Zum Krieg aufrufen oder Brücken bauen?
Wir müssen den Frieden suchen und schaffen. „Selbstkritik“ à la Frank-Walter Steinmeier ist das Gegenteil. Der Bundespräsident verdreht die Geschichte der letzten 30 Jahre.
Der Krieg in der Ukraine erschüttert die Welt gegenwärtig mehr als andere gleichzeitig stattfindende Kriege. Warum? Weil er mitten in Europa stattfindet? Weil er wie aus heiterem Himmel fällt? Weil Waldimir Putin den Frieden, den der Westen für die Welt sichern will, mit Füßen tritt?
Die Empörung über den völkerrechtswidrigen russischen Einmarsch in die Ukraine schlägt höchste Wellen. In Zukunft heißt es, könne Frieden und Sicherheit nicht mehr mit, sondern nur noch gegen Russland gesichert werden. Ein gigantischer Sanktionsfeldzug gegen Russland, eine Aufrüstungsspirale ohne Gleichen, eine schon ans Rassistische grenzende Ausgrenzung alles Russischen wurde in Gang gesetzt. Cui bono? Wem nützt das?
Halten wir doch für einen Augenblick inne: War es denn wirklich so, dass der Westen, die EU, speziell auch Deutschland seit dem Ende der Sowjetunion 1991 alles dafür getan haben, mit Russland anstelle des zusammengebrochenen Systems des „Kalten Friedens“ eine neue Sicherheitsarchitektur für einen dauerhaften Frieden aufzubauen, wie von Russland immer wieder vorgeschlagen? Warum musste die Ukraine zwischen Europäischer Union und Eurasischer Union Russland zerrissen werden? Warum muss die NATO bis in die Ukraine vordringen? Warum kann die Ukraine nicht das sein, was sie aus ihrer geschichtlichen Natur als Durchzugsraum zwischen Osten und Westen, zwischen Norden und Süden sein könnte: eine Brücke, die in ihrer kulturellen, geschichtlichen und geistigen Vielfalt Russland und Europa verbindet?
Über diese Fragen könnten wir miteinander sprechen, statt uns an der Vertiefung der ohnehin schon entstandenen Gräben zu beteiligen und der Hysterie der ideologischen und materiellen Aufrüstung zu verfallen.
Steinmeiers geschichtsvergessene Selbstkritik
Zum besseren Verständnis dessen, was die Zeit von den Menschen jetzt fordert, denen das Bauen von Brücken am Herzen liegt, ist es gut, sich zu vergegenwärtigen, was der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach den Ereignissen in Butscha, offenbar getrieben von der militanten Agitation des ukrainischen Botschafters Andrij Melnyk, glaubte die Öffentlichkeit wissen lassen zu müssen – selbstkritisch, wie er es wohl verstanden haben möchte, nämlich: er habe sich in Putin geirrt.
Wörtlich erklärte Steinmeier: „Wir sind gescheitert mit der Errichtung eines gemeinsamen europäischen Hauses, in das Russland einbezogen wird. Wir sind gescheitert mit dem Ansatz, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur einzubinden.“ (FAZ, 5.4.2022)
Das klingt nach radikaler Selbstkritik, abgesehen davon, auf wen sich das „wir“ abstützt. Aber radikal an dieser „Selbstkritik“ ist nur die Verkehrung der tatsächlichen Entwicklung und die bigotte Selbstvergessenheit der Rolle, die Steinmeier selbst als Mitglied der deutschen Politik in dieser Entwicklung eingenommen hat.
War es denn nicht Michail Gorbatschow, der 1989 den Vorschlag des „europäischen Hauses“ machte? War es nicht Boris Jelzin, der in die NATO eintreten wollte? War es nicht Wladimir Putin, der anbot, die nach dem Ende der Sowjetunion aufgelöste Sicherheitsordnung des Kalten Krieges durch ein Sicherheitsabkommen für ganz Eurasien zu erneuern? Waren es nicht Putin und sein Interimsnachfolger Dmitri Medwedew, die seitdem immer aufs Neue den geradezu schon zum Kanon gewordenen Vorschlag einer „Sicherheitsarchitektur von Wladiwostok bis Lissabon“ an die NATO, den „Westen“ herantrugen? War es nicht Russland, das diese Vorschläge vor der jetzigen Eskalation noch einmal, zuletzt im Dezember 2021 auch ultimativ, vortrug? Und sind nicht all diese Bemühungen, die von russischer Seite kamen, schlicht gekontert worden durch die NATO-Erweiterungen, durch die EU-Erweiterungen bis an die Grenzen Russlands, durch die Unterstützung farbiger Revolutionen bis hin zur Förderung der putschartigen Übernahme der Ukraine durch die Maidan-Rechte 2014 und die sich daran anschließende Blockierung einer Umsetzung der Minsker Vereinbarungen seitens der von der deutschen Bundesregierung, der NATO und den USA geförderten Kiewer Regierung? Da hätte niemand „eingebunden“ werden müssen, man hätte nur bereit sein müssen, die Vorschläge aufzugreifen und die neue Ordnung, welche die Sicherheitsbedürfnisse Russlands und der EU berücksichtigt, auf Augenhöhe miteinander auszuhandeln.
Aber nun ist aus dem ukrainischen Bürgerkrieg, der seit dem Maidan 2014 als „antiterroristische Aktion“ von Kiew her gegen den Osten des Landes geführt wird, ein veritabler Krieg geworden, der die Neuordnung Europas, darüber hinaus Eurasiens als Ganzem und weltweit zu chaotisieren droht.
„Halten Sie ein!“ kann man da nur dem zur Selbstkritik bereiten deutschen Präsidenten und der gegenwärtigen deutschen Regierung zurufen. Schön, wenn Sie, Herr Steinmeier, an so prominenten Platz wie den eines Bundespräsidenten gestellt, Ihren Irrtum erkennen und ihn auch noch öffentlich bekennen! Der Irrtum bestand allerdings nicht darin, Russland nicht in „unsere“ Sicherheitsarchitektur „eingebunden“ zu haben. Er bestand vielmehr darin, die Vorschläge und Bemühungen um eine gemeinsame eurasische Sicherheitsarchitektur, wie sie von Russland immer wieder vorgeschlagen wurden, penetrant beiseitegeschoben und mit hemmungsloser NATO-Erweiterungspolitik beantwortet zu haben, statt sie als Einladung zu Erarbeitung einer neuen Friedensordnung Eurasiens anzunehmen, die in der Lage gewesen wäre, die zerfallene Ordnung des Kalten Krieges zu ersetzen.
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