Wolodymyr Selenskyjs Reden – ehrlich wäre anders
Seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj mehrere Reden an die Bevölkerung im Ausland gehalten – mit teilweise höchst problematischen Aussagen.
Selenskyjs Reden waren inhaltlich immer genau ausgerichtet auf das Publikum, an das er sich richtete. Viele Zuhörer waren denn auch tief beeindruckt und haben ihm zugejubelt. Aber nicht alle – und dies zu Recht. In Israel zum Beispiel, wo Selenskyj seine Rede an die Abgeordneten in der Knesset richtete, verglich er den Angriff Russlands auf die Ukraine mit dem Angriff Hitlers auf Russland und mit dem Holocaust, der konsequenten Verfolgung und Vernichtung der Juden. Und Selenskyj verstieg sich zur Behauptung, die Ukrainer hätten damals viele Juden gerettet. Das ist mehr als zynisch. Die Realität ist, dass in der Ukraine damals nicht nur die Nazi-Schergen Juden ermordet haben, sondern dass auch viele Ukrainer sich selber aktiv an der Juden-Vernichtung beteiligten. In der ganzen Ukraine wurden im Zweiten Weltkrieg um die 1,5 Millionen Juden ermordet, nicht zuletzt auch von den Milizen von Stepan Bandera, dem zu Ehren die ukrainische Hauptstadt Kiev vor wenigen Jahren eine wichtige Strasse in «Stepan Bandera Boulevard» umgetauft hat. Und Selenskyj erwähnte auch, dass die Russen die Gedenkstätte Babyn Jar bombardiert hätten – Babyn Jar, wo am 22. und 23. September 1941 – in nur zwei Tagen! – über 33’000 Juden erschossen wurden, von den Nazis und ihren ukrainischen Helfern, wie man weiss. Die israelische Zeitung Haaretz nahm denn auch gleich nach der Rede Selenskyjs mit dem Leiter der dortigen Gedenkstätte Kontakt auf, der seinerseits bestätigte, dass Babyn Jar von russischen Bomben nicht beschädigt wurde. Der Angriff der Russen galt vielmehr dem Fernsehturm in der Nähe der Gedenkstätte. Und Haaretz erlaubte sich, auch generell an die Rolle der Ukraine im Zweiten Weltkrieg zu erinnern. Obwohl Wolodymyr Selenskyj selber Jude ist, hält sich seiner Falschaussagen und seiner äusserst problematischen historischen Vergleiche wegen die Sympathie der gutinformierten Israelis für ihn in engen Grenzen. Israel hat denn auch keine Sanktionen gegen Russland beschlossen.
Selenskyjs Liebe zur Schweiz
Wolodymyrs Liebeserklärung an die Schweiz anlässlich seiner direkt übertragenen Rede am 19. März an die versammelte Öffentlichkeit in Bern kann nur zwei Hintergründe haben: Entweder hat Selenskyj von der Schweiz und wie sie funktioniert überhaupt keine Ahnung, oder aber er heuchelt massiv.
Als ich, Christian Müller, Autor dieses Artikels, im Jahr 2006 aus beruflichen Gründen als Medienberater in der Ukraine war, habe ich mich darauf gründlich vorbereitet und wohl eher 5000 als nur 3000 Seiten über die Ukraine gelesen. Die wichtigste Erkenntnis war: Die Ukraine ist alles andere als eine Einheit, eine «Nation», wie man sich eine «Nation» vorstellt. Die Bevölkerung der Ukraine ist in keiner Hinsicht einheitlich. Die Geschichte der verschiedenen Regionen ist sehr unterschiedlich. Der Oblast Transkarpatien mit der Hauptstadt Ushgorod im Westen der Ukraine zum Beispiel hat zwischen 1910 und dem Jahr 2000 fünfmal (!) die Zugehörigkeit zu einem Staat ändern müssen (Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, Tschechoslowakei, Ungarn, Sowjetunion, Ukraine), von aussen diktiert, ohne eigene Mitsprache. Die Menschen in der Ukraine sprechen als Muttersprache mehrere unterschiedliche Sprachen, neben Ukrainisch vor allem Russisch, aber auch Ruthenisch (Russinisch) oder auch Ungarisch. Die Menschen gehören verschiedenen Kirchen an, einer orthodoxen Kirche mit dem Patriarchen in Moskau, einer orthodoxen Kirche mit dem Patriarchen in Kiev, oder auch der Griechisch-Katholischen Kirche, die seit Maria-Theresia im 18. Jahrhundert dem Römisch-Katholischen Papst in Rom unterstellt ist – und anderen Glaubensbekenntnissen. Und die Grenzen der Ukraine verlaufen nicht alle entlang von Flüssen oder Wasserscheiden in den Bergen, sondern oft quer durch den Wald. Alles vergleichbar mit der Schweiz: Verschiedene Kulturen, verschiedene Sprachen, verschiedene Glaubenbekenntnisse, und und und. Aber im extremen Gegensatz zur Schweiz versucht man in der Ukraine nicht, mit dieser kulturellen Diversität zu leben und mit einem geeigneten politischen System ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, sondern man versucht im Sinne der ukrainischen Nationalisten alles zu vereinheitlichen: Nur noch die ukrainische Sprache soll gesprochen werden dürfen, nur noch die orthodoxe Kirche mit dem Patriarchen in Kiev soll existieren dürfen, nur «Kiev» soll darüber entscheiden dürfen, wer in den Provinzen – den Oblasts – zuständiger Gouverneur ist, nicht die dortige Bevölkerung. Und und und.
Das hat mich damals, im Jahr 2006, denn auch veranlasst, eine Präsentation über die Schweiz zu machen, wie wir, hier in der Schweiz, alle diese kulturellen Unterschiede unter ein Dach gebracht haben und trotzdem – oder eben deshalb – friedlich zusammenleben. Meine Präsentation kann unten als PDF angeschaut und auch heruntergeladen werden.
Was aber hat der aktuelle Präsident der Ukraine, Wolodymir Selensky, gemacht, um innerhalb der Ukraine den Menschen ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen, ähnlich wie in der Schweiz? Nichts, aber auch gar nichts! Er hat sogar etliche Gesetze durchgeboxt, mit denen die nationalistischen Ziele noch gestärkt werden, zum Beispiel noch härtere Gesetze gegen die russische Muttersprache von rund einem Drittel der Ukrainer. Selenskyj hat auch etliche Radio- und Fernseh-Stationen, die nicht auf seiner Linie lagen, verboten und geschlossen. Was immer er als Präsident getan hat, er hat alles getan, um die Ukraine nicht auf den friedlichen Weg der Schweiz zu bringen. Und er hat im Sinn, es auch weiterhin so zu tun: Gegenüber Israel erklärte er, die Ukraine werde sein wie Israel, voll militarisiert, nicht wie die Schweiz, die sich entmilitarisiert habe! Selenskyjs vermeintliche Liebe zur Schweiz darf deshalb ohne Bedenken als reine Heuchelei bezeichnet werden.
Und was ist mit den Oligarchen?
Und Achtung, wenn Wolodymyr Selenskyj von den Schweizer Banken spricht, die den reichen Russen ihr Geld horten: Er, Wolodymyr Selenskyj, ist selber der politische Zögling des zweitreichsten ukrainischen Oligarchen Ihor Kolomoiskyj, der jahrelang am Genfersee lebte und von hier aus seine Dreckgeschäfte machte. Kolomoiskyj ist einer der Mitbegründer des faschistischen Bataillons Azow, und beim Ausbruch des Bürgerkrieges im Donbass hat Ihor Kolomoiskyj sogar ein Kopfgeld in Höhe von 10’000 US-Dollar ausgesetzt für jeden verhafteten Russland-freundlichen Kämpfer. Aber all das ist für Kolomoiskyjs Polit-Zögling Wolodymyr Selenskyj kein Thema. Bestraft oder mit Sanktionen belegt werden sollen selbstverständlich nur die russischen Oligarchen. (Mittlerweile haben sogar die USA entdeckt, dass Kolomoiskyj, Selenskyjs Ziehvater, alles andere als ein Ehrenmann ist: hier anklicken.)
Auch der Bürgerkrieg im Donbass wird einfach totgeschwiegen
Seit dem Jahr 2014 – auch im Jahr 2014 war ich selber wieder in der Ukraine – herrscht im Südosten der Ukraine ein Bürgerkrieg. Die dortige Bevölkerung liess sich die Unterdrückung ihrer Muttersprache Russisch nicht gefallen, und der auf dem Maidan in Kiev mit Unterstützung der USA weggeputschte Präsident Janukowitsch war einer der ihren. Also erklärten sich die beiden Oblasts Luhansk und Donezk für unabhängig. Und seit dieser Zeit, seit acht Jahren, wird die dortige Bevölkerung von ukrainischen Milizen beschossen und bombardiert – mit bisher über 15’000 Toten. Auch darüber verlor Wolodymyr Selenskyj in seiner Rede an die Schweizer kein Wort. Die zur Lösung des Konflikts im Donbass unter Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini ausgehandelten, von der Ukraine unterzeichneten Vereinbarungen «Minsk II» hat Selenskyj sieben Jahre lang nicht nur nicht erfüllt, er hat sogar Gesetze durchgepaukt, um sie unerfüllbar zu machen. Aber jetzt verkauft sich Selenskyj als Opfer, dem geholfen werden muss. (Siehe dazu den Link rechts oben zu einem sehr informativen Artikel über diesen Bürgerkrieg.)
Selenskyjs nonverbale Körpersprache ist sehr erfolgreich
Bevor Wolodymyr Selenskyj mit aktiver Unterstützung von Ihor Kolomoiskyj – als vermeintlicher Hoffnungsträger und mit dem «Frieden im Donbass» als erste Priorität in seinem politischen Programm – ukrainischer Staatspräsident wurde, war er ein äusserst erfolgreicher Komiker. Als Schauspieler weiss er also, wie die Körpersprache funktioniert. Das kommt ihm jetzt zugute. Er redet nicht im dunklen Anzug mit blauer Krawatte zu den Menschen im Ausland. Er gibt sich vertrauenerweckend, wie privat, in einem Leibchen mit offenem Hals. So als ob er mit uns schon lange bekannt oder gar befreundet wäre. Das funktioniert bestens. Die zuhörenden und zusehenden Menschen glauben ihm, dem Mann, der sich so freundschaftlich gibt. Und der den gegenwärtigen Schweizer Bundespräsidenten Ignazio Cassis per Du und mit «lieber Ignazio» anspricht.
Zur politischen Differenz zwischen der Ukraine und der Schweiz: Schon im Juli 2020, ein paar Tage, bevor die damalige Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga zum Staatsbesuch nach Kiev reiste, habe ich in einer detaillierten Zusammenstellung die wichtigsten Punkte aufgeführt, die in der Ukraine zum Funktionieren einer menschenwürdigen Demokratie – und zur Erfüllung sogenannter «europäischer Werte» – fehlen. Und ich habe die damalige Bundespräsidentin in einem offenen Brief aufgefordert, diese Punkte in Kiev auch wirklich zur Sprache zu bringen. Wenig überraschend haben anschliessend an Sommarugas Besuch in Kiev weder der besuchte ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj noch die Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga selber an den Medienkonferenzen auch nur ein Wort zu diesem Demokratie-Manko in der Ukraine verlauten lassen. Offensichtlich war und ist es der Schweiz egal, dass die Ukraine in einem Bürgerkrieg im Südosten des Landes, im Donbass, seit Jahren auf eigene Landsleute schiesst. Und jetzt darf Selenskyj natürlich erst recht nicht mehr kritisiert werden, obwohl er die ganze Welt um Waffen und um noch mehr Waffen und um noch grössere Waffen bittet, statt zu versuchen, einen Waffenstillstand mit Russland hinzukriegen. – Zu meinem damaligen Vergleich zwischen der Ukraine und der Schweiz hier anklicken.
Der EU-‹Aussenminister› Josep Borell verspricht Selenskyj mehr Waffen
Aber nicht nur Wolodymyr Selenskyj will keine diplomatische Lösung des Krieges, auch Josep Borell, der Verantwortliche für die EU-Aussenpolitik, lässt öffentlich verlauten: «Diesen Krieg müssen wir auf dem Schlachtfeld gewinnen». Was sind schon Tausende von Toten? Hauptsache, die Sowjetunion, die stark genug war, Hitlers Nazi-Deutschland militärisch zu besiegen – mit 27 Millionen sowjetischen Kriegsopfern! –, bzw. heute Russland, soll endlich mit Waffengewalt besiegt werden! Dem phantastischen Film von Karen Schachnazarow «Der weisse Tiger» ist nichts beizufügen.
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