Der künftige Nuklearkrieg, wie ihn die Künstliche Intelligenz aufgrund aller zur Verfügung stehenden Informationen abbildet. (Photo KI, Kasan Times, Pixabay)

Analyse | Welche Rolle spielen Atomwaffen in den heutigen internationalen Beziehungen?

(Red.) Der russische Politik-Wissenschaftler Dmitri Trenin hat in der russischen Zeitschrift «Profil» eine interessante Analyse zum Thema Nuklearkrieg publiziert, die wir gerne in deutscher Sprache bekannt machen. (cm)

Eine multipolare Welt ist eine multipolare Atomwelt. Die Kriege, die darin geführt werden, sind unter anderem Kriege zwischen Atommächten. Einige davon, wie beispielsweise in der Ukraine, werden indirekt geführt, andere – in Südasien – direkt, und im Nahen Osten hat eine Atommacht gemeinsam mit einer anderen (und weitaus stärkeren) Atommacht versucht, die potenzielle Fähigkeit eines dritten Landes zur Herstellung von Atomwaffen zu zerstören. Die wachsenden Spannungen zwischen den Atommächten in Ostasien und im westlichen Pazifikraum bringen auch sie einer direkten Konfrontation näher. Nachdem sie in den Jahren des Kalten Krieges eine nukleare Katastrophe vermieden hatten, haben einige europäische Staaten ihre frühere Zurückhaltung und Vorsicht, die zuvor mit dem Besitz von Atomwaffen verbunden waren, verloren.

Dafür gibt es mehrere Gründe. In den Jahren des „reifen“ Kalten Krieges – nach der Karibikkrise von 1962 (bekannt als „Kuba-Krise“, Red.) – erfüllten Atomwaffen erfolgreich ihre Funktion als Abschreckungsmittel. Die militärischen Pläne beider Seiten gingen davon aus, dass der Gegner im Falle einer massiven Frontalkollision fast zwangsläufig Atomwaffen anwenden würde und dass selbst wenn der Krieg nur mit konventionellen Waffen beginnen würde, er zu einem Atomkrieg eskalieren würde. In dieser Erkenntnis bemühten sich die politischen Führungen der USA (unter John F. Kennedy) und der Sowjetunion (unter Nikita Chruschtschow) , die Verwirklichung eines solch katastrophalen Szenarios zu verhindern. Die Amerikaner glaubten zwar, dass ein Atomkrieg begrenzt und auf Europa beschränkt bleiben würde, ohne das Territorium der USA und der UdSSR zu berühren, aber die sowjetischen Strategen standen der Idee einer solchen Begrenzung des Konfliktumfangs skeptisch gegenüber. In den Jahren der sowjetisch-amerikanischen Konfrontation führten beide Seiten viele Kriege, aber alle fanden fernab von Europa – dem geopolitischen Zentrum der Auseinandersetzung – und außerhalb der lebenswichtigen Interessen der beiden Seiten statt.

Die Zeiten haben sich geändert

Seit dem Ende des Kalten Krieges sind 35 Jahre vergangen. Die Angst vor der garantierten totalen Vernichtung ist verschwunden, obwohl die physische Möglichkeit einer solchen Vernichtung weiterhin besteht. Der harte ideologische Antagonismus ist verschwunden und hat eine Kluft zwischen Globalismus und nationalen Interessen hinterlassen. Die Welt ist, obwohl sie auf dieser Grundlage gespalten ist, dennoch global und vernetzt geblieben; Werte trennen die Menschen weniger auf zwischenstaatlicher Ebene als vielmehr innerhalb ihrer eigenen Gesellschaften. Die Anomalie des harten Blockantagonismus ist Geschichte, aber der neue globale Hegemon (die USA) hat es nicht geschafft, eine stabile Weltordnung zu organisieren. Infolgedessen ist die Welt im historischen Sinne „normaler” geworden: Die Rivalität der Großmächte ist zurückgekehrt, der Kampf zwischen regionalen Akteuren sowie auf lokaler Ebene hat wieder begonnen. Die ungleiche Entwicklung einzelner Länder führt naturgemäß zu einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen ihnen. Die Korrektur dieses Gleichgewichts erfolgt, wie immer, mit Gewalt.

Daher ist eine historisch normale Welt, über der ein nukleares Damoklesschwert schwebt, eine Welt der Konflikte und Kriege. Das nukleare Schwert selbst ist dabei nicht verschwunden, es ist nach wie vor in der Lage, die Menschheit zu vernichten, aber es ist verhüllt, sodass die von ihm ausgehende Gefahr nicht als aktuell angesehen wird. Tatsächlich kann die totale Vernichtung nur einen terroristischen Wahnsinnigen interessieren. Anstelle von Gegenständen aus dem Atomwaffenarsenal kommen – bildhaft gesprochen – nun nicht-nukleare Schwerter, Säbel, Degen, Äxte, Dolche und so weiter zum Einsatz. Unter diesen Umständen ist die Atomwaffe sozusagen mit einem stillschweigenden Tabu belegt, denn logischerweise würde ihr Einsatz alles zerstören, was man zu schützen beabsichtigt, im schlimmsten Fall sogar alles. Kein Wunder, dass viele davon überzeugt waren, dass Atomwaffen das gleiche Schicksal ereilen würde wie chemische Waffen, die im Ersten Weltkrieg nur begrenzt eingesetzt wurden, im Zweiten Weltkrieg aber in den Lagern blieben.

Das Problem ist jedoch, dass auch gewöhnliche Schwerter und Dolche nicht nur einzelne Menschen töten können, sondern, bildlich gesprochen, ganze Staaten. Die Abschaffung von Atomwaffen ist verlockend für diejenigen, die neben „Atomwaffen” auch über ein reichhaltiges Arsenal an „konventionellen” Waffen verfügen. Daher wäre es seltsam zu erwarten, dass ein Staat, der über Atomwaffen verfügt, davon Abstand nimmt, diese einzusetzen, wenn ein Gegner mit konventionellen Waffen die Existenz dieses Staates in Frage stellt. Der Versuch, eine Atommacht mit Hilfe eines Drittlandes strategisch zu besiegen, ist daher eine äußerst gefährliche Strategie, die dazu führen kann, dass sich der „nukleare Bumerang“ gegen seine Urheber richtet.

Gefährlich sind nicht zuletzt die Chefs demokratischer Staaten

An dieser Stelle seien ein paar Worte zu den Urhebern dieser Strategien gesagt. Es mag seltsam erscheinen, obwohl es eigentlich nichts Seltsames daran gibt, dass unter ihnen weit mehr Vertreter „fortgeschrittener Demokratien“ zu finden sind als autoritäre Regimeführer. Die englischen und französischen Politiker, die in den Ukraine-Konflikt verwickelt sind, gehören einer Generation an, die längst die Fähigkeit verloren hat, eine unabhängige Außen- und Militärpolitik zu betreiben. Sie sind bereit, Provokationen zu inszenieren, aber nicht in der Lage, deren Folgen zu kontrollieren. Diese Politiker und ihre Länder werden vorerst durch die außergewöhnliche strategische Geduld des Kremls gerettet, der bislang nicht auf die Schläge an den Stellen reagiert, an denen Raketenangriffe auf russisches Territorium sowie Sabotageakte und Terroranschläge gegen russische Bürger und militärische Einrichtungen geplant werden.

Erinnern wir uns an die Auswirkungen, die die Katastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl 1986 in Europa hatte, und vergleichen wir sie mit der Gleichgültigkeit gegenüber den Beschießungen des Kernkraftwerks Saporischschja durch ukrainische Truppen, den Angriffen ukrainischer Drohnen auf Kursk, Smolensk und andere Kernkraftwerke in Russland sowie die Angriffe Israels und der USA auf mehrere iranische Nuklearanlagen im Juni dieses Jahres. Erinnern wir uns daran, dass kurz zuvor ukrainische Drohnen, offensichtlich nicht ohne Hilfe und direkte Anweisung westlicher Länder, strategische Flugplätze in mehreren Regionen Russlands angegriffen haben, und vergleichen wir dies mit ähnlichen israelischen Angriffen auf iranische Anlagen. Tatsächlich handelt es sich hierbei nicht um ein Spiel am Rande, sondern um Fälle, in denen nach gängiger Doktrin eine nukleare Reaktion vorgesehen ist.

Die Einmischung des Westens in den Ukraine-Krieg ist äußerst gefährlich

Das kann nicht ewig so weitergehen. Die zunehmende Verstrickung der europäischen Länder in den Ukraine-Konflikt zehrt an der strategischen Geduld des Kremls. Im vergangenen Jahr wurde die russische Nukleardoktrin deshalb dahingehend angepasst, dass die Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen sogar erweitert wurden. Der mögliche Einsatz von Aromwaffen wurde auch auf Bedrohungen ausgeweitet, die für Belarus als Teil des Staatenverbundes entstehen. Der demonstrative Einsatz des Raketensystems „Oreschnik“ im November 2024 zur Zerstörung einer militärisch-industriellen Anlage in der Ukraine unterstreicht die Ernsthaftigkeit dieser Änderungen in der Doktrin. Leider haben die führenden europäischen Staaten daraufhin beschlossen, „Unerschrockenheit“ zu demonstrieren, was in Wirklichkeit jedoch der reine Leichtsinn ist.

Wahrscheinlich ist der Konflikt in der Ukraine inzwischen erneut an einem Scheideweg angelangt. Der Versuch einer diplomatischen Lösung ist aufgrund der Weigerung der USA, die Sicherheitsinteressen Russlands zu berücksichtigen, und des Ziels der EU-Staaten, Russland durch eine Verlängerung der Kampfhandlungen so weit wie möglich zu schwächen, gescheitert. Der Westen rechnet damit, dass Russland ausbluten, sich überfordern und mit wachsenden Schwierigkeiten in Wirtschaft und Gesellschaft zu kämpfen haben wird. Dabei hoffen Europa und Amerika, durch die Lieferung neuer Waffen und Munition an die Ukraine und die Entsendung von „Freiwilligen” aus den östlichen und südöstlichen NATO-Mitgliedstaaten parallel dazu ihre eigene Rüstungsindustrie wieder aufzubauen und ihre militärische Macht zu stärken. Das Ziel ist es, die Ereignisse zu ihren Gunsten zu wenden und schließlich dem geschwächten Russland einen vernichtenden Schlag zu versetzen.

Eine solche Dynamik führt zu einer massiven Verschärfung, deren Ausgang nicht nur vom Ausgang des Ukraine-Konflikts abhängt. Es ist klar, dass Russland diese Strategie nicht hinnehmen wird. Es ist logisch anzunehmen, dass die Aktivierung der nuklearen Abschreckung dabei eine Rolle spielen wird. Die existenzielle Bedrohung Russlands durch den Westen, vor allem durch die EU-Staaten, muss durch eine ähnliche Bedrohung für diese Länder selbst ausgeglichen werden. Für Russland steht mehr auf dem Spiel als für den Westen, was Moskau einen Vorteil in der Eskalationskonfrontation verschafft. Der Gegner darf keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit unserer – der russischen – Absichten haben. Entnüchternde Signale könnten sein die Organisation eines Kampfeinsatzes von Flugzeugen, die nicht-strategische Atomwaffen tragen; die Aufhebung des Moratoriums für die Stationierung von Mittel- und Kurzstreckenraketen im europäischen Teil des Landes, auf Tschukotka (einem autonomen Verwaltungsbezirk der Russischen Föderation im äußersten Nordosten, Red.) und in Belarus; die Wiederaufnahme von Atomtests; Vergeltungs- oder Präventivschläge, zunächst mit konventionellen Waffen, gegen Ziele auf dem Territorium des Gegners (außerhalb der Ukraine).

Der Besitz von Atomwaffen ist der einzige Schutz gegen Angriffe der USA

Der Versuch Israels und der USA, das Atomprogramm Teherans vollständig zu zerstören, ist gescheitert. Das iranische Programm wurde beschädigt, das Ausmaß der Schäden ist uns nicht bekannt. Teheran steht faktisch vor der Wahl: entweder ein Abkommen mit den USA zu schließen, das jegliche Urananreicherung verbietet, oder das Atomprogramm wieder aufzunehmen und wieder aufzubauen, diesmal jedoch mit dem erklärten Ziel, Atomwaffen zu entwickeln. Der Mittelweg, den Iran bisher eingeschlagen hat, hat sich als aussichtslos erwiesen. Beide Optionen sind mit Risiken verbunden, aber insgesamt zeigt die internationale Erfahrung, dass der Besitz von Atomwaffen die einzige mehr oder weniger zuverlässige Garantie gegen einen Angriff der USA ist. Allerdings ist der Weg zum Erwerb dieser Waffen für ein Land, das ihn eingeschlagen hat, aber noch nicht bis zum Ende gegangen ist, äußerst gefährlich.

Sollte es dem Iran gelingen, Atomwaffen zu erwerben oder Bedingungen zu schaffen, unter denen diese sehr schnell hergestellt werden können (über diese Fähigkeit verfügen heute eine Reihe von Staaten, darunter Japan und Südkorea), könnte zwischen Teheran und Westjerusalem eine Situation der gegenseitigen nuklearen Abschreckung entstehen, die wiederum die Grundlage für regionale Stabilität in den Beziehungen zwischen den beiden führenden Mächten des Nahen und Mittleren Ostens bilden könnte. Der Weg dorthin ist lang und erfordert nicht nur ein militärisches Gleichgewicht, sondern auch eine Änderung der Beziehungen zwischen den Parteien. Dennoch kann er, begleitet von Krisen und periodischen Schlagabtauschen, beschritten werden.

Fairerweise muss man sagen, dass der Besitz von Atomwaffen nicht vor einem Krieg mit konventionellen Waffen schützt. Die umfassende und tiefgreifende Einmischung der europäischen Staaten in den Ukraine-Konflikt im Jahr 2022 zeigt, dass die Wirkung der nuklearen Abschreckung, auf die Russland offensichtlich gesetzt hatte, nachlässt. Der Terroranschlag in Kaschmir im April 2025 zwang Indien zu Angriffen auf Ziele in Pakistan, was wiederum zu einem kurzen bewaffneten Zusammenstoß der beiden südasiatischen Atommächte führte. Der nukleare Faktor war natürlich in beiden Konflikten präsent, aber hinter den Kulissen. Die Atomwaffen haben das Ausmaß des Ukraine-Krieges teilweise begrenzt und wahrscheinlich zu einer schnellen Beendigung des indisch-pakistanischen Konflikts beigetragen.

Es sind diverse Trends erkennbar

Mit Blick auf die Zukunft lassen sich mehrere Trends erkennen. Erstens eine Eskalation und der Übergang von einer passiven zu einer zunehmend aktiven nuklearen Abschreckung in der Ukraine. Zweitens eine Wiederbelebung des Nuklearthemas in Europa – von der Stärkung und Diversifizierung der Nuklearkapazitäten Englands und Frankreichs bis hin zu Versuchen einer virtuellen (kaum realen) Ausweitung der Nukleargarantien von Paris und dem Bestreben anderer Länder – Deutschlands und Polens – Zugang zu Nuklearplanung und möglicherweise zu Nuklearwaffen zu erhalten; die Verschärfung der nuklearen Rhetorik Kiews. Drittens die tiefe Krise des Systems der Nichtverbreitung von Atomwaffen (Vertrauensverlust in die IAEO aufgrund ihrer pro-westlichen und pro-israelischen Haltung, die sie im Vorfeld des Angriffs auf den Iran eingenommen hat). Viertens: Die Wiederaufnahme des iranischen Atomprogramms ist bereits außerhalb der Kontrolle der IAEO. Fünftens: Die aktiven, wenn auch verdeckten Vorbereitungen Tokios und Seouls auf eine Situation, in der sie den amerikanischen Atomschutzschild durch einen eigenen ersetzen müssen. Sollte auch Taipeh von der militärischen Verteidigung durch die USA enttäuscht sein, könnte Taiwan ebenfalls den Weg zur „Atombombe” einschlagen.

Die allgemeine Schlussfolgerung lässt sich wie folgt formulieren: Eine multipolare atomare Welt wird nur dann ruhiger und berechenbarer werden, wenn das System der gegenseitigen Abschreckung und damit die strategische Stabilität gestärkt werden. Strategische Stabilität in dieser Welt erfordert jedoch den Ausschluss jeglicher Kriege, nicht nur nuklearer und konventioneller, sondern auch indirekter Kriege zwischen Atommächten. Andernfalls steigt das Risiko des Einsatzes von Atomwaffen und eines Abgleitens in einen nuklearen Krieg, der letztendlich universell wäre, um ein Vielfaches.

Der Autor Dmitri Trenin ist Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Strategie der Nationalen Forschungsuniversität „Hochschule für Wirtschaft“ in Moskau.

Zum Originalartikel von Dmitri Trenin in der russischen Zeitschrift Profil in russischer Sprache. Die Übersetzung erfolgte automatisch und wurde von Anna Wetlinska kontrolliert und präzisiert. Die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingesetzt.

Globalbridge unterstützen