Wikileaks: die beschämende Fortsetzung der Verfolgungsjagd
Als Julian Assange nach 14 Jahren erstmals als freier Mensch wieder australischen Boden betritt, nehmen der Zürcher «Tagesanzeiger» und die «Neue Zürcher Zeitung» die Verleumdungskampagne gegen den Wikileaks-Gründer wieder auf.
Um zu verstehen, was hier passiert, kann ein Rückblick helfen. 1971 wurden in den USA die Pentagon Papers publik, ein Geheimbericht der Regierung, aus dem hervorging, dass der Krieg in Vietnam weitergeführt wurde, obwohl er nicht zu gewinnen war. Daniel Ellsberg, ein Mitarbeiter der «Rand Corporation», hatte Einsicht in das Dokument erhalten und ging als Whistleblower damit an die Presse. Die Regierung Nixon versuchte, die Publikation zu verhindern, Ellsberg gelang es aber, in letzter Minute vor seiner Festnahme die 7000 Seiten auf einer Kopiermaschine auszudrucken und weiterzugeben.
Diese technischen Probleme hat Wikileaks heute nicht mehr. Die Whistleblower-Plattform hat Millionen von Dokumenten per Tastendruck ins Netz gestellt. Aber etwas Fundamentaleres hat sich auf erschreckende Weise seit damals verändert. 1971 hielt der Oberste Gerichtshof der USA fest, dass die Publikation rechtmässig war. Das Interesse der Öffentlichkeit und die Pressefreiheit seien höher zu werten als das Geheimhaltungsinteresse des Staates. Vier Jahrzehnte später war es umgekehrt: Kein Gericht mahnte Grundrechte an, kein Gericht verwies auf Pressefreiheit, wie sie im First Amendment der Verfassung der USA festgelegt ist. Die Regierung der USA begann eine Hetzjagd auf den Wikileaks-Gründer, beurteilte die Plattform als kriminell und versuchte, sie zu zerschlagen.
1971 hatten zwei führende Zeitungen der Ostküste, die «New York Times» und die «Washington Post», den Mut zu einer Publikation, die das Justizministerium als gesetzwidrig ansah und mit allen Mitteln blockieren wollte. Die Zeitungen beharrten auf ihrer Verpflichtung zur Wahrheitssuche und auf ihrem journalistischen Ethos. Sie nahmen als Vierte Gewalt die Aufgabe wahr, das Handeln einer Regierung aufzudecken, die ihr eigenes Volk belog. Damit trugen sie dazu bei, einen sinnlosen Krieg zu beenden.
Wikileaks beharrt auf denselben Grundsätzen. Die Plattform sieht sich als Anlaufstelle für Whistleblower, die „unethisches Verhalten ihrer Regierungen oder Unternehmen aufdecken wollen“.
Führende Medien wie das deutsche Magazin «Der Spiegel» oder der britische «Guardian» arbeiteten zwar in den Anfängen mit Wikileaks zusammen, und die Enthüllungen der Plattform haben bis heute einen Impakt in internationalen Medien.
Die rechtliche Situation ist aber grundsätzlich verschieden. Wikileaks wird von den USA als feindlicher Spionage-Dienst betrachtet. Spätestens seit 2017 ist bekannt, dass US-Geheimdienste Pläne für die Entführung und Ermordung des Julian Assange schmiedeten. Die Versuche der US-Regierung, Wikileaks durch juristische Verfahren auf den Internet-Plattformen zu blockieren oder diese zu Auskünften über Wikileaks-Personal zu zwingen, füllen gefühlt einen Schiffscontainer mit Aktenordnern.
Julian Assange wurde unter fadenscheinigen Vorwürfen eines Sexualdeliktes, die sich als haltlos erwiesen haben, in Schweden vernommen. Er flüchtete dann in London in die Botschaft von Ecuador, weil er – zweifellos zu Recht – befürchten musste, dass Schweden ihn an die USA ausliefern würde, wo ihm 175 Jahre Haft wegen Spionage drohten. Nach langjähriger Einzelhaft in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis kam er schliesslich Ende Juni 2024 frei, indem er sich in Teilaspekten der Vorwürfe als schuldig bekannte. Es war ein Deal mit politischem Hintergrund. Präsident Joe Biden, der Assange früher als eine Gefahr für die Sicherheit der USA bezeichnet hatte, will möglicherweise mit dem Deal im Wahlkampf Punkte sammeln. Die Geschichte Assanges ist hinlänglich bekannt, sie wird aber – je nach politischer Position – völlig gegensätzlich erzählt.
Nils Melzer, ehemaliger UNO-Sonderberichterstatter für Folter, spricht schwedisch und hatte Zugang zu den Akten in Stockholm. In seinem Buch „Der Fall Julian Assange“ hat er nachgewiesen, wie mit falschen Angaben und Verdrehung von Fakten eine Art falsches „Dossier Assange“ fabriziert wurde, das bis heute reflexartig von Journalisten zitiert wird, die zeigen wollen, dass Assange eine „umstrittene Figur“ sei. So wurden Jahre lang die falschen Behauptungen kultiviert, er sei in Stockholm wegen „Vergewaltigung“ vernommen wurden und hätte sich durch Flucht nach London der Strafverfolgung in Schweden entzogen.
Medien wie die «Neue Zürcher Zeitung», die die Geostrategie der USA und der von ihr dominierten NATO entschieden unterstützen, haben seit den Nullerjahren selten eine Gelegenheit ausgelassen, in diese Kerbe zu hauen. Bis heute bezeichnet die NZZ Assange als „frauenfeindlichen Egomanen“. In Ermangelung von Argumenten gegen die Plattform fokussiert man auf den „schlechten Charakter“ ihres Gründers. Als Assange nach 14 Jahren der Verfolgung letzte Woche erstmals als freier Mensch in Australien eintraf, statuierte die NZZ unter der Schlagzeile „Ein falscher Held“ das Verdikt: „Ethische Standards kümmerten ihn nicht.“
Da wird einmal mehr der Vorwurf erhoben, Assange und sein Team hätten die Daten über Verbrechen der US-Armee im Irak und in Afghanistan nicht ungefiltert und kommentarlos publizieren dürfen. Die NZZ schreibt: „Damit verstiess er nicht nur gegen die journalistische Ethik und alle Sorgfaltspflichten, sondern leistete auch das nicht, was die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten ausmacht: Fakten einzuordnen, Geschehnisse zu erklären, und darzulegen, welche Folgen Ereignisse haben könnten.“
Durch die Enthüllungen der Verbrechen in Afghanistan, im Irak und in anderen Kriegen der USA sei das Leben von Informanten gefährdet worden, wird durchgehend argumentiert. Was aber nicht gesagt wird: Das State Department in Washington konnte nie beweisen, dass Informanten tatsächlich auf diese Weise in Gefahr gekommen waren, und antwortete auf Journalistenfragen in der Regel mit Ausflüchten. Daniel Ellsberg, der die Pentagon Papers enthüllte, sagte auf BBC: „Das ist das Skript, das sie jedesmal aufrollen, wenn es ein Leck gibt.“ Nicht die Lecks der Whistleblower brächten Menschen in Gefahr, „sondern die Geheimdienste und ihre Lügen“, so Ellsberg.
Noch schärfer als die NZZ schiesst der Zürcher Tagesanzeiger gegen Assange. Mit dem Titel „Die zwei Gesichter des Julian Assange“ konstatiert das Blatt, der „janusköpfige“ Wikileaks-Gründer sei zwar für Menschenrechtler und viele Medien ein „Aufklärer demokratisch-imperialer Willkür“ (wobei dem Autor der Widerspruch zwischen „demokratisch“ und „imperialer Willkür“ nicht klar zu sein scheint), aber er habe auch „eine dunkle Seite“. Assange sei nämlich „ein willfähriger Helfer oder gar nützlicher Idiot einer autoritären Macht“. Diese Macht ist selbstverständlich der Kreml.
Das Wording fügt sich ein in die neue Logik der „Zeitenwende“, die fast kein Übel im Westen mehr erkennen kann, das nicht auf russischer Desinformation und Putin-Propaganda beruht. Die Verschwörungsphantasien begannen spätestens mit der Erzählung, Hillary Clinton habe 2016 die Wahlen gegen Donald Trump verloren, weil Wikileaks als Gehilfe von Wladimir Putin den Mailverkehr Clintons publik gemacht habe. Die Paranoia hat im Westen ein solches Ausmass erreicht, dass es nicht erstaunen würde, wenn morgen früh gemeldet würde, an den Verspätungen der deutschen Bahn und der Altersschwäche des Joe Biden seien russische Agenten schuld.
Assange – das weiss der Tagesanzeiger – „sieht die USA als böswilliges Imperium, das sich überall einmischt und weltweit Menschen umbringt.“ Dies sei natürlich Wasser auf die Mühlen der Russen. Assange gab dem russischen Sender Russia Today Interviews und leitete 2012 kurzzeitig dort eine Talkshow. Das allein ist für führende Medien Grund genug, ihn als Agenten des Kremls zu definieren. Dass Assange aber hundert anderen westlichen Medien Interviews gab und mit westlichen Leitmedien wie dem «Spiegel» über Jahre hinweg redaktionell eng zusammenarbeitete, kann weder einen Tagesanzeiger noch eine Neue Zürcher Zeitung dazu bewegen, in Assange einen „Agenten des Westens“ zu erkennen. Sie sehen stets nur, was sie sehen wollen.
Wikileaks (von hawaiisch „wiki“ schnell und englisch „leaks“ Lecks) war zunächst weltweit nicht auf die USA fokussiert. Die Plattform deckte ein breites Themenspektrum ab, das von Menschenrechtsverletzungen afrikanischer Diktaturen, über Regimekritiker in China, Delikte von Banken bis hin zu krimineller Giftmüllentsorgung ging. Es war indessen nicht mehr als logisch, dass eine Whistleblower-Plattform, die sich zum Ziel gesetzt hat, geheime Machenschaften zu enthüllen, die von öffentlichem Interesse sind, früher oder später mit der Grossmacht USA kollidieren musste, die mit rund tausend militärischen Stützpunkten rund um die Welt ihr Wirtschaftssystem und ihre Geostrategie durchsetzt.
2012 veröffentlichte Wikileaks fünf Millionen Dokumente des texanischen Unternehmens «Stratfor» (Strategic Forecasting), welches ähnlich wie ein Intelligence Service arbeitet und mit den US-Geheimdiensten beratend im Austausch steht. Dort ist unter anderem ein Mailverkehr zu sehen, wo beraten wird, wie die Hetzjagd auf Assange zu inszenieren sei: «Move him from country to country to face various charges for the next 25 years», liest man dort. Vorgeschlagen wird Anklage wegen «Verschwörung» und «Politischem Terrorismus» sowie die Deklassifizierung eines Informanten, dessen Tod man mit Wikileaks in Verbindung bringen könne. Diskutiert wird auch das Problem, dass Assange im Gefängnis zum Märtyrer werden könnte.
Für sein Buch „Die Weltbeherrscher“ hat der Journalist Armin Wertz unter anderem die Drohneneinsätze der USA recherchiert. Er zählt auf 25 Seiten rund 500 Drohnenangriffe auf, die zwischen 2004 und 2016 publik wurden. Die wirkliche Zahl dürfte weit höher liegen, weil viele Angriffe geheim bleiben. Mit diesen Drohnen beseitigt die Regierung in Washington Menschen, die für „Feinde der USA“ gehalten werden, durch aussergerichtliche Hinrichtungen.
Wenn ein Julian Assange und sieben Computer-Freaks sich mit den USA anlegen, sind ihre Erfolgsaussichten wie diejenigen der Maus, die in der Rush Hour in Los Angeles über die Autobahn läuft. Es zeugt von einer grossen Naivität zu glauben, die mächtigste Militärmacht der Welt antworte mit feingeistigen, juristischen Erwägungen, wenn jemand es wagt, ihr die schlimmsten Kriegsverbrechen nachzuweisen. Die Journalisten und Journalistinnen, die schreiben, Assange hätte seine Millionen Dokumente „journalistisch einordnen“ müssen, um Schaden zu vermeiden, ignorieren die Wirklichkeit, in der sie leben.
Assange argumentierte stets, das öffentliche Interesse an der Publikation (und Ahndung) grosser Kriegsverbrechen sei grösser als der Schutz einzelner, die in diese Verbrechen auf die eine oder andere Art involviert gewesen seien.
Aber ganz abgesehen vom vielbeschworenen journalistischen Ethos, wie soll man sich die damalige Situation denn vorstellen?
Dass ein paar vom CIA gesuchte Programmierer in ihrem Versteck hocken und nachts hunderttausende Files analysieren, daraus korrekte journalistische Artikel machen und damit am nächsten Morgen diskret bei den grossen Medien hausieren gehen? Bei denselben Medien, die täglich bedient werden mit Warnungen vor einer feindlichen Spionage-Gruppe namens Wikileaks? Allein das Pentagon unterhält etwa als 40tausend PR-Leute, die in ihren Thinktanks, ihren Investigativ-Teams, ihren Universitäts-Instituten nichts anderes machen, als den Medien weltweit zu erklären, wo der Feind hockt. Spätestens ab 2012 galt in den Medien Alarmstufe dunkelrot in Bezug auf Wikileaks. Man war vorgewarnt, weil aus USA verlautete, Wikileaks sei nicht zu trauen, Assange verbreite „russische Desinformation“. Dass viele Medien bis heute diese verquere Sichtweise vertreten, zeigen die Reaktionen der «Neuen Zürcher Zeitung» und des Zürcher «Tagesanzeigers» der vergangenen Tage.
Sarah Harrison, Mitarbeiterin im Wikileaks Team, wusste was sie tat, als sie Edward Snowden im Sommer 2013 in Hongkong begleitete, wo er die weltweite Überwachungspraxis der Geheimdienste der USA und Grossbritanniens aufdeckte. Und Snowden wusste, was er tat, als er in Russland um Asyl bat, denn den europäischen Staaten wie Schweden oder Deutschland war nicht zu trauen. Sarah Harrison hatte mit eigenen Augen gesehen, wie es Assange ergangen war. Dieses Schicksal sollte Snowden erspart bleiben.
Letztendlich war es verständlich, dass Assange sich lieber in die Botschaft von Ecuador flüchtete und dort Jahre lang ausharrte, als von Schweden an die USA ausgeliefert zu werden und sein Lebensende im Gefängnis zu erwarten. In welcher Welt, in welchem Gedankengebäude leben Journalisten, die heutzutage immer noch fordern, Assange hätte „den Rechtsweg gehen“ und „journalistische Ethik“ befolgen müssen?
Assange ist endlich frei, aber die ganze Story hat einen bitteren Nachgeschmack. Die USA haben erreicht, dass er ein Schuldgeständnis unterschrieben hat. Sie haben einen Präzedenzfall geschaffen, der für alle unabhängigen Journalisten eine Warnung sein soll. Wer es wagt, die Imperialmacht herauszufordern, wird künftig in die Hölle geschickt, in die Assange gegangen ist.
Wie man sieht, war es nicht nötig, ihn physisch zu beseitigen. Es genügte vollauf, ihn wie einen Verbrecher zu jagen und ihn am Ende in Jahren der Einzelhaft in einem Hochsicherheitsgefängnis psychisch und physisch zu beschädigen.
Siehe dazu auch «Schlechte und gute Nachrichten zu Julian Assange» (von Christian Müller aus dem Jahr 2021)