Wie die antike Dichterin Sappho unvermittelt «osmanisch» wurde …
Für Ankara sind die Inseln der Ost-Ägäis neuerdings «osmanisch». Seither befürchtet Athen – politisch – einen «heissen Sommer».
Wer es noch nicht gewusst hat, soll sich nun eines Besseren belehren lassen: Die ost-ägäischen Inseln – unter ihnen Rhodos, Kos, Simi und Leros – waren nicht griechisch, sondern in Wirklichkeit schon immer osmanisch. «Das Trauma der zwölf Inseln ist unsere Wunde, die noch nicht verheilt ist. Sie wurden der Türkei ungerechterweise mit Fußtritten entrissen. Das gestohlene Eigentum muss an seinen Besitzer zurückgegeben werden.» Das erklärte am 30. Mai Devlet Bahceli vor den Abgeordneten seiner Partei im Parlament, um dann tröstend noch hinzuzufügen: «Wir werden auf jeden Fall die Tage erleben, an denen die Inseln an ihre ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben werden.»
Devlet Bahceli ist kein zufälliger Politiker in der Türkei. Seine rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ist der wichtigste Koalitionspartner der regierenden AKP-Partei von Recep Tayyip Erdoğan. Oder anders gesagt: Ohne Bahcelis Unterstützung kann sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht an der Macht halten. Wohl schon deshalb hat Bahcelis Erklärung vom 30. Mai in der Türkei eine hitzige Debatte über die Frage entbrannt, wie die zwölf zu Griechenland gehörenden ost-ägäischen – nun eben «osmanischen» Inseln – wieder an der Türkei angegliedert werden könnten.
Wie «osmanisch» sind die Inseln der Ägäis?
Unter dem Titel «Die Osmanischen Inseln der Ägäis» berichtet die Regierungsnahe Tageszeitung Milliyet beispielsweise von der Absicht der türkischen Regierung, «die Souveränität aller Inseln, die nicht abgeklärt ist», vor internationalen Foren streitig zu machen. Dabei zählt die Milliyet neben den bereits von Devlet Bahceli erwähnten zwölf Inseln auch das Eiland «Gavdos». Auf dieser kleinen Insel, südlich von Kreta, soll in der grauen Urzeit der Mythologie Odysseus gelandet und von der Nymphe Kalypso bezirzt worden sein. Wen aber soll in unserer digitalen Ära die Mythologie noch kümmern?
In einem Interview der offiziösen Nachrichtenagentur Anadolu Agency bestätigte der türkische Aussenminister Mevlut Cavusoglu jedenfalls, dass Griechenland alle der Küste der Türkei «vorgelagerten Inseln» so schnell wie möglich entmilitarisieren sollte. Ansonsten würde «deren Souveränität in Frage gestellt werden». Schliesslich seien diese Inseln, so der höchste Diplomat der Türkei, Griechenland «nur unter Bedingungen» zugeschlagen worden.
Im falschen Film gelandet
Griechische Diplomaten fragen sich nun, wie ihr türkischer Kollege wohl zu dieser Schlussfolgerung gekommen sein mag. Die Grenzen zwischen Griechenland und der Türkei wurden im Lausanner Vertrag 1923 festgelegt. Die Grenze läuft demnach entlang einer imaginären Mittellinie zwischen den östlichen Ägäis-Inseln und der türkischen Küste. Diese Grenze wurde vom Republikgründer Kemal Atatürk akzeptiert und von seinen Nachfolgern in den darauffolgenden fünfzig Jahren nie in Frage gestellt. Wie also kommt die Politik in Ankara dazu, hundert Jahre nach der Geburtsstunde der Republik Türkei ihre Grenzen zu hinterfragen?
Die zwölf östlichen Ägäis-Inseln, die laut Bahceli noch eine blutende Wunde in der türkischen Seele sind, waren bis zum Zweiten Weltkrieg Teil von Italien. Der 1947 mit den Alliierten unterzeichnete Vertrag von Paris trat diese Inseln an Griechenland ab, erstens weil die überwältigende Mehrheit ihrer Bewohner Griechen waren, und zweitens, weil Griechenland im Krieg gegen Nazi-Deutschland und Mussolinis Italien enorme Opfer gebracht hatte. Die Türkei hielt sich hingegen bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs neutral und war beim Vertrag von Paris kein Teilnehmer.
Die griechische Öffentlichkeit fragt sich nun, ob sie nicht in einen falschen Film geraten ist. Oder handelt es sich lediglich um ein «Déjà vu»?
Im Sommer 2020 hatte die Türkei im Alleingang Bohrschiffe in die Ägäis geschickt und liess sie gleich von ihrer Kriegsmarine begleiten. Damals machte Ankara erstmals seinen Anspruch auf ein sogenanntes Blaues Vaterland geltend, das faktisch die Teilung der Ägäis und seiner Schätze in zwei gleichen Teilen vorsah. Seither spricht die türkische Führung von den «legitimen Interessen» ihrer Nation im östlichen Mittelmeer.
Korb aus den USA und der EU
Spätestens seither fühlt sich Griechenland, ein Mitgliedstaat der NATO, von seinem Nachbarn Türkei, ebenso einem NATO-Mitgliedstaat, bedroht. In einer Akte aus zwölf unterschiedlichen Karten, vom griechischen Aussenministerium vorbereitet, kann genau aufgeführt werden, wie Ankara seine Ansprüche in der Ägäis nach 1974 – mal als «Graue Zonen», dann als «Ausschliessliche Wirtschaftszone» und nun als «Osmanische Inseln» – immer etwas höher setzt. Im Jahr 1974 hatten türkische Streitkräfte nach einem misslungenen Putsch der Griechen auf Zypern 40 Prozent der Mittelmeerinsel besetzt. Es handelte sich um die erste Grenzänderung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg mit Waffengewalt.
Die türkische Nation werde es nicht dulden, dass Griechenland vom gegenüberliegenden Ufer der Ägäis aus eine «aggressive und expansionistische» Politik betreibe, sagte in seiner berühmte Rede der MHP-Chef Devlet Bahceli. Die USA, Frankreich, die Bundesrepublik und auch Russland zeigten der Türkei aber die rote Karte. Es sei keine gute Idee, nach der Ukraine mit dem Feuer eines zweiten bewaffneten Konflikts in Europa zu spielen, liessen sie Ankara wissen.
Grosse politische und wirtschaftliche Krise
Auch Präsident Erdoğan meldete sich persönlich zu Wort: «Wer ist denn überhaupt dieser Mitsotakis», fragte er vor laufenden Kameras. Kyriakos Mitsotakis, der griechische Premier, hatte gerade in einer vielbeachteten Rede vor dem amerikanischen Kongress die Regierung Biden davor gewarnt, die heutige Türkei mit modernen Flugzeugen auszurüsten. Mitsotakis «existiert für mich nicht mehr», sagte der türkische Präsident. Er erklärte, sämtliche bilateralen Gespräche mit diesem «weinenden und jammernden Griechenland» sofort abzubrechen. Tatsächlich wurde der Prozess des Hohen Kooperationsrates zwischen Griechenland und der Türkei eingestellt.
Kühlere Stimmen in Athen führen diese letzte verbale Eskalation auf die tiefe politische, wirtschaftliche und soziale Krise der Türkei zurück. Die Inflation sei offiziell um die 73,5 Prozent, inoffiziell aber soll sie sich bereits um die 100 Prozent bewegen, sagt der Politologe Jiannis Grigoriadis. «Die Preise in den Super- und Gemüsemärkten für Nahrungsmittel ändern sich Tag für Tag und das ist für den Bürger zermürbend». Die Popularität der Allianz von Erdoğan und Bahceli sackte laut den letzten Umfragen auf 37 Prozent ab. 50,1 Prozent würde das Duo benötigen, um bei den anstehenden Wahlen wiedergewählt zu werden. Verfehlen sie eine Wiederwahl, droht ihnen, so die Oppositionspolitikerin Meral Aksener, eine «lebenslängliche Haft». Angesichts der Wahlen, die spätestens im Oktober 2023 stattfinden sollen, befinde sich die türkische Politik in einem «Amokzustand».
Einmarsch in Nordsyrien nicht mehr abwendbar?
Anfang Juni hat der türkische Präsident auf der Fraktionssitzung seiner Partei einen neuen Angriff auf die nordsyrischen Städte Minbic und Tel Rifat bestätigt. Danach wolle seine Armee «noch weitere Gebiete von Terroristen säubern». Im Gegensatz zur Stimmung der griechischen Öffentlichkeit, die immer wieder erheitert wird durch Witze, wie etwa ob Homer nicht Ömer und die erste lesbische Dichterin der Antike Sappho in Wirklichkeit nicht Sapfö hiessen, hat die Drohung Erdoğans Syriens kurdischen Nordosten verunsichert. «Angesichts der politischen Ausweglosigkeit im Inland will Erdoğan von einem Angriff auf die Region profitieren. Diese Drohung nehmen wir ernst», erklärte Mazlum Abdi, der kurdische Generalkommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) dem kurdischen Sender Ronahî TV: «Wir treten dafür ein, alle Probleme im Dialog zu lösen. Sollte es jedoch zu einem Angriff kommen, werden wir uns verteidigen.»
Die Türkei hat nach 2016 drei Mal völkerrechtswidrige Militäroperationen im Nordsyrien geführt. «Die Türkei spricht von Sicherheitsbedenken. In allen Gebieten, in die ihre Armee eingedrungen ist, gibt es jedoch keine Sicherheit mehr. Ein großer Teil der einheimischen Bevölkerung wurde vertrieben», führte Mazlum Abdi aus. In den Gebieten Tel Rifat und Minbic, die angezielt werden, «leben zwei Millionen Menschen und die Hälfte davon besteht aus geflüchteten Menschen. Durch einen Angriff werden sie erneut in die Flucht getrieben werden.»