Der Chef von Präsident Wolodymyr Selenskyjs Präsidialamt Andrij Jermak dankt der Stellvertretenden US-Aussenministerin Victoria Nuland für die Unterstützung der USA. Ob die Ukraine den USA auch in zwei oder drei Jahren noch so dankbar sein wird, bleibe dahingestellt. (Bild: UA Gov vom Dezember 2022)

«Was passiert, wenn die Ukrainer erkennen, was die Amerikaner ihnen angetan haben?»

(Red.) Die Tschechische Republik ist in der EU in vielen Beziehungen nur eine kleine Nummer. Aber auch dort gibt es aufmerksame Beobachter, die keine Windfahnen sind und die sich vom Gerede der Medien nicht täuschen lassen. Und die es wagen, ihre Beobachtungen, wie jetzt der Wind dreht, auch zu publizieren. Ivan Hoffman ist einer von ihnen. (cm)

Lange Zeit hat der Krieg in der Ukraine die Medien dominiert. Jetzt wurde er vom Krieg in Israel überschattet. Gleichzeitig gibt es Anzeichen dafür, dass die Ukraine für die Amerikaner keine Priorität mehr hat, und es wächst die Einsicht, dass die Ukraine keine Chance auf einen Sieg hat. Die westliche Propaganda wird allmählich durch sachliche Aussagen über die Realität ersetzt. Das von Wunschdenken geprägte Medienbild, der Vater des Gedankens, bröckelt.

Es ist immer ein Problem, objektiv über einen Konflikt zu berichten, in dem wir uns selbst für die eine Seite entschieden haben. Es ist auch ein Problem, zuzugeben, dass die Partei, die wir gewählt haben und unterstützen, jetzt verliert. Das ist wohl auch der Grund, warum die meisten Kommentatoren nicht die tatsächliche Situation analysiert haben, sondern sich mit der Frage beschäftigt haben, was für einen ukrainischen Sieg getan werden muss. Ebenso haben die Kommentatoren nicht gefragt, was die Ukrainer realistischerweise gewinnen oder mit Russland aushandeln können, sie haben immer nur wieder wiederholt, wer im Recht ist und was richtig ist. Wenn sich der Ton der Kommentare jetzt zu ändern beginnt, dann deshalb, weil die Kluft zwischen der Darstellung in den Medien und der harten Realität, der unbequemen Wahrheit, nicht mehr heruntergespielt werden kann.

Am Flattern der Mäntel ist die Richtung des Windes erkennbar (Tschechisches Sprichwort, Red.) Wenn der Vorsitzende der SOCDEM für das Europäische Parlament, Lubomír Zaorálek, es jetzt unverblümt als unverantwortliche Heuchelei bezeichnete, der Ukraine die EU-Mitgliedschaft zu versprechen, und warnte, dass „wenn die Ukraine der EU beitreten würde, Frankreich sie verlassen würde“, dann hängt das zweifellos damit zusammen, dass der Wind in den USA dreht, dass nämlich die Republikaner keine Lust haben, die Verantwortung für das Fiasko der USA in der Ukraine mit den Demokraten zu teilen. Als Antwort auf die weit verbreitete Behauptung, dass in der Ukraine für Prag – sprich: für Europa (Red.) – gekämpft wird, erinnerte der ehemalige tschechische Außenminister Lubomír Zaorálek seine Zuhörer daran, dass auch in Kabul „für Prag“ – sprich: für Europa – gekämpft wurde …

Wo ein neuer Wind weht, flattert auch der Mantel in eine neue Richtung – dieses Phänomen beschreibt das Verhalten von Politikern und politisch engagierten Journalisten nach einer grundlegenden Veränderung der Situation. Bis eine solche Veränderung eintritt, gilt jedoch der Grundsatz, dass es nicht klug ist, gegen den Wind zu urinieren. Heute ist es in unserer Mainstream-Presse nun aber bereits akzeptiert, aus der amerikanischen Presse zu zitieren, zum Beispiel dass den Ukrainern die Munition ausgeht, dass Selenskyj in der Ukraine unpopulär ist, dass die westlichen Sanktionen Russland nicht gelähmt und sich sogar umgekehrt negativ auf Europa ausgewirkt haben oder auch dass der Westen es nicht geschafft hat, Russland zu isolieren.

Aber die Zeit ist noch nicht reif, um die Trends zu analysieren und sich die Folgen des „Scheiterns“ der Ukraine vorzustellen. Den Amerikanern und damit dem gesamten Westen fehlt es notorisch an der Fähigkeit, sich in die Mentalität des Gegners einzufühlen. Die amerikanische Diplomatie basiert auf dem Prinzip, dass wenn die Peitsche nicht hilft, eine noch größere Peitsche genommen werden muss. Der kollektive Westen überlegt, was er mit Russland machen soll: wie man es besiegen, schwächen und isolieren kann. Dabei geht er naiv davon aus, dass Russland kapitulieren muss, weil es den Westen braucht, weil es ohne den Westen nicht auskommt.

Aber die Realität sieht anders aus. Russland ist absolut berechenbar: Es wird die NATO nicht bis an seine Grenze zur Ukraine zulassen, also wird die Ukraine entweder entwaffnet und neutral sein, oder es wird sie nicht mehr geben. Russland befindet sich nicht im Krieg mit den Ukrainern, sondern im Krieg mit den westlichen Eliten, denen es nicht trauen kann und mit denen es deshalb auch nicht verhandeln kann. Und es gibt einen nationalen Konsens in Russland, dass es sich eine Niederlage nicht leisten kann.

Den Westen interessiert es nicht, was Russland denkt. Was wir jedoch übersehen, ist, dass es den Russen bereits jetzt egal ist, was Europa denkt. Es gibt übrigens immer mehr Länder, die sich nicht mehr für die Meinung Europas interessieren und die Europa als geopolitischen Akteur für die Zukunft abschreiben. Und gleichzeitig gibt es immer mehr Länder, die sich mit Russland (und China) gut verstehen. Die Frage ist, wann uns das Geld ausgehen wird und was wir gegen diesen Trend tun werden.

Als ich mit einem Lungenleiden einige Wochen lang in Krankenhäusern ein- und ausging, wurde ich auch von einer wunderbaren russischen Ärztin behandelt. Und ich wurde gleichzeitig auch von einer fürsorglichen Krankenschwester, einer Ukrainerin aus Charkow, betreut. Vielleicht bin ich deshalb zur Ansicht gelangt, dass es durchaus möglich ist, dass die Ukrainer, wenn sie verlieren und erkennen, dass die Amerikaner mit ihnen ein Drecksspiel gespielt haben, sie, die Ukrainer, zynisch für amerikanische Interessen haben bluten und sie schließlich einfach haben sitzen lassen, dass die Ukrainer dann eher die Seite wechseln, als die unbezahlbar gewordenen Schulden dem Westen zurückzuzahlen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es so kommen wird.

Zum Autor: Ivan Hoffman ist 1952 in Martin in der damaligen Tschechoslowakei (heute in der Slowakei) geboren und ist heute ein in der Tschechischen Republik bekannter Liedermacher, Fotograf, Publizist und Radio-Moderator. Ab 1990 arbeitete er kurze zwei Jahre lang auch für den von den USA finanzierten westlichen Propagandasender «Radio Free Europe», der damals noch von München aus betrieben wurde. Auch daraus lässt sich ableiten, dass Ivan Hoffman anlässlich der Samtenen Revolution 1989 vom westlichen Polit- und Wirtschaftssystem etwas Anderes erwartete als die heutige Realität des neoliberalen Kapitalismus. (cm)

Zum Originalartikel von Ivan Hoffman in tschechischer Sprache. Die Übersetzung und Ausformulierung in deutscher Sprache besorgten Anna Wetlinska und Christian Müller.