Wollte die Ukraine in die NATO?
(Red.) Es kann nicht oft genug daran erinnert werden, dass die Ukraine nie ein einheitliches Land war und auch heute nicht ist, weder historisch noch ethnisch noch sprachlich noch kirchlich. Und auch die Bündnispolitik war je nach Präsident unterschiedlich. Nie war die ganze Bevölkerung der Ukraine einheitlich für einen Beitritt zur NATO, zumal die russischsprachige Bevölkerung im Südosten sich immer Russland nahestehend fühlte und verstand und nicht danach strebte, möglichst schnell zur EU zu gehören. Stefano di Lorenzo macht darauf aufmerksam, dass es da ein Auf und Ab gab. (cm)
Vor einigen Tagen erklärte US-Außenminister Antony Blinken, dass die Ukraine der NATO beitreten werde. Sie wird. Indikativ. Ohne Wenn und Aber, Punkt. Nach zwei Jahren Krieg scheint sich die amerikanische Linie in Bezug auf die Ukraine keinen Millimeter bewegt zu haben. Schließlich sollten sich echte Leaders so verhalten, auch unter den Nationen: fest und entschlossen. Außerdem hätte die Ukraine das unantastbare Recht, der NATO beizutreten, und die NATO könnte sich der Bereitschaft der Ukraine, dem transatlantischen Bündnis beizutreten, nicht lange widersetzen.
Heute ist das Thema NATO und Ukraine besonders heikel geworden. Oder besser gesagt: für einige ist das ein Thema, für andere darf das es gar nicht sein. Auf der einen Seite gibt es Experten und ehemalige Diplomaten — also leider oft schon nach dem Ende ihrer Karriere —, die den Westen seit Jahren vor den gefährlichen Folgen einer NATO-Erweiterung gewarnt haben. Insbesondere vor diesem Drang nach Osten, der die Ukraine einschließen sollte. Dagegen hören wir heute viel öfter andere Experten und Diplomaten, die kontinuierlich ungeduldige und verächtliche Dementis liefern: Die NATO-Erweiterung und die angebliche Bedrohung, die Russland ihr gegenüber wahrnehmen würde, hätten absolut nichts mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine zu tun. Der Westen trage keine Verantwortung für die Entscheidung Russlands, in die Ukraine einzumarschieren, und es gab keine Provokation. Alles andere wären Fake News, russische Propaganda. Keine weitere Diskussion zu diesem Thema.
Und es habe auf jeden Fall nie ein „Versprechen“ gegeben, die NATO „keinen Zoll nach Osten“ zu erweitern. Das Versprechen wäre in Wirklichkeit nur noch eine weitere Lüge der stets bösartigen russischen Propaganda gewesen. Es spielt keine Rolle, wie viele Politiker der damaligen Zeit zitiert werden, die Russland informell versprochen hätten, dass die NATO nicht erweitert würde. Dieses Versprechen wurde niemals in einem schriftlichen Dokument ratifiziert. Verba volant, Pech gehabt. Die NATO konnte also absolut alles tun, was sie wollte, ohne sich vor Russland dafür verantworten zu müssen.
Menschen haben ein kurzes Gedächtnis. Die Aristokratie der Politik, könnte man sagen, sogar noch mehr. Im Jahr 1999 traten Polen, Ungarn und die Tschechische Republik der NATO bei. Dies war die erste NATO-Erweiterung seit dem Ende des ersten Kalten Krieges. Die „Versprechen“, die NATO nicht zu erweitern, waren bereits in Vergessenheit geraten, hatten nie existiert. Das Tabu war entzaubert worden. Die NATO hatte nun freie Bahn. Weitere Erweiterungen würden bald folgen.
Bereits 1995 und dann 1997 sprach der ehemalige nationale Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski in zwei programmatischen Artikeln mit den Titeln „A Plan for Europe“ und „A Geostrategy for Eurasia“ in der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs, die von der sehr einflussreichen Denkfabrik Council of Foreign Affairs herausgegeben wird, von einer Aufnahme der Ukraine in die NATO zwischen 2005 und 2010. Einige Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien das Schicksal der Ukraine bereits entschieden zu sein. Und das nicht unbedingt in der Ukraine.
Im Juli 1990 hatte das ukrainische Parlament — damals noch innerhalb der Sowjetunion — seine Souveränität erklärt. Hier erklärte die Ukraine ihre Absicht, in Zukunft ein dauerhaft neutraler Staat zu werden, der sich nicht an Militärblöcken beteiligen und sich zu drei nichtnuklearen Grundsätzen verpflichten würde: keine Atomwaffen einsetzen, produzieren und erwerben. Auch in den Beloweschen Vereinbarungen (dem Abkommen zur Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten vom Dezember 1991, mit dem die Sowjetunion de facto beendet wurde) verpflichteten sich die Ukraine ebenso wie die beiden anderen Unterzeichner, Russland und Belarus, „den Wunsch des jeweils anderen zu respektieren, den Status einer entnuklearisierten Zone und eines neutralen Staates zu erreichen“.
Der erste Präsident der unabhängigen Ukraine, Leonid Krawtschuk, bekräftigte die Neutralität der Ukraine, unterzeichnete jedoch 1994 das Abkommen „Partnerschaft für den Frieden“ mit der NATO. Dieses wurde gleichwohl auf alle Staaten der ehemaligen Sowjetunion, einschließlich Russland, ausgedehnt. Bei anderen Gelegenheiten sprach sich der ukrainische Präsident jedoch für eine NATO-Mitgliedschaft aus. Auf diese Worte folgten jedoch keine großen Taten. Es waren schwierige Jahre für die Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Wirtschaft musste vollständig umstrukturiert werden. Die Korruption war weit extrem reif, in der Gesellschaft herrschte Anomie. Das Land hatte andere Prioritäten.
Zwischen 1994 und 2004 war Präsident der Ukraine Leonid Kutschma. Heute wird Kutschma aus dem einen oder anderen Grund als „prorussischer“ Präsident bezeichnet. Die Realität ist, wie üblich, viel komplizierter. Kutschmas Politik wird oft als „multi-vektorial“ beschrieben: Der ukrainische Präsident strebte nach produktiven Beziehungen sowohl mit dem Westen als auch mit Russland. Doch es bleiben objektive Fakten. Während der Präsidentschaft Kutschmas begann das Eindringen der NATO in die Ukraine. 1997 wurde ein NATO-Ukraine-Rat eingerichtet, und die Ukraine und die NATO einigten sich auf eine Charta über eine besondere Partnerschaft. Und dann, im Jahr 2002, unterzeichneten die Ukraine und die NATO einen NATO-Aktionsplan. Die Ukraine gab zum ersten Mal offiziell bekannt, dass sie eine Mitgliedschaft in der NATO anstrebt. Nicht gerade ein „pro-russischer“ Schritt.
„Der Zweck des Aktionsplans besteht darin, die strategischen Ziele und Prioritäten der Ukraine bei der Verfolgung ihres Strebens nach vollständiger Integration in die euro-atlantischen Sicherheitsstrukturen eindeutig festzulegenund einen strategischen Rahmen für die bestehende und künftige Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine im Rahmen der Charta zu schaffen. In diesem Zusammenhang wird diese in regelmäßigen Abständen überprüft werden. […]
In Anbetracht der außenpolitischen Ausrichtung der Ukraine auf die europäische und euro-atlantische Integration, einschließlich ihres erklärten langfristigen Ziels der NATO-Mitgliedschaft, wird die Ukraine weiterhin Rechtsvorschriften entwickeln, die auf den universellen Grundsätzen der Demokratie und des Völkerrechts beruhen.“
Im April 2004 unterzeichnete der ukrainische Präsident Leonid Kutschma die von der Werchowna Rada der Ukraine verabschiedete „Vereinbarung zwischen dem Ministerkabinett der Ukraine, dem Obersten Atlantik-Alliierten Befehlshaber und dem Obersten Alliierten Befehlshaber in Europa über die Unterstützung von NATO-Operationen seitens der Ukraine“. NATO-Truppen konnten sich jetzt in der Ukraine frei bewegen. Die Ukraine, die sich von Russland emanzipieren wollte, schien auf dem Weg zu einem Land mit begrenzter Souveränität zu sein.
Im Jahr 2004 ging die Amtszeit von Kutschma zu Ende, er konnte nicht mehr kandidieren. 2004 wurde das Jahr der „Ersten Ukrainischen Revolution“. Die Revolution von 2014, die sowohl in der Ukraine als auch in Europa so romantisiert wird, war eigentlich im Großen und Ganzen nur ein Remake der Revolution von 2004. Selbst der Bösewicht war immer noch derselbe: Viktor Janukowitsch, der Kandidat der Partei der Regionen und später Präsident. Am Ende, nach einem zusätzlichen Wahlgang, wurde der Gewinner der Wahl der pro-europäische und pro-westliche Kandidat Viktor Juschtschenko. Viktor Juschtschenko konnte nur ein großer Befürworter der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine sein. Es gab nur ein Problem: das ukrainische Volk.
Juschtschenko hatte zwar die Wahl gewonnen — im dritten Wahlgang —, aber das bedeutet nicht, dass die ukrainischen Wähler die Absichten des neuen Präsidenten, dem transatlantischen Block beizutreten, teilten. Zahlreiche Umfragen aus den Jahren 2000 bis 2014 zeigen, dass die ukrainische Bevölkerung der NATO damals sehr ablehnend gegenüberstand. Dies änderte sich erst mit der zweiten Maidan-Revolution im Jahr 2014 und der Annexion der Krim.
Trotz der offensichtlich negativen Haltung der meisten Ukrainer gegenüber der NATO — aus welchen Gründen auch immer — schien dies die politische Führung weder in der Ukraine noch im Westen allzu sehr zu beunruhigen. Auf dem Bukarester NATO-Gipfel im Jahr 2008 wurde der Ukraine versprochen, dass sie zusammen mit Georgien eines Tages der NATO beitreten würde. Die Würfel waren gefallen.
Ausweiten oder aussterben
Für die einen hatte die NATO, die als Verteidigungsbündnis gegen die kommunistische Bedrohung gedacht war, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre raison d’être verloren. Für andere wiederum, egal ob Sowjetunion oder Russland, änderte sich wenig. Polen und die baltischen Staaten, zum Beispiel, die noch immer von offenen historischen Wunden gegenüber Russland geprägt waren, schienen keinen großen Unterschied zwischen der kommunistischen Bedrohung und dem Aufkommen eines kleineren, aber nicht weniger schrecklichen Russlands zu machen. Der russische Bär wechselte sein Fell, blieb aber immer ein Bär.
Der Fall der Ukraine war jedoch anders als der Polens oder anderer mitteleuropäischer Länder. Im Laufe ihrer tausendjährigen Geschichte (nach ukrainischer historiographischer Interpretation), hatte die Ukraine zwischen dem 13. Jahrhundert bis 1991 höchstens ein Jahrzehnt lang als unabhängige politische Einheit existiert. Nicht lange genug, um eine starke nationale Identität zu bilden. Aus diesem Grund hielten es viele für natürlich, dass die Ukraine den legitimen Wunsch äußerte, einem Bündnis beizutreten, um sich vor Russland zu schützen, unter dem sie angeblich jahrhundertelang gelitten haben sollte. Aus demselben Grund aber waren sich nicht alle Bürger der jungen ukrainischen Nation in ihrer Feindseligkeit gegenüber Russland einig. Die 350 Jahre der Union zwischen der Ukraine und Russland waren nicht nur Jahre des Blutvergießens und des Leids gewesen. Der Holodomor, die Hungersnot der 1930er Jahre, die als Gründungsmythos der neuen Ukraine dienen sollte, hatte nicht nur die Ukraine, sondern auch Teile Russlands und Kasachstans getroffen. Stalin, der Mörder der ukrainischen Nation, war nicht einmal Russe und hatte auch viele Russen getötet. Die Nachkriegsjahre zwischen 1953 und 1991 waren eine Zeit des zivilisierten und harmonischen Zusammenlebens zwischen Russen und Ukrainern gewesen. Nicht zuletzt, weil die Ukraine kein monoethnisches Gebiet war, sondern von Ukrainern und Russen bevölkert, ohne dass viele auf die ethnischen Unterschiede zwischen zwei Völkern achteten, die sich ohnehin sehr nahe standen.
Wollte die neue unabhängige Ukraine also wirklich der NATO beitreten? Oder war es vielmehr die NATO, die die Ukraine ins Visier genommen hatte? Im Jahr 2008 hatte die NATO angekündigt, dass Georgien und die Ukraine dem Bündnis beitreten würden. Es war nur eine Frage der Zeit. Man kann nicht sagen, dass die Ukrainer zu diesem Zeitpunkt den Wunsch hatten, dem transatlantischen Bündnis beizutreten. Natürlich wird man sagen, dass etwas so Wichtiges wie die Mitgliedschaft des eigenen Landes im „mächtigsten Militärbündnis der Geschichte“ zu wichtig ist, als dass man es dem Volk überlassen könnte. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass die Unterstützung der ukrainischen Öffentlichkeit für die NATO-Frage einigen westlichen Politikern Sorgen machte.
In einem Dokument vom Februar 2010, unmittelbar nach den ukrainischen Präsidentschaftswahlen, schrieb der damalige US-Botschafter in der Ukraine über Juschtschenko: „Viktor Juschtschenko beendet seine Amtszeit, nachdem er in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen nur etwa fünf Prozent der Stimmen erhalten hat. Seine Anziehungskraft reicht nur noch bis nach Lemberg und andere begrenzte Gebiete in der Westukraine. Ihm wird weithin vorgeworfen — nicht zuletzt von vielen, die 2004 für ihn gestimmt haben —, dass er ein schlechter Manager war, dass er sich ständig mit Timoschenko auf Kosten der nationalen Interessen gestritten hat, dass er Russland unnötig angefeindet hat und dass er sich mit Vorliebe um Beitrittserklärungen zur NATO und zur EU bemüht hat, anstatt sich auf die harte Arbeit der wirtschaftlichen und militärischen Reformen zu konzentrieren, die solche Bestrebungen in die Realität umgesetzt hätten“.
Im Dezember 2013, als die Proteste in Kiew bereits begonnen hatten, erinnerte Victoria Nuland, die damalige stellvertretende US-Außenministerin für europäische und eurasische Angelegenheiten, auf einer Konferenz daran, dass die USA seit 1991 mehr als 5 Milliarden USD investiert hatten, um der Ukraine zu helfen, „die Zukunft zu erreichen, die sie verdient“. Zu den zahlreichen Empfängern dieser Hilfe gehörte die National Endowment for Democracy, eine „Nichtregierungsorganisation“, deren Präsident Carl Gershman einige Monate zuvor die Ukraine als „den größten Preis“ bezeichnet hatte. Im Laufe der Jahre hatte die NED mehr als 60 Projekte zur Förderung der Zivilgesellschaft in der Ukraine finanziert. Doch der Westen, der sich stets über die Einmischung anderer Länder aufregt, schien an seinen eigenen Einmischungen nichts auszusetzen zu haben.
Dass die USA wenig Respekt vor der Souveränität der Ukraine hatten, zeigte sich auch während der ukrainischen „Volksrevolution“, die als glorreiche und heldenhafte „Revolution der Würde“ in die ukrainische Mythologie einging, als Victoria Nuland und der US-Botschafter in der Ukraine entschieden, wer die nächste Regierung bilden sollte. Natürlich gehört es sich nicht, an solche Dinge zu erinnern. Aber es wäre Heuchelei, sie zu ignorieren. Die Wahrheit ist wichtiger als gute Manieren. Aber ja, es ist nicht anständig, auf diese Dinge hinzuweisen, weil sie die „talking points“ des Kremls wiedergeben. Und selbstverständlich kann jede Bemerkung, die in der Form der Rhetorik des Kremls ähnlich ist, auch konzeptuell nur falsch sein. Oder doch nicht?
Wollte also die Ukraine wirklich der NATO beitreten? Heute besteht kein Zweifel, dass dies der Fall ist, die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt diese Entscheidung. Aber das war nicht immer so. Der Wunsch der Ukraine, der NATO beizutreten, war nicht der mystische Ausdruck des kollektiven Willens der ukrainischen Nation. Dieser Wunsch kam erst nach jahrelangem Werben durch die NATO und erst neulich wurde er für die Ukraine zur einzig möglichen geostrategischen Entscheidung. Mit allen Konsequenzen, die wir heute vor Augen haben. Natürlich wird man sagen, dass es in sehr wenigen Ländern Volksabstimmungen über die NATO-Mitgliedschaft gegeben hat. Volksabstimmungen können ja nicht über alles entscheiden, sie seien populistisch, sie seien letztendlich nicht demokratisch. Die letzte NATO-Volksabstimmung fand vor ein paar Jahren in Mazedonien statt, sie erreichte nicht das Quorum, um gültig zu sein. Dies spielte jedoch keine Rolle. Die mazedonische Regierung und die NATO beschlossen, den Beitritt zum transatlantischen Bündnis trotzdem zu vollziehen. Von Demokratie gab es nur den Anschein.
Siehe dazu auch: «Darum fordert Russland den Stopp der NATO-Osterweiterung» (von Christian Müller)