Ein Russe erinnert mit einer selbstgebastelten Tafel an seine Angehörigen, die gegen die deutsche Wehrmacht kämpfen mussten. Vor allem jeweils am 9. Mai gehen Hunderttausende von Russen mit solchen Erinnerungstafeln auf die Straße. (Foto Ulrich Heyden)

Wird jemals ein deutscher Politiker an einem russischen Grab knien?

Annalena Baerbock macht es vor: Sie legt Kränze nur dort nieder und gedenkt nur dort, wo Menschen angeblich durch die Schuld von Stalin oder Putin starben, am Holodomor-Denkmal in Kiew oder in Butscha. Der deutsche Botschafter Graf Lambsdorff legte zwar im Januar zum 80. Jahrestag des Endes der Hungerblockade von Leningrad einen Kranz auf dem größten Friedhof der Stadt nieder. Aber die Bundesregierung weigert sich, die Blockade von Leningrad als Völkermord anzuerkennen und alle Überlebenden zu entschädigen. Russland bezeichnet die Blockade von Leningrad als Genozid. Die FAZ schreibt, diese Bezeichnung  sei „eine geschichtspolitische Wahnidee.“  Warum ist heute nicht möglich, was 1970 möglich war, als der damalige Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau am Ehrenmal für die Helden des Warschauer Ghettos niederkniete?  

Fast jede Familie auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion hat im von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkrieg Angehörige verloren. Insgesamt starben 27 Millionen Sowjetbürger, darunter 15 Millionen Zivilisten. 

Und nun schickt Deutschland Waffen in die Ukraine. Ein Teil dieser Waffen – Leopard- und Marder-Panzer – stehen jetzt als Kriegstrophäen zusammen mit anderer von Russland erbeuteter, westlicher Kriegstechnik im Park „Verneigungshügel“, westlich des Moskauer Stadtzentrums. Täglich kommen Tausende Schaulustige, an Wochenenden sogar Zehntausende, um sich das erbeutete und zum Teil beschädigte Kriegsgerät anzugucken. Die Menschen in Russland sind von Deutschland enttäuscht. Viele sind wütend.

„Für uns oder gegen uns?“

Schon Anfang 2015 merkte ich, dass sich der Wind in Russland gedreht hatte. Ich war Teilnehmer der Talkshow „Politika“ im „Ersten“ russischen Fernsehkanal. Es ging um die Sanktionen des Westens gegen Russland. Als ich darauf hinwies, dass der griechische Regierungschef Aleksej Tsipras die westlichen Sanktionen gegen Russland kritisiert, wurde mir von einem der beiden Moderatoren bissig entgegengeschleudert, Griechenland habe bisher alle Sanktionen gegen Russland unterstützt. 

Ich war verblüfft. Diese harten Konter hatte ich nicht erwartet. Aber er war typisch für die Stimmung 2015 in Russland. Einen großen Teil der russischen Gesellschaft beschäftigte nur noch eine Frage: Wer ist für uns, wer ist gegen uns? 

Der Großteil der Russen war empört, dass sich die großen deutschen Medien nicht sonderlich für den von ukrainischen Ultranationalisten gelegten Brand im Gewerkschaftshaus in Odessa, am 2. Mai 2014, bei dem 42 Menschen starben, interessierten. Auch die Beschießung von Wohngebieten in den Gebieten Donezk und Lugansk durch rechtsradikale ukrainischen Freiwilligenbataillone und die ukrainische Armee, die im Sommer 2014 begann, war für den deutschen Mainstream nur ein Randthema. 

Empörung unterschätzt

Wenn selbst ich – mit damals 23 Jahren Russland-Erfahrung – die Entrüstung der Russen über die westliche Ignoranz unterschätzt hatte, wie war es dann erst um die „kritischen Intellektuellen“ in Deutschland bestellt, die sich 1968 politisiert hatten und später die Partei «Die Grünen» aufbauten? 2015 stellte ich mit Schrecken fest, dass Leute, die von sich behaupten, sie hätten 1968 das „kritische Denken“ gelernt und das sei ein Kulturgewinn, auf den man stolz sein könne, es nicht für nötig hielten, die Lage in der Ukraine wirklich gründlich und von allen Seiten zu analysieren. 

Wie war das möglich, dass die 1968er, für die kritisches Denken erste Bürgerpflicht war, in die Stereotypen ihrer Väter, die gegen die Sowjetunion gekämpft hatten, zurückfielen? War es die geschickte Integration der Revolutionäre von 1968 über beruflichen Aufstieg, das monatliche Salär, was auf dem Konto einging, die Angst, alleine zu sein in einer Gesellschaft, die sich wie gewohnt gegen Russland stellte? 

„Die Gliedmaßen bewegten sich noch“

2015 gab es für mich noch ein zweites Schlüsselerlebnis. Ich hatte im April zusammen mit der Korrespondentin einer angesehenen deutschen Tageszeitung an einer Podiumsdiskussion in einer Universität im Westen Russlands teilgenommen. Auf der Veranstaltung ging es um die Prinzipien journalistischer Arbeit. 

Spätabends ging ich mit der Korrespondentin und einer Vertreterin der Friedrich-Ebert-Stiftung, die die Podiumsdiskussion organisiert hatte, durch die Straßen der Stadt. Wir kamen auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen und plötzlich begann die deutsche Kollegin zu erzählen, ihr Vater sei dabei gewesen, als im Zweiten Weltkrieg sowjetische Zivilisten von deutschen Soldaten in einer Scheune bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Die Gliedmaßen hätten sich während der Verbrennung noch bewegt, habe der Vater erzählt. 

Mein Herz blieb fast stehen. Das Bild der Verbrennung tauchte vor mir auf. Ich hatte es im Defa-Film „Komm und sieh“ gesehen. Ich drehte mich um. Ich wollte das Gesicht der Kollegin sehen. Aber ich sah es nur schemenhaft. Es war zu dunkel. Aber ich wunderte mich. In der Stimme der Erzählerin war keine Empörung. Oder war sie einfach nur gefasst? Sie erzählte wie Jemand, der eine Gruselgeschichte erzählt. 

Doch was mich im Nachhinein noch mehr wunderte, war, dass ich von der Kollegin keinen einzigen Artikel über die Verbrechen der Wehrmacht gegen die Zivilbevölkerung in der Sowjetunion fand. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit waren stattdessen Artikel über die sogenannte „Beutekunst“, also antike Bilder und Möbel, welche die Rote Armee in Deutschland beschlagnahmt hatte. 

Die Kollegin schrieb sich auch die Finger wund, als am Kursker Bahnhof in Moskau ein Anfang der 1950er Jahre entfernter Schriftzug wiederhergestellt wurde. Der hatte folgenden Inhalt: „Stalin hat uns zur Treue gegenüber dem Volk, zur Arbeit erzogen und uns zu Heldentaten inspiriert.“ Die Kollegin geißelte die Wiederherstellung des Schriftzuges als Zeichen des Rückfalls in den Stalinismus. 

Anfang der 1990er Jahre hatte ich die Artikel der Kollegin noch mit großem Interesse gelesen. Sie schrieb in einem interessanten Reportage-Stil über in Moskau neu eröffnete Galerien mit moderner Kunst. Aber 1999 schockte sie mich mit einem Artikel, in dem sie behauptete, es gäbe in Russland faktisch keine eigenen Erfindungen. Alles sei mehr oder weniger vom Westen abgekupfert. 

Ich war verblüfft und empört. Der erste Weltraumflug eines Menschen um die Erde, vom Westen abgekupfert? Und was war mit der Tabelle des Chemikers Dmitri Mendelejew, der 1869 als erster Forscher eine Tabelle mit 63 chemischen Elementen veröffentlichte, mit der die Abhängigkeit der chemischen Eigenschaften vom Atomgewicht dargestellt wurde?  

Der Vater war Scharfschütze

Ich weiß noch von einem anderen Kollegen, übrigens kein Russland-Hasser, der für ein deutsches Leitmedium mehrere Jahre in Moskau tätig war. Sein Vater war Scharfschütze bei der Wehrmacht und an der Kaukasus-Front im Einsatz. Er hatte also Rotarmisten aufgelauert, die ihre Heimat verteidigten. Ich wagte nicht, den Kollegen über die genaue Tätigkeit seines Vaters zu befragen und von sich aus erzählte er auch nichts. Aber auch dieser Kollege schrieb nichts zum Thema Verbrechen der Wehrmacht. Eigentlich merkwürdig. Versuchen Journalisten nicht auch über das zu schreiben, was sie persönlich bewegt?

Und ich selbst? Auch mein Vater war am Überfall auf die Sowjetunion beteiligt gewesen. Mit seiner Aufklärungseinheit war er bis auf 140 Kilometer vor Moskau gekommen. Wie er mir nach langem Bohren erzählte, war er an der Erschießung von Gefangenen beteiligt. 

Ich machte nur wenig Versuche, das Thema Verbrechen der Wehrmacht deutschen Redaktionen anzubieten. Dafür brauchte es Mut und einen aktuellen Anlass. Für Mainstream-Zeitungen, für die ich hauptsächlich arbeitete, gab es immer wichtigere Themen. Ich ahnte warum. Themen zu den Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion hätte „russischen Altkommunisten“ oder dem „Putin-Regime“ genützt. So ungefähr dachte man in vielen Redaktionen.

Immerhin gelang es mir im Juni 2011, einen Bericht über eine von deutschen Gedenkstätten in Moskau organisierte Ausstellung über sowjetische Zwangsarbeiter, die nach Deutschland verschleppt worden waren, im Internetportal des Russland-freundlichen Korrespondenten Gisbert Mrozek zu veröffentlichen. 

Dass es überhaupt zu dieser Zwangsarbeiter-Ausstellung in Moskau gekommen war, hing wohl damit zusammen, dass es in der Ausstellung nicht nur um die Verschleppung von Sowjetbürgern nach Deutschland ging, sondern auch um sowjetische Filtrationslager, in denen die Zwangsarbeiter nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion politisch überprüft wurden. 

An Aufarbeitung kein Interesse

Was es in Westdeutschland nicht gab, waren Filme, welche das Thema Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion in künstlerischer Weise darstellten, so wie der 1979 im deutschen Fernsehen das erste Mal gezeigte US-Film „Holocaust“, der russische Film „Komm und sieh!“ (Elem Klimow, 1985) oder der DDR-Film „Die Abenteuer des Werner Holt“ (Joachim Kunert, 1965). Filme über die Verbrechen der Wehrmacht hätten helfen können, die Verbrechen unserer Großväter aufzuarbeiten. Aber so lange die noch lebten, gab es dafür keine politische Unterstützung der politischen Elite in Westdeutschland. 

Als die Großväter tot waren, konnten die Grünen das Werk der Großväter fortsetzen. Wo legte Frau Baerbock im Februar 2022 einen Kranz nieder? Ach ja, in Kiew am Denkmal zum Holodomor, der großen Hungersnot, die angeblich von Stalin ausgelöst wurde, um „das ukrainische Volk zu vernichten“. 

„Die Sowjets benutzen sogar Kinder!“

Die Erinnerung an Verbrechen der eigenen Soldaten war in Westdeutschland nie ein öffentliches Thema. Stattdessen erregte man sich in Westdeutschland an der Gedenkkultur der Sowjetunion und später Russlands. Ich erinnere mich noch gut an die 1970er Jahre, als man in Westdeutschland kritisierte, dass in der Sowjetunion Kinder an Gefallenen-Denkmälern als Ehrenwache stehen.

Als dann ab 2012 Hunderttausende Angehörige von Rotarmisten mit Bildern ihre Vorfahren am 9. Mai durch die Straßen Russlands zogen, war man in Deutschland wieder nicht zufrieden. Deutsche Nachwuchs-Historiker krähten etwas von „militaristischem Spektakel“.

Die Westdeutschen – so mein Eindruck – wollten den Sowjetbürgern und später den Russen vorschreiben, wie man „richtig“ der Toten gedenkt. Militärparaden auf dem Roten Platz wurden von westdeutschen Zeitungen als „zu protzig“ runtergemacht. Man vergoss Krokodilstränen über russische Kriegsveteranen, die in Russland immer noch auf eine eigene Wohnung warteten. Aber selbst machte man keinen Finger krumm, um der 27 Millionen getöteten Sowjetbürger zu gedenken oder wenigstens allen Überlebenden der Hunger-Blockade von Leningrad und den noch lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen eine Entschädigung zu zahlen. 

Wäre es eigentlich nicht wünschenswert gewesen, dass deutsche Politiker, wie Willy Brandt 1970 in Warschau, auch auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion an Gräbern der im Kampf gegen die Wehrmacht gefallenen Sowjetsoldaten niederknien? Hätte das nicht geholfen, eine Diskussion in der Gesellschaft in Gang zu bringen und das Verhältnis zu den Völkern der ehemaligen Sowjetunion von Grund auf zu verbessern?

Schuldgefühle will man in Kriegsbereitschaft umwandeln

Schmerz und Schuldgefühle schlummern noch in mancher deutschen Brust. Doch auch für dieses Gefühl gibt es in der deutschen Elite Verwendung. Man versucht es für ein militärisches Auftreten gegen Serbien und Russland zu instrumentalisieren. 1999 behauptete Joschka Fischer, man müsse „ein zweites Auschwitz“ in Jugoslawien verhindern. Heute behaupten Politiker der Grünen, man müsse die Ukraine als Opfer von Hitler und Stalin gegen „den neuen Stalin im Kreml“ militärisch schützen.

Die Bereitschaft, für „unsere Werte“ zu sterben, ist in Deutschland bisher nicht groß. Damit das so bleibt, braucht es noch viel Aufklärungsarbeit.

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Von Ulrich Heyden erschien 2024 das Buch „Mein Weg nach Russland. Erinnerungen eines Reporters“, Verlag Promedia (Wien)