Wiedergelesen II:  „Russland verstehen?“ und „Eiszeit“ von Gabriele Krone-Schmalz 

(Anmerkung der Redaktion): Die heutige Konfrontation zwischen dem Westen und Russland, deren Eisbergspitze der aktuelle Krieg in der und um die Ukraine darstellt, hat eine lange Vorgeschichte. Bereits vor Jahren erschienen Bücher, die die sich damals schon abzeichnenden Spannungen trefflich auf den Begriff brachten und die zu lesen sich auch heute lohnt.Unter der Rubrik „Wiedergelesen“ veröffentlichen wir in unregelmäßigen Abständen Besprechungen von Büchern, die jetzt immer noch – besser: wieder – brandaktuell sind. Das Rad muss durchaus nicht zum hundertsten Male neu erfunden werden! Heute geht es um die Wiederveröffentlichung von zwei Bänden der bekannten Russlandexpertin Gabriele Krone-Schmalz, die seit Russlands Angriff auf die Ukraine im Buchhandel nicht mehr erhältlich waren.

Wenn jemand in der heutigen Zeit – und zwar nicht erst seit dem 24. Februar letzten Jahres oder seit dem Euro-Maidan 2013/14 – gegen den reißenden Medienmainstream schwimmend immer noch versucht, ein differenziertes Russlandbild zu zeichnen und zu vermitteln, dann hat er dafür einen Preis zu zahlen. Die ehemalige ARD-Korrespondentin in Moskau, Gabriele Krone-Schmalz, könnte davon ein Lied singen. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist die als ‚Russland-‘, gar ‚Putinversteherin‘ apostrophierte Journalistin – wie all diejenigen, die zumindest eine westliche Mitschuld an der Eskalation diagnostizieren – noch stärkeren medialen Attacken ausgesetzt als bereits zuvor. 

Nach dem russischen Angriff hatten Krone-Schmalz und der C.H.Beck-Verlag, in dem ihre letzten Bücher alle erschienen waren, einvernehmlich beschlossen, den offiziellen Verkauf der Bände „Russland verstehen – Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens“ (Erstveröffentlichung 2015) und „Eiszeit – Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“ (Erstveröffentlichung 2017) auf Eis zu legen, weil deren Titel im Kontext der aktuellen Ereignisse verletzend oder gar zynisch hätten wirken können. Nun sind, nach einer anderthalbjährigen Karenzzeit, beide Bände, ergänzt um aktualisierende Vorworte, wieder erhältlich – und zwar im Westend-Verlag, der sich in den vergangenen Jahren immer mehr zu einem Refugium für politische und gesellschaftliche Positionen entwickelt hat, die in den Leitmedien entweder gar nicht mehr vorkommen oder allenfalls in Gestalt sporadischer (und für den offiziellen Diskurs folgenloser) Randpublikationen gerade noch geduldet werden. 

Der Grund für die Neuveröffentlichung ist denkbar einfach: Schließlich ist die von der Autorin gelieferte Analyse der Genese der neuen westlich-russischen Spannungen, die bis zum Beginn der Neunziger Jahre zurückreichen, durch den russischen Überfall ja nicht obsolet geworden! Ein kleiner, aber feiner Unterschied zur Erstveröffentlichung: Der Titel des ersten dieser beiden Bände ist nun mit einem Fragezeichen versehen, liest sich also jetzt so: „Russland verstehen?“ Am Text beider Bände wurde dagegen keine Zeile verändert.

Der Rezensent gesteht, dass er seinerzeit und in den Folgejahren sowohl „Russland verstehen“ als auch „Eiszeit“ nicht nur mit Gewinn gelesen, sondern beide Bücher auch immer wieder gerne in seinem Freundes- und Bekanntenkreis verschenkt hat: „Russland verstehen“ mehr für ‚Russland-Anfänger‘ und „Eiszeit“ für die ‚Fortgeschrittenen‘, die für viele Aspekte genaue und quellenbelegte Hintergrundinformationen suchen. (Von Letzteren hat der Rezensent auch im Kontext eigener Veröffentlichungen immer wieder profitiert.)

„Russland verstehen?“

Der Band erschien, damals noch ohne Fragezeichen im Titel, ungefähr ein Jahr nach den Maidanereignissen – Krone-Schmalz nennt sie unmissverständlich „Putsch“ –, die ihrerseits die von Russland mit den „höflichen grünen Männchen“ aktiv unterstützte Sezession der Krim sowie die Autonomiebestrebungen im Donbass zur Folge gehabt hatten. 

Die Autorin bietet hier eine nach wie vor aktuelle Orientierungshilfe für all jene, denen das in den Medien vorherrschende Russlandbild zu einseitig ist. Antirussische Vorbehalte haben in Deutschland eine lange Tradition und sind in zwei Weltkriegen verfestigt worden. Auch im aktuellen Ukraine-Krieg lässt sich ihre Wirksamkeit beobachten. Tatsächlich ist aber nicht nur das Verhältnis zwischen Russland, dem Westen und der Ukraine vielschichtiger, als es in der Regel dargestellt wird, sondern auch die russische Geschichte seit dem Ende des Kalten Krieges.

„Russland verstehen“ liest sich, wie die meisten Bücher von Krone-Schmalz, leicht und eignet sich gut als Einstieg in die Problematik für die gar nicht so wenigen Menschen, die ein immer stärkeres emotionales Unbehagen an der westlichen Russlandpolitik und der Berichterstattung in den Medien verspüren, ohne dies aber genauer begründen zu können.

„Eiszeit“

Zwei Jahre nach „Russland verstehen“ legte Krone-Schmalz nochmal nach. Und zwar diesmal mit einem akribisch recherchierten umfangreichen Wälzer. „Eiszeit“ ist nichts weniger als ein, nein: das ‚Kompendium des neuen West-Ost-Konflikts‘. Aus heutiger Sicht liest es sich wie eine minutiöse Rekonstruktion der Vorgeschichte des aktuellen Ukrainekrieges. Wer dieses Buch studiert hat – und genau das muss man diesmal tun, denn der quellengesättigte Band wird wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht –, ist ab dann immun gegen die Suggestionen westlicher Leitmedien, der Krieg wäre vom Himmel gefallen und Putin sei der Alleinschuldige an der Konfrontation.

Krone-Schmalz, die für „Eiszeit“ nicht zuletzt auf umfangreiches von Wikileaks veröffentlichtes Quellenmaterial – die 2010 online gestellte „Public Library of U.S. Diplomacy“ – zurückgriff, beschreibt u.a. die nach dem Zerfall der Sowjetunion offen zutage getretenen Konflikte im postsowjetischen Raum und bleibt hier bei der Ukraine nicht stehen. Die Territorialkonflikte in Russland (Tschetschenien und Dagestan), Georgien (Abchasien und Südossetien), Moldawien (Transnistrien) sowie zwischen Armenien und Aserbaidschan (Berg-Karabach) – all diese Konflikte haben Wurzeln, die weit, zum Teil noch in vorsowjetische Zeiten, zurückreichen. In Zeiten erneuter westlich-russischer Spannungen gerieten sie zudem ins Fadenkreuz geopolitischer Aspirationen und werden nun von den großen Playern für deren Interessen instrumentalisiert. 

Aus dieser Perspektive erscheint der Konflikt in der und um die Ukraine – Russland hatte zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung von „Eiszeit“ Kiew noch nicht auf zentralukrainischem Territorium angegriffen – als vorläufiger Höhepunkt der jahrzehntelangen konsequenten US-Strategie, nach dem Ende des (ersten) Kalten Krieges eine Rückkehr Russlands als Supermacht auf der weltpolitischen Bühne sowie eine nachhaltige und für beide Seiten erfolgreiche Wirtschaftskooperation zwischen Westeuropa und Russland um jeden Preis zu verhindern.

Zur Umsetzung dieser Strategie gehören clandestine wie offene westliche Regimechangeversuche vor allem im postsowjetischen Raum – sprich: von den USA finanziell und logistisch unterstützte Umstürze oder „Bunte Revolutionen“ – in Serbien (2000), Georgien („Rosenrevolution“ 2003), der Ukraine („Orangene Revolution“ 2005 und „Euromaidan“ 2013/14) sowie in Kirgistan („Tulpenrevolution“ 2005).

Dazu gehören die Kündigung nahezu sämtlicher Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge, die das Wettrüsten zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion zunächst gezügelt und schließlich das Ende des (ersten) Kalten Krieges ermöglicht hatten – alle auf Betreiben der USA. Krone-Schmalz zeigt, wie dies im Falle des A-KSE-Vertrages und des ABM-Vertrages umgesetzt wurde. (Inzwischen sind auch der INF-Vertrag und der Open-Skies-Vertrag Geschichte; der Atomwaffentestvertrag und der NEW-START-Vertrag stehen auf der Kippe.) Und dazu gehört konsequenterweise der Aufbau eines weltweiten Raketenabwehrsystems durch die USA mit Modulen unmittelbar vor der russischen Haustür. Akribisch arbeitet die Autorin heraus, dass die Anfänge dieses Projektes bis in die Neunziger Jahre unter Bill Clinton zurückreichen und wie u.a. die westliche Öffentlichkeit durch Barak Obama getäuscht wurde.

Mit zum Lesenswertesten des Buches gehört das Kapitel „Wer bedroht wen?“. Hier analysiert Krone-Schmalz das militärische Kräfteverhältnis zwischen USA/NATO und Russland und weist nach, dass der Westen Russland in fast allen Bereichen haushoch überlegen ist. Bereits 2016 waren die Militärausgaben aller NATO-Staaten zusammen mehr als zwölfmal so hoch wie die Russlands. (Die NATO-Staaten brachten es gemeinsam auf knapp über die Hälfte der weltweiten Militärausgaben.) Und zwölf russischen Stützpunkten im Ausland stehen um die 800 militärische US-Auslandsbasen in mehr als 70 Ländern gegenüber.

Gabriele Krone-Schmalz schreibt in beiden Bänden wie man sie kennt: Klar, verständlich, in sachlichem Ton, unideologisch, nur den Fakten verpflichtet. Eindringlich warnt sie davor, politische Analyse durch Moral ersetzen zu wollen.

Und das neunte Russlandbuch?

Bereits 2007 hatte Krone-Schmalz, die zu diesem Zeitpunkt schon fünf Russlandbücher vorgelegt hatte, im Vorwort ihres Bandes „Was passiert in Russland?“ geseufzt, eigentlich habe sie gar nicht vorgehabt, noch ein weiteres Buch über Russland zu schreiben … Mittlerweise sind es der Bücher acht!

Und seit der Erstveröffentlichung von „Eiszeit“ sind nun schon sechs Jahre verstrichen. Jahre, in denen sich die von der Autorin lange zuvor analysierten westlich-russischen Spannungen dramatisch zugespitzt haben. Und so wartet man ungeduldig auf einen Folgeband, der die Chronologie und die Analyse der Ereignisse bis zur katastrophalen Gegenwart fortsetzt. 

Es wäre ihr neuntes Russlandbuch. Der Stoff wird Krone-Schmalz mit Sicherheit nicht ausgehen.

Gabriele Krone-Schmalz: „Russland verstehen? Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens“ sowie „Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist“. (Um jeweils ein Vorwort erweiterte Neuauflagen.) Westend Verlag, Frankfurt/M. 2023, 20.- € bzw. 25.-€, in der Schweiz so um CHF 24.- bzw. 30.-.

Siehe dazu auch: «Wiedergelesen I: «Was jetzt auf dem Spiel steht» – Michail Gorbatschows Aufruf für Frieden und Freiheit»