statt überteuerten Kaffee trinkt man jetzt billigen Mate-Tee, Fleisch ist für viele unerschwinglich geworden und gesellige Restaurantbesuche liegen selbst für den untern Mittelstand finanziell nicht mehr drin. 

Die Bevölkerung darbt und zeigt sich geduldig, das liegt an der speziellen Mentalität des argentinischen Volkes, bekannt unter dem Namen „Aguante“ (bedeutet Aushalten, Ertragen). Doch die  Demonstrationen häufen sich, kämpferisch, ohne Gewaltexzesse.Die Polizeipräsenz ist erdrückend stark. Dafür sorgt mit harter Hand Patricia Bullrich, die Ministerin für die nationale Sicherheit. Derweil besänftigt Wirtschaftsminister Luis Caputo im Fernsehen das Volk und verspricht, dass Argentinien in zwei, drei Jahren „über dem Berg“ sei. Ein schwacher Trost, kaum zu glauben. 

Der vorläufige Niedergang nimmt derzeit seinen ungebremsten Lauf. Niemand weiss, wohin die riskante Reise geht. Ausser Präsident Milei. Der rührige Wirtschaftsprofessor ist überzeugt von seinen Theorien, doch stösst er damit auf erbitterte Gegenwehr – im nationalen Kongress (Parlament), bei den regionalen Gouverneuren, den mächtigen Gewerkschaften und bei der starken Frauenbewegung. Milei erweist sich indes als unfähig, Kompromisse einzugehen und pragmatische Verhandlungen zu führen.

Der 53-jährige Staatspräsident tritt auf als sozialer Rüpel, beschimpft das Parlament als „Rattennest“, seine Gegner als Kriminelle. Stets tadellos gekleidet, mit exzentrischer Wuschel-Frisur, pflegt er eine tiefe Beziehung zu seinen fünf geklonten Hunden und seiner einflussreichen Schwester, kurzum: ein unbeirrbarer Narzisst, der den zweitgrössten Staat Südamerikas aus Elend und Armut zu erneuter Grösse und Reichtum führen will. Mit rechts-reaktionärem Ansatz.

Zu diesem Zweck will Milei die „Kaste“ zerschlagen, die das Land in den letzten Jahrzehnten brutal ausgehöhlt und nur in ihre eigene Tasche gewirtschaftet hatte. Der sogenannte Kirchnerismus heuchelte zwar Sympathie für soziale Anliegen, schlussendlich floss das Geld aus Zöllen, Steuern und andern Staatsabgaben jedoch auf die Konten der Elite oder eben der „Kaste“ rund um Cristina Kirchner (Präsidentin 2007-2015, Vizepräsidentin 2019-2023).

Bobos (Bourgeois-Bohemiens) in einem Bistro von Palermo, dem trendigen Stadtteil in Buenos Aires: „Oh, Liebster, köstlich glitschig, diese Austern, wie die Theorien von Milei!“ – „Mnm, Schatz, und mein Tatar schmeckt so vielversprechend wie der Wandel, den wir uns erhoffen …“

Milei spaltet die Gesellschaft

Der dandyhafte Präsident polarisiert. Einerseits nimmt die Armut sprunghaft zu (auf über 50%), weite Teile der Bevölkerung leiden krass unter dem abrupten Wandel. Es fehlt dringend die soziale Absicherung – eine menschenunwürdige Situation!

Anderseits gibt es eine gewichtige Klasse von  Unternehmern, die zusammen mit dem wohlhabenden Mittelstand Mileis Ideen unterstützt und sich mehr unternehmerische Freiheiten mit weniger Abgaben erhofft.

Die makroökonomischen Daten haben sich seit Anfang Jahr effektiv verbessert: Der Peso wurde abgewertet, die Schulden sind dank den Einsparungen gesunken. Im  Januar gab es sogar einen Haushaltsüberschuss (erstmals seit zwölf Jahren), und die Importe haben zugenommen (infolge Wegfalls der hohen Steuern). Eine neue Pipeline aus Patagonien liefert jetzt eigenes, weit billigeres Gas in die Hauptstadt Buenos Aires (bisher aus Bolivien).

Noch funktioniert Mileis Kurs. Der soziale Preis für die ökonomische Rosskur werde aber extrem hoch sein, der Ausgang ungewiss, verkünden täglich Presse und Fernsehen. Die meisten argentinischen Medien sind Lautsprecher der Gewerkschaften oder der abgewählten Kirchneristen und kritisieren Milei auf höchstem Geräuschpegel.

Bestimmt werden unzählige menschliche und kulturell bedeutende Opfer aus wirtschaftlich „unrentablen“ Bereichen zu beklagen sein – aus sozialen Organisationen, Kultur, Bildung und Wissenschaft. Zu hoffen ist, dass schlussendlich die demokratische Vernunft das Land auf eine gesellschaftlich und wirtschaftlich gerechtere und nachhaltige Entwicklung lenken wird.

Argentinien ist ein potenziell reiches Land, auch kulturell. Die Menschen sind fundiert (aus)gebildet, die Jugend digital top, der Boden birgt wertvolle Metalle (Gold, Silber, Kupfer) sowie Lithium und Seltene Erden (u.a. Kobalt), die für die Energiewende und Kommunikationstechnik global unentbehrlich sind. Innovative Spin-offs in Mikrobiologie, Pharmazie, Agrotechnologie und Informatik bieten zukunftsträchtige Perspektiven, auch für ausländische Investoren.

Europa ist derzeit eng fixiert auf die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten. Hunderte Milliarden fliessen in die zerstörerische Rüstungsindustrie, auch in der neutralen Schweiz. Ein Blick über den Atlantik hinunter in den Süden täte der Alten Welt gut. Hier wartet ein friedvolles Land mit interessantem Angebot für neue Handelspartner und Investitionen. Die Volksrepublik China hat diese Chance bereits erkannt und liefert eine beträchtliche Finanzspritze in die hiesige Infrastruktur (Kraftwerke) und Industrie (vor allem Bergbau). Die blockierten Freihandelsabkommen der EU und der Schweiz mit der lateinamerikanischen Wirtschaftsorganisation Mercosur sollten daher möglichst bald ratifiziert werden. Die ökologischen Einwände von Europa sind vorgeschoben, der wahre Grund des Zögerns ist der Widerstand der hoch subventionierten Bauern in Frankreich und der Schweiz.

Besitzstandswahrung und Angst vor Konkurrenz (betreffend Fleisch und andere Agrarprodukte, IT, Medikamente) verhindern gleichwertige Wirtschaftsbeziehungen auf Augenhöhe zwischen Norden und Süd und vergrössern weiterhin die globale Ungleichheit.

Der Autor Beat Gerber lebte kürzlich längere Zeit in Buenos Aires.
(Red.) In Argentinien haben politische Karikaturen eine lange Tradition. Die Zeichnungen demaskieren jeweils scharf die  politische Elite wie auch die privilegierte Prominenz. Gefährlich war diese satirische Kritik während der Militärdiktatur (1976- 1983), Meinungsfreiheit gab es damals nicht. Der Autor verfolgt seit langem die Szene und hat mit dortigen Karikaturisten engen Kontakt. Seine beiden Karikaturen zeigen verzerrt einerseits die vermeintliche Irrelevanz von Mileis Politik auf die Bewohner der sogenannten Villas (argentinische Armenviertel), anderseits eine Szene aus der modischen Welt der neureichen Bobos. Argentinien hat mehrere Gesichter.