Wird die Türkei den BRICS beitreten – und dort bei allen willkommen sein?
(Red.) Wenn in politischen Diskussionen, zum Beispiel auch im russischen Fernsehen, von der Türkei die Rede ist, wird das politische Verhalten von Präsident Recep Tayyip Erdoğan oft bildhaft dargestellt: er sitze auf mehreren Stühlen. Diese – tendenziell recht opportunistische – Politik hat allerdings nicht verhindern können, dass die türkische Lira in den letzten Jahren dramatisch an Wert gegenüber dem Euro, dem US-Dollar und erst recht natürlich gegenüber dem Schweizer Franken verloren hat. Der Wunsch der Türkei, trotz NATO-Mitgliedschaft der BRICS-Gemeinschaft beizutreten, passt insofern ins Bild. Unser Korrespondent Stefano di Lorenzo berichtet aus Kasan. (cm)
Zu den angesehenen Gästen des BRICS-Gipfels in Kasan gehört auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der am Mittwoch, dem zweiten Tag des Gipfels, eintraf. Es wurde viel über China und Indien, die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt, gesprochen, aber die Türkei ist kein zweitrangiger Gast. Nur wenige wissen, dass der Erfinder des BRIC-Akronyms, der Goldman-Sachs-Banker Jim O’Neill, auch ein Akronym für andere Länder mit wachsenden Volkswirtschaften geschaffen hatte, die die nächsten BRICs werden sollten: MINT. Die Abkürzung stand für Mexiko, Indonesien, Nigeria und eben auch die Türkei, die wie die BRIC-Länder bevölkerungsreiche Länder mit einem großen wirtschaftlichen Potenzial sind. Das Akronym MINT mag nicht so erfolgreich gewesen sein wie BRIC (später BRICS), aber das bedeutet nicht, dass die MINT-Länder ihr wirtschaftliches Wachstumspotenzial und möglichen Einfluss in der internationalen Politik verloren haben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die beiden Gruppen eines Tages zu einer einzigen Gruppe verschmelzen könnten.
Die Türkei ist noch kein Mitglied der BRICS, hat aber bereits mehrfach ihre Absicht bekundet, der Organisation beizutreten. Es ist eine mögliche Mitgliedschaft, die von den offiziellen Verbündeten der Türkei nicht gerade wohlwollend betrachtet wird. Die Türkei ist seit 1952 Mitglied der NATO und hegt seit Jahrzehnten den Wunsch nach europäischer Integration. Ein Wunsch, der im Laufe der Jahre aus vielen Gründen und durch viele Wechselfälle hindurch auf Frustration gestoßen ist.
Seit 1999 ist die Türkei offiziell ein Kandidat für die EU-Mitgliedschaft. Bis vor einigen Jahren sprach selbst der in Europa so unbeliebte Erdogan immer wieder von der europäischen Integration als einer fast notwendigen Entscheidung für die Zukunft seines Landes. Der Wind scheint sich gedreht zu haben. Und das schon seit einigen Jahren. Die Türkei hat es in gewisser Weise satt, einem Europa den Hof zu machen, das sich als schwer fassbare Geliebte erwiesen hat, bei der sich Hoffnungen und klare Absagen abwechselten. Die Gespräche zwischen der Europäischen Union und der Türkei über einen möglichen Beitritt sind seit Jahren zum Stillstand gekommen.
Die Türkei ist immer noch Mitglied des Europarates und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE). Das Land ist auch Mitglied der UEFA, des Europäischen Fußballverbands: türkische Fußballmannschaften nehmen an europäischen Wettbewerben wie der Champions League und der Europa League teil, die türkische Nationalmannschaft nimmt an Europameisterschaften teil. Dies ist sicherlich von geringer politischer Relevanz, aber von großer symbolischer Bedeutung in einem Land wie der Türkei, wo Fußball sehr leidenschaftlich verfolgt wird.
Es ist nämlich etwas, das viele Europäer überraschen wird: Bis vor kurzem haben sich viele Türken als Europäer verstanden. Ihr Staat war säkular geprägt. Bis die Türken entdeckten, dass sie für das heutige Europa vielleicht nie europäisch genug sein werden. In Europa wird viel über die Vielfalt als Stärke gesprochen, doch die politischen Aktionen Europas scheinen heute zu beweisen, dass Einheit und Geschlossenheit die kategorischen Imperative sind, um die sich die europäische Politik konstituiert. Man denke nur an die heftigen Reaktionen der Empörung auf die Politik derjenigen, die nicht auf die allgemeine Linie einschwenken (Orban in Ungarn und Fico in der Slowakei, um zwei neuliche Beispiele zu nennen).
Es gab und gibt viele Hindernisse für eine Türkei in der EU. Nicht nur die Tatsache, dass die Türkei ein mehrheitlich muslimisches Land ist, das traditionell von vielen Rechten in Europa nicht gerne gesehen wird. Das Gewicht der Religion ist heute auch ziemlich relativ. Es gibt auch pragmatischere Gründe, z. B. die Tatsache, dass die Türkei, sollte sie eines Tages Mitglied der EU werden, das bevölkerungsreichste Land in der Union und ein Land mit erheblichem Gewicht im europäischen Parlament sein würde.
Die traditionellen Werte, die Erdogans Türkei zu verkörpern scheint, scheinen auch in keiner Weise mit den Werten übereinzustimmen, die die EU in der Welt fördern will. Europa als Wertegemeinschaft bedeutet heute in erster Linie Fortschritt und einen Bruch mit einer Tradition, die von vielen nur als bedrückend empfunden wird. Dies ist eine Vision, mit der in einem Land wie der Türkei nicht viele einverstanden sein können.
Die Verhandlungen mit der Türkei sind ins Stocken geraten, weil die Türkei heute die Demokratie verloren habe, so hat man behauptet. Weil die türkische Demokratie die Macht an die Falschen übergibt, an Autokraten wie Erdogan. Abstimmungen und Demokratie können sich also auch als undemokratisch erweisen, so die europäische Logik. Die Praxis scheint jedoch zu zeigen, dass es der EU oft gelingt, ein Auge zuzudrücken, wenn die Demokratie nicht perfekt ist — wenn ein Land die richtige geopolitische Ausrichtung nimmt. Bei der NATO geht es auch auf eine ähnliche Weise. Theoretisch wäre Demokratie eine unentbehrliche Voraussetzung. Die Erfahrung hat oft etwas anderes gezeigt.
Aber wie wäre es dann für die Türkei möglich, die NATO-Mitgliedschaft mit einer Mitgliedschaft in den BRICS zu verbinden?
„Die Türkei ist unabhängiger als viele andere NATO-Mitglieder“, sagt Ferdi, einer der vielen türkischen Journalisten, die den BRICS-Gipfel in Kasan besuchen.
„Die Türkei hat ihre eigene Kultur, eine andere als die westeuropäischen Länder. Wir können uns mehr Flexibilität leisten.“
Die Türkei hatte bereits in den vergangenen Jahren Unabhängigkeit bewiesen, als sie S-400 Anti-Ballistik-Raketen von Russland kaufte. Die Entscheidung der Türkei hatte Feindseligkeit und Besorgnis in Washington ausgelöst. Die USA drohten, die Türkei von künftiger Zusammenarbeit auszuschließen, den Kauf von F-35-Kampfjets zu verhindern und sogar Sanktionen zu verhängen.
Viele Jahre lang waren die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland äußerst angespannt, insbesondere wegen des Krieges in Syrien, wo die Türkei und Russland auf gegnerischen Seiten standen. Als die Türkei im November 2015 ein russisches Kampfflugzeug über Syrien abschoss, das den russischen Luftraum für einige Sekunden verletzt hatte, schien eine offene Konfrontation zwischen den beiden Ländern programmiert zu sein. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Russland verbesserten sich aber nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei im Juli 2016. Putin soll damals Erdogan am Telefon gewarnt und Unterstützung zugesagt haben.
Heute werden Russland und die Türkei von vielen als Verbündete angesehen — und das trotz der Tatsache, dass die Türkei NATO-Mitglied ist, Waffensysteme an die Ukraine liefert und die russische Invasion verurteilt hat. Doch die Türkei hat sich den westlichen Sanktionen nicht angeschlossen und will weiterhin pragmatische Beziehungen zu Russland pflegen. Die Türkei hat sich wiederholt als Vermittler angeboten, um den Krieg in der Ukraine irgendwie zu beenden.
Russland spielt bei den BRICS zwar eine wichtige Rolle, aber bei den BRICS geht es eben nicht nur um Russland. Was will die Türkei von den BRICS? Was erwartet die Türkei von den BRICS? Was können die BRICS der Türkei bieten? Die BRICS waren viele Jahre lang in erster Linie eine Plattform, bei der viele verschiedene Länder zusammenkamen, um sich auszutauschen. Länder, die aus vielen Gründen das Gefühl hatten, dass der Westen sie nicht richtig einschätzt.
„Die Türkei wird heute wahrscheinlich nicht Mitglied der BRICS werden, aber ich hoffe, dass sie es in Zukunft werden kann“, sagt Hakan, ein anderer türkischer Journalist.
BRICS ist eine Gruppe von Ländern, die sich als inklusiv definieren will. Es handelt sich um verschiedene Länder, die sich ihrer Unterschiede bewusst sind. Trotzdem wollen sie sich treffen, sprechen und Initiativen unternehmen, um die Zukunft aus ihrer Sicht gerechter zu gestalten.
Die Türkei hat ihre Bereitschaft, der Organisation beizutreten, deutlich zum Ausdruck gebracht. Auf den ersten Blick hätte sie nicht viel zu verlieren. Aber man denke zum Beispiel an den Fall Saudi-Arabien, das im letzten Jahr dazu bestimmt schien, eines der neuen Mitglieder zu werden. Heute hängt der Beitritt Saudi-Arabiens zu den BRICS in der Schwebe, das Land zögert die Ratifizierung der für die Mitgliedschaft erforderlichen Dokumente hinaus. Man spricht von Druck seitens der USA, dem traditionellen Verbündeten Saudi-Arabiens, die die Aussicht, dass ein großer Erdölproduzent und OPEC-Mitglied einer als feindlich empfundenen Organisation beitritt, nicht gerade mit Begeisterung betrachten. Die Türkei könnte sich bald in einer ähnlichen Lage befinden.