Wird die NATO künftig von einer Frau aus einem Ministaat an der russischen Grenze geführt?
(Red.) Nur wenige kennen Estland, das nördlichste und kleinste Land der drei baltischen Staaten im Nordosten Europas, direkt an Russlands Grenze, persönlich. Auch dort leiden die russischsprachigen Bevölkerungsteile unter dem behördlich geförderten Russenhass, die Wirtschaft ist nicht besonders erfolgreich und die Kluft zwischen Arm und Reich ist groß. Aber Ministerpräsidentin Kaja Kallas hat öffentlich bekanntgegeben, dass sie bereit wäre, Generalsekretärin der NATO zu werden: als erste Osteuropäerin und als erste Frau. Auch in Brüssel will sie eine gewichtigere Rolle spielen. Sie gehört zu jenen politischen Karriere-Frauen, die den Männern zu zeigen bereit sind, was für Weicheier sie sind. – Stefano di Lorenzo war in Estland und hat sich umgesehen. (cm)
Vor einigen Tagen, am 24. Februar, feierte Estland, wie jedes Jahr, den Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Diese wurde 1918, während des Ersten Weltkriegs, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes erlangt. Auf dem Freiheitsplatz von Tallinn fahren inmitten eines blau-schwarz-weißen Fahnenmeeres Panzer vor und marschieren Soldaten in Uniform. Gegen Abend zieht ein Fackelzug durch die Straßen der Altstadt. Er ist seit Jahren von der konservativen Volkspartei Estlands (EKRE), der zweitstärksten Partei des Landes bei den Wahlen im vergangenen Jahr, und ihrer Jugendorganisation Sinine Äratus („Blaues Erwachen“) organisiert. Auf einem Transparent ist zu lesen: „Usume Eestisse!“, zu Deutsch: „Wir glauben an Estland!“. Vor einigen Jahren waren die Slogans der Partei deutlicher: „Estland für Esten!“. Ein nicht allzu versteckter Hinweis auf die russische Minderheit des Landes, die ein Viertel der Bevölkerung ausmacht. Für viele ist allein schon ihre Existenz ein destabilisierendes und unerwünschtes Element.
Auf den Straßen der schönen estnischen Hauptstadt Tallinn ist die russische Sprache nach wie vor präsent, in den Supermärkten hört man oft Russisch, an den Kiosken werden viele Zeitungen auch auf Russisch verkauft. Die Hälfte der Bevölkerung Tallinns soll russischsprachig sein. Narva, an der Grenze zu Russland gelegen, ist mit etwa 53.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt des Landes. Hier sind praktisch alle russischsprachig. Wenn jemand Estnisch sprechen würde, würde das für Aufsehen sorgen. Aber im ganzen Land bleibt ausschließlich Estnisch die Amtssprache.
Die estnische Regierung unter der Führung der zentristischen „Reform“-Partei Kaja Kallas‘ hat beschlossen, dass im Land kein Platz für russischsprachigen Unterricht sein wird. Russischsprachige Schulen, ein „Erbe der sowjetischen Besatzung“, müssen geschlossen werden.
„Das war ein großes Problem, und ich stimme zu, dass es schon vor langer Zeit hätte gelöst werden müssen. Aber besser spät als nie. Wir müssen auf jeden Fall vorankommen“, so Premierministerin Kallas.
Hier in Estland kann der Unterricht in der Muttersprache offensichtlich nicht für alle ein Recht sein. Die Gefahr russischsprachiger Schüler in Estland ist offenbar eine zu große Bedrohung für die kleine Nation.
Eine zerbrechliche Identität
Am 24. Februar 1918, wenige Monate nach der bolschewistischen Revolution, der zweiten Revolution in Russland innerhalb weniger Monate, inmitten des russischen Bürgerkriegs, erklärte das estnische Rettungskomitee die Unabhängigkeit des Landes. Zum ersten Mal in der Geschichte existierte Estland als unabhängiger Staat. Seit dem 13. Jahrhundert war das Gebiet des heutigen Estlands von den Dänen, den Deutsch-Balten, den Polen, den Schweden und schließlich den Russen besetzt worden. Ende des 19. Jahrhunderts begann sich bei den Esten ein Nationalbewusstsein zu entwickeln. Am Tag nach der Verkündung der Unabhängigkeit wurde Tallinn, die Hauptstadt des neuen Staates, nach dem Rückzug der bolschewistischen Truppen, von Soldaten des Deutschen Reiches eingenommen. Dieses erkannte die Unabhängigkeit des Landes aber nicht an. Die deutschen Truppen verließen Estland erst neun Monate danach, im November, nach dem Ende des Krieges. Wenige Tage später versuchten die russischen Bolschewiki, die nach der Revolution ihre Macht gefestigt hatten, erfolglos, die Gebiete des untergegangenen russischen Zarenreiches an der Ostsee zurückzuerobern. Mit dem Vertrag von Tartu im Jahr 1920 erkannte die Sowjetunion Estland an.
Zwanzig Jahre später wurde Estland nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt von der Sowjetunion annektiert. Es blieb in der Sowjetunion bis 1991, als der Oberste Rat Estlands die Unabhängigkeit des Landes wiederherstellte. Die Sowjetunion, durch den Fall der Berliner Mauer, die Kriege an ihrer Peripherie — in Georgien und Berg-Karabach, um zwei Beispiele zu nennen — und in Afghanistan sowie durch die Lähmung ihrer Wirtschaft traumatisiert, konnte nur tatenlos zusehen. Bald würde die so genannte „Parade der Souveränitäten“ beginnen und die Sowjetunion würde nicht mehr existieren.
2004 trat Estland der NATO und der Europäischen Union bei. Russland, das der NATO-Erweiterung nicht positiv gegenüberstand, musste sich damit abfinden. Zusammen mit Estland traten 2004 sechs weitere Staaten des ehemaligen kommunistischen Blocks der NATO bei.
Heute leben in Estland 1,3 Millionen Menschen. Davon sind weniger als eine Million Esten. Der Rest sind meistens Russen. Damit ist Estland das Land mit der viertniedrigsten Bevölkerungszahl in der EU, nur Luxemburg und die Inseln Zypern und Malta haben weniger Einwohner. Estland hat auch eine der niedrigsten Bevölkerungsdichten der Welt, nämlich 28 Einwohner pro Quadratkilometer, womit es auf Platz 188 der Weltrangliste liegt.
Dünn besiedelt, von den Traumata der jüngeren Geschichte geplagt, von einem großen, als ständige Bedrohung empfundenen Nachbarn beunruhigt und um sein eigenes Überleben besorgt, konnte sich das kleine Estland anscheinend nur als „Natiokratie“, als „Estland für Esten“, neu erfinden. Ethnozentrismus wurde für Estland das Grundelement einer fragilen Identität.
„Estland hat eine gemeinsame Grenze und eine lange Geschichte mit Russland. Große Länder können Fehler machen und überleben. Aber kleine Länder haben einen viel geringeren Spielraum für Fehler. Für uns ist es Notwendigkeit, die russische Aggression in der Ukraine zu stoppen, es ist eine existenzielle Frage. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir Esten alles an den sowjetischen Terror verloren: Wir haben unser Territorium, unsere Freiheit und ein Fünftel unserer Bevölkerung verloren. Ein halbes Jahrhundert lang wurden wir hinter dem Eisernen Vorhang vergessen und im Stich gelassen“, so die estnische Premierministerin Kaja Kallas.
Trotz der häufigen Beschwerden über die Zunahme von Nationalismus und Populismus in Estland kann man sagen, dass Europa, das den Multikulturalismus zu einem der Grundpfeiler seines Glaubensbekenntnisses gemacht hat, damit absolut kein Problem hat.
Jeanne d’Arc von Tallinn
Über Estland und seine Ministerpräsidentin Kaja Kallas hört man in den letzten Jahren meist sehr positive, manchmal sogar begeisterte Worte. „Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas ist eine der klarsten und mutigsten Führungspersönlichkeiten der heutigen Welt. Wir brauchen mehr Frauen wie sie an der Spitze“, schrieb zum Beispiel die ukrainische Journalistin Olga Tokariuk. Auch der britische Historiker Timothy Garton Ash, Professor für European Studies an der Universität Oxford, lobte sie. „Die Kraft, Offenheit und moralische Klarheit ihrer Argumente fallen sofort auf“, schrieb die britische Wochenzeitung The New Statesman.
Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist Kaja Kallas, die kürzlich von Russland auf eine Fahndungsliste gesetzt wurde, zu einer der stärksten Unterstützerinnen des ukrainischen Kampfs geworden. Estland gilt als der größte Pro-Kopf-Geber von Militärhilfe für die Ukraine. Schon vor dem Anfang der letzten Phase des Krieges in der Ukraine meinte Kallas, mit Putin sollte man nicht sprechen. „Kein Frieden zu Putins Bedingungen. Russland muss aus der Ukraine vertrieben werden“, schrieb die estnische Premierministerin in einem Artikel, der im Dezember 2022 in der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs erschien.
„Jetzt ist nicht die Zeit, auf einen verfrühten Frieden zu drängen. Solange Russland nicht sein Ziel aufgibt, neue Gebiete in der Ukraine zu erobern, haben Friedensgespräche kaum eine Chance, etwas zu erreichen. Die Geschichte zeigt, dass Beschwichtigung die Aggressoren nur stärkt und ermutigt und dass die Aggressoren nur mit Gewalt gestoppt werden können“, so Kallas. Die estnische Ministerpräsidentin vertrat also die Ansicht, dass der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nur mit militärischen Mitteln gelöst werden könne.
Auf unsere Frage, ob angesichts des bescheidenen Abschneidens der Ukraine auf dem Schlachtfeld im Jahr 2023 ein anderer Ansatz denkbar sei, antwortete eine Pressesprecherin der estnischen Ministerpräsidentin, dass sich die Position Estlands nicht geändert habe, und verwies auf zwei kürzlich gehaltene Reden von Kaja Kallas.
„Angst ist eine Falle, die Putin gegen uns alle in der freien Welt aufgestellt hat. Die Drohungen der russischen Führung und die Bilder von Atomexplosionen, die im russischen Staatsfernsehen ausgestrahlt werden, sollen unsere Menschen verängstigen und unsere Entscheidungen beeinflussen. […] Ich werde immer wieder gefragt, was Putin tun würde, wenn Russland verliert. Meine Antwort: Wir sollten uns mehr Sorgen darüber machen, was er tun wird, wenn Russland gewinnt. Und es hat keinen Sinn, sich weiterhin zu fragen, ob Estland Angst hat oder ob Polen das nächste Land sein wird. Vergessen Sie nicht, dass die Frage eigentlich lautet, ob die NATO die nächste sein wird. Wir alle haben etwas damit zu tun. Wenn Russland in der Ukraine besiegt wäre, bräuchten wir diese Frage nicht zu stellen. Wir sollten uns also nicht verzetteln, sondern alles tun, um die Ukraine dabei zu unterstützen, Russland in ihr Gebiet zurückzudrängen“, sagte Kallas bei dem Matthiae-Mahl 2024 in Hamburg. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz war dabei.
„Es ist zwei Jahre her, dass Russland seinen umfassenden Krieg begonnen hat. Jeden Tag zeigen die Ukrainer, was Mut wirklich bedeutet. Wir stehen zur Ukraine, weil sie die Sicherheit von ganz Europa verteidigen. Ich glaube an den Sieg der Ukraine und daran, dass Russland besiegt werden kann“, teilte die estnische Premierministerin kürzlich auf X mit.
Trotz der Tatsache, dass die Strategie des Westens im letzten Kriegsjahr wenig Erfolg gebracht und den Konflikt letztlich vor allem angeheizt hat — die Ukraine hätte ohne Gebietsverluste davonkommen können und war sogar bereit, im April 2022 mit Russland zu verhandeln und die Neutralität zu akzeptieren —, hat die stille estnische Premierministerin nicht die Absicht, ihren Ansatz zu revidieren und will sich Russland gegenüber weiterhin als neue Eiserne Lady zeigen. „Wir sind eine kleine, aber kämpferische und zähe Nation“, sagte Kallas.
Sie ist eine der wenigen Stimmen, die immer noch klar von einem ukrainischen Sieg sprechen. Mit Sieg ist die Rückeroberung des ganzen ukrainischen Territoriums, die Halbinsel Krim eingeschlossen, gemeint. Ein hoher Anspruch. Das scheint aber Kallas keine Sorgen zu machen.
Eine strahlende Zukunft
Neben Lob könnte Estlands kompromisslose Haltung Kallas sogar eine Beförderung einbringen: Die derzeitige estnische Ministerpräsidentin ist für die bevorstehenden Europawahlen im Juni als Spitzenkandidatin der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE) im Gespräch. Es handelt sich um das Bündnis, zu dem unter anderem die deutsche FDP und auch der abtretende niederländische Ministerpräsident Mark Rutte gehören. Andere meinen, Kallas könnte sogar die neue NATO-Generalsekretärin werden und den derzeitigen Jens Stoltenberg ablösen.
Während Kallas für die EU und die NATO als die perfekte Politikerin und die Retterin Europas in einer korrupten Welt dargestellt wird, werden in Estland mehr und mehr Stimmen der Unzufriedenheit laut: „In wessen Interesse arbeitet die Premierministerin?“, fragte sich beispielsweise der estnische Journalist und Parlamentarier Aleksandr Tschaplygin. „25% der Bevölkerung leben heute in Armut. Fünf Prozent der Familien in unserem Land kontrollieren 95% des Reichtums des Landes. Die Wirtschaft befindet sich seit acht aufeinanderfolgenden Quartalen in der Rezession“, so der Politiker der Estnischen Zentrumspartei.
Die wirtschaftlichen Folgen des Krieges in der Ukraine und der Sanktionen seien in Estland besonders schwerwiegend. Es ist aber nicht wichtig: In dem uralten Dilemma zwischen Brot und Kanonen zeigt die estnische Premierministerin, dass sie eindeutig die Kanonen bevorzugt. Das hat letztendlich ihren internationalen Stand in den letzten Jahren nur noch erhöht. Schulen schließen, Waffen liefern!
Zu Hause hat der Ruf der Kallas-Regierung im vergangenen Jahr aber auch stark gelitten, als bekannt wurde, dass ein Transport-Unternehmen, an dem Kaja Kallas‘ Ehemanns beteiligt ist, weiterhin mit Russland zusammenarbeitete. Kaja Kallas ist in dritter Ehe mit dem estnischen Investmentbanker Arvo Hallik verheiratet. Einige forderten sogar den Rücktritt der Ministerpräsidentin, nur wenige Monate nach den Wahlen, bei denen sie „triumphierend“ bestätigt worden war.
Selbst unter den Ukrainern, die in Estland Zuflucht gefunden haben, macht sich Unzufriedenheit breit. „Ich habe ein Jahr lang hier gelebt, aber ich habe beschlossen, in die Ukraine zurückzukehren, nach Saporoshje, meiner Heimatstadt“, erzählt Maria, eine ukrainische Frau in Tallinn. „Mein Sohn ist 17 und er bleibt hier, es gefällt ihm, er geht zur Schule. Aber ich habe das Gefühl, ein Jahr meines Lebens weggeworfen zu haben, ein Jahr, das ins Leere gegangen ist. Ich reise am Samstag ab, und am Montag werde ich bereits auf der Arbeit erwartet. Selbst 30 Kilometer von der Frontlinie entfernt ist es für mich besser als hier. Meine Stadt lebt weiter, die Menschen arbeiten, haben Kinder“, erzählt die studierte Buchhalterin.
Ob Kaja Kallas, die privilegierte Tochter eines ehemaligen estnischen Ministerpräsidenten und EU-Kommissars, Zeit hat, solche Geschichten zu hören? Oder ist sie nur an dem nächsten Schritt in ihrer perfekten Karriere interessiert? Wird Kaja Kallas bald die nächste Ursula von der Leyen?