Was wird mit unserer Menschheit geschehen?
(Red.) Unser Kolumnist Patrick Lawrence aus den USA hat spürbar Mühe, optimistisch zu bleiben. Er beobachtet in den Medien eine sichtbare Entwicklung hin zu Themen, die nur einem Zweck dienen: die Langeweile der Menschen etwas aufzulockern – ohne jeden Bezug zu den relevanten Realitäten unserer Zeit. Er schreibt dabei über die USA, aber ist es bei uns in Europa anders? Selbst bei uns berichten die Tageszeitungen seitengroß über Taylor Swift … (cm)
„Das Leben ist besser mit einem tollen Gartenschlauch“.
„Wie eine Tierpräparatorin ihre Sonntage verbringt.“
„Wie eine Food-Stylistin und Haushaltswaren-Designerin ihre Sonntage verbringt.“
„Wie eine neurodiverse Musiktheaterkünstlerin ihre Sonntage verbringt.“
„Sehe ich mit diesen Schuhen wie ein Tourist aus?“
„Ist es schlecht, sich jeden Tag die Haare zu waschen?“
Und hier sind einige Schlagzeilen, die in denselben Zeitungen seit Oktober letzten Jahres erschienen sind, als Israel seine barbarische Belagerung gegen die 2,3 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza begann:
„Wird Taylor Swift das Weiße Haus besuchen?“
„Smokings stahlen die Show bei den diesjährigen Oscars“.
„Jeremy Strong ist sich nicht sicher, wer er ist“.
„Ist Kohl der neue Speck?
„Bei Kate Middletons Geschichte geht es um so viel mehr als nur um Kate Middleton“.
„Wir wissen nicht, wo Kate ist, aber sie weiß, wo wir hinwollen“.
„Lasst Kate Middleton in Ruhe!“
Als ehemaliger Auslandskorrespondent habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, Schlagzeilen zu sammeln, die die gemeinsamen Sorgen, Gedanken und Gefühle der Amerikaner widerspiegeln – den US-amerikanischen Zeitgeist, um es mal so zu sagen. Diese Schlagzeilen stammen aus einem großen Bestand, der in meinem PC gespeichert ist. Was sagen sie uns?
Mit der Intervention Russlands in der Ukraine – einer Militäroperation, die ich angesichts der unablässigen Bemühungen des westlichen Bündnisses, die Russische Föderation zu unterwandern, für bedauerlich, aber notwendig halte – brachten uns die USA so nah an das „nukleare Armageddon“ (Bidens Ausdruck) wie seit der Kubakrise vor 62 Jahren nicht mehr. Im Fall des Gazastreifens unterstützen die USA Israel, das die Palästinenserinnen und Palästinenser bombardiert, erschießt und jetzt auch noch aushungert, um einen ethnischen Völkermord zu begehen, der Vergleiche mit der teuflischen Bösartigkeit des Deutschen Reichs in den 1930er und 1940er Jahren zulässt.
Die Faszination der Amerikanerinnen und Amerikaner für Taylor Swift und Gartenschläuche hat unter diesen Umständen etwas „Unanständiges“ an sich. Die meisten Menschen – wenn auch bei weitem nicht alle – haben kaum mehr ein Gespür für den Ernst der Lage oder für unsere Verpflichtung, darauf zu reagieren. Nicht einmal die Bedrohung durch einen Atomkrieg oder den Massenmord an unschuldigen Kindern, Frauen und Männern rührt die meisten von uns. Es deutet auf eine kollektive Pathologie hin, eine gemeinsame psychologische Störung. Wie können wir uns das erklären – diese Kultur des «Ennui», der Langeweile, wie ich sie nennen möchte?
Es stimmt schon, dass unsere Konzernmedien dafür sorgen, dass die Amerikaner abgelenkt sind, während die politischen Cliquen in Washington die oft kriminellen Geschäfte unseres späten Imperiums abwickeln. Denkt an Kate Middleton, sagen sie, und nicht an die Kriege und Barbareien, die Washington in eurem Namen provoziert und sponsert. Auf diese Weise werden wir ermutigt, in unseren privaten Welten zu leben, in denen wir unsere Gedanken mit Frivolitäten füllen und davon ausgehen, dass sich in unserer ewigen Gegenwart niemals etwas ändern wird.
Aber diese zynische Nutzung der Macht der Medien macht unsere Frage nicht überflüssig. Nein, sie veranlasst uns zu unserer Frage: Was die Amerikanerinnen und Amerikaner im Fernsehen lesen und sehen, mag böswillige Absichten haben, aber es ist dennoch wirksam. Das müssen wir anerkennen.
■
Die meiste Zeit der Neuzeit waren sich die Menschen in Amerika und anderswo im Westen nicht bewusst, welchen Preis Andere für die westliche Lebensweise bezahlt haben. Um diesen Punkt ganz allgemein anzusprechen: Die Engländer und Franzosen wussten nicht viel über das Leid, das den fernen Kolonialuntertanen zugefügt wurde, damit sie ihre Häuser heizen, Seidenkleidung tragen, Kaffee trinken oder Autos mit Gummireifen fahren konnten, und mussten daher auch nicht viel darüber nachdenken. Der technologische Entwicklungsstand förderte also die weit verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber anderen, entschuldigte sie aber nicht gänzlich.
Das digitale Zeitalter markiert in diesem Zusammenhang einen sehr bedeutenden Wandel. Die Menschen auf der einen Seite der Welt sind jetzt in der Lage, mehr oder weniger sofort zu erfahren, was auf der anderen Seite passiert. Das gilt trotz der endlosen Bemühungen unserer Medien, abzulenken. Wir können Zeuge von Gräueltaten, Hunger und allen Arten von Leid werden – oft sogar in „Echtzeit“. Ich bin seit einiger Zeit der Meinung, dass sich der menschliche Verstand noch nicht an die beispiellose Verfügbarkeit all der Informationen angepasst hat, die die digitalen Technologien ermöglicht haben. Und so sucht unser Geist Schutz in Klatsch und Tratsch über Prominente, Heimwerken, Kochrezepten und dergleichen. Unsere Langeweile wird zu einer selbstverschuldeten Pathologie.
Mir scheint, dass wir diese Tendenzen in unserem kollektiven Charakter verstehen sollten. Das ist ein Muss, wenn wir uns aus dem Zustand des Ennui, der Gleichgültigkeit, der Apathie – alles in allem der Anomie, die uns überkommen hat – befreien und uns und unsere Lebensweise „rehumanisieren“ wollen.
Um dieses Verständnis zu erlangen, müssen wir einige herausragende Merkmale der heutigen Zivilisation berücksichtigen, um eine neue Verbundenheit mit unserer Welt und den Menschen, die mit uns in ihr leben, zu erreichen. Wir leben in einer technologischen Zivilisation: Das ist der offensichtliche Ausgangspunkt für eine Selbstuntersuchung, wie ich sie vorschlage.
Viele angesehene Philosophen und Schriftsteller haben sich im Laufe der Jahrhunderte mit den Auswirkungen der technischen Entwicklung auf die menschliche Psyche beschäftigt. Die beiden, die ich für unsere Situation am relevantesten finde, sind Lewis Mumford und Jacques Ellul. Sie waren vielseitig begabt. Sie waren beide Soziologen, Philosophen, Historiker und studierten die Technik in all ihren Auswirkungen und Konsequenzen. Mumfords «Technics and Civilization» kam 1934 heraus. Ellul veröffentlichte 1954 «La technique ou l’enjeu du siècle.» Auf Englisch erschien es ein Jahrzehnt später als «The Technological Society».
Die Technik verändert das menschliche Bewusstsein, wenn ich das nicht zu einfach ausdrücke, ein Thema, das diese Autoren teilen. Die Funktion der Technik ist es, sich zwischen den Menschen und seine Realität zu stellen. Indem sie diesen Zweck erfüllt, isoliert die Technik den Menschen von seiner Welt und von anderen: Es gibt eine neue Ebene der Erfahrung im Leben. Ellul war besonders besorgt über das Ausmaß, in dem die Technologie uns überholt: Der Herr wird zum Diener und der Diener zum Herrn. Hier ist eine Passage aus der englischen Übersetzung von Elluls Buch (von Globalbridge.ch ins Deutsche übersetzt):
«Es geht darum, die Gefahr abzuschätzen, die unserer Menschlichkeit in diesem halben Jahrhundert droht, und zu unterscheiden zwischen dem, was wir behalten wollen, und dem, was wir bereit sind zu verlieren, zwischen dem, was wir als legitime menschliche Entwicklung begrüßen können, und dem, was wir mit letzter Kraft als Entmenschlichung ablehnen sollten.»
■
Eine der wichtigsten Folgen der technologischen Entwicklung wiederum ist die Arbeitsteilung. Auch sie hat eine Geschichte, die fast so lang ist wie die Menschheitsgeschichte und viele Denkerinnen und Denker zu ihren Überlegungen inspiriert hat, von den Griechen und Römern bis in unsere Zeit. John Kenneth Galbraith, der bekannte Wirtschaftswissenschaftler und Autor, der unter der Kennedy-Regierung diente, stellte in «The New Industrial State» (Houghton Mifflin, 1967) fest, dass die Methode des technologischen Fortschritts die Zerlegung jeder Aufgabe in ihre irreduziblen Fragmente erfordert. Wir können dies als das Prinzip betrachten, das die menschliche Arbeitsteilung von Anfang an inspiriert hat.
Lange vor Galbraith stellte Adam Smith anerkennend fest, dass die Arbeitsteilung zu einer dramatischen Steigerung der Effizienz und Produktivität geführt hat. Das ist vollkommen richtig. Als Henry Ford 1913 das erste laufende Fließband der Welt installierte, gab es 85 Arbeitsschritte, um ein Auto zu produzieren, und jeder Arbeiter war nur für seinen Schritt verantwortlich und für keinen anderen. Auf diese Weise führte die Arbeitsteilung dazu, dass die Arbeiter spezialisierte Fähigkeiten erwarben. In dieser modernen Phase der technologischen Entwicklung würden sie eine Sache sehr gut können.
Auf diese Weise hatte die Arbeitsteilung viele Auswirkungen darauf, wie wir über uns selbst denken und wie wir leben sollten. Diese Art der Arbeit vermittelt Fähigkeiten, erfordert aber keine große intellektuelle Entwicklung. Das macht die Menschen klug – sie kennen ihre Arbeit sehr gut –, aber auch unwissend: Sie wissen alles über die Schrauben, die sie anbringen müssen, wenn das Auto auf dem Band an ihnen vorbeifährt, aber wenig über das Auto, das am Ende des Bandes herauskommt. Das hat die Menschen so geprägt, dass sie weniger Interesse und Verständnis für die Menschen haben, weil sie sich von ihrer eigenen Menschlichkeit und der der anderen entfremdet haben. Es wurde weniger wichtig, in den Geisteswissenschaften gebildet zu sein, als arbeitstechnisch gut zu sein und seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Adam Smith lobte in «The Wealth of Nations» (Der Wohlstand der Nationen) die Arbeitsteilung als ein Instrument des Fortschritts, aber er sah auch ihre schädlichen Auswirkungen auf die menschliche Psyche: Sie machte sie „so dumm und unwissend, wie es für ein menschliches Wesen nur möglich ist“. Ein halbes Jahrhundert später drückte es Alexis de Tocqueville in Band 1 von «Democracy in America» so aus: „Nichts neigt mehr dazu, den Menschen zu materialisieren und seiner Arbeit die geringste Spur von Verstand zu nehmen, als die extreme Arbeitsteilung.“
Amerika ist eine Nation von atomisierten, privatisierten Individuen, die von ihrem Konsumbedürfnis getrieben werden. Ihre Verbindungen zueinander sind eher gering. Sie mögen ihre Arbeit gut kennen, haben aber nur ein sehr begrenztes Verständnis für das Ganze und wenig Interesse an einem bestimmten Kontext. Ja, wir kennen diese Dinge. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in verschiedenen Disziplinen haben ausführlich über diese Eigenschaften geschrieben. Ja, und auch die Medien haben viel dazu beigetragen, dies zu fördern.
Wir neigen dazu, uns selbst auf eine Art und Weise zu erklären, die uns zu der Annahme verleitet, dass unser Zustand ein neues Phänomen ist und sich leicht beheben lässt: Wir müssen mehr gemeinnützigen Organisationen beitreten, wir müssen öffentliche Verkehrsmittel benutzen, wir müssen an den Kommunalwahlen teilnehmen. Aber die Kultur des Ennui, wie ich sie genannt habe, hat viel tiefere Wurzeln, und das müssen wir begreifen und akzeptieren, wenn wir uns nichts vormachen wollen. Unser Ennui, unsere Langeweile, ist das unvermeidliche Ergebnis der Zivilisation, die wir uns über Jahrhunderte aufgebaut haben.
So können wir die Gleichgültigkeit der Amerikaner gegenüber so vielen Ereignissen verstehen, sogar gegenüber dem drohenden Atomkrieg und dem Völkermord an einem Volk, der von denen unterstützt wird, die vorgeben, uns zu führen. In einer technologischen Zivilisation neigen die Menschen dazu, gleichgültig zu denken (oder anders zu denken) und zu fühlen (oder nicht zu fühlen). Ist es zu viel gesagt, dass diese Zivilisation die Ursache für eine Art kollektiven psychologischen Schaden ist?
Die Technologie hat uns im Laufe der Neuzeit beherrscht. Das ist unsere Realität. Sie hat uns dazu gebracht, den industriellen Kapitalismus als ein System zu verherrlichen, von dem es kein Zurück mehr gibt und zu dem es keine Alternative gibt. Die meisten von uns erinnern sich an Margaret Thatchers furchtbare Behauptung während ihrer Jahre als britische Premierministerin: „Es gibt keine Gesellschaft. Es gibt nur Individuen.“ Was diese Aussage so furchtbar macht, ist das Ausmaß, in dem sie uns beschreibt, wie wir geworden sind.
Zum Originalartikel von Patrick Lawrence in US-englischer Sprache.