Michail Gorbatschow wollte den Frieden – und hat dabei dem Westen, insbesondere Deutschland, zu sehr vertraut. Kenner der "russischen Seele" wissen, dass in der russischen Kultur ein mit Handschlag ausgesprochenes Versprechen deutlich mehr wert ist als in Westeuropa ...

Warum die Russen Gorbatschow nicht mögen

(Red.) Wer Globalbridge schon einige Zeit liest, der weiß, dass Globalbridge-Autor Leo Ensel schon mehrmals an jene Zeit erinnerte, als Michail Gorbatschow, der damalige Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion, die Wiedervereinigung Deutschlands ermöglichte und für ein gemeinsames europäisches Haus von Lissabon bis Wladiwostok eintrat. Deutschland habe allen Grund, Gorbatschow als Friedensstifter in Erinnerung zu behalten. Wer allerdings selber schon in Russland war und mit einem Russen ins Gespräch über Gorbatschow kam, der weiß, dass Gorbatschow dort nicht bewundert wird. Er habe Deutschland „für einen Appel und ein Ei“, wie man in Deutschland sagen würde, die DDR verschenkt und dem westlichen mündlichen Versprechen, die NATO nicht nach Osten zu erweitern, Glauben geschenkt, statt dies in einem internationalen Vertrag festzuhalten. Stefano di Lorenzo, unser Vertrauensmann in Russland, ist der unterschiedlichen Beurteilung dieses außergewöhnlichen Mannes nachgegangen. (cm)

Fast vierzig Jahre sind vergangen, seit Gorbatschow und Reagan in Reykjavik zusammentrafen. Das Treffen im Oktober 1986 gilt rückblickend als der Moment, in dem der Kalte Krieg de facto endete. Damals kam dieser Gipfel für viele überraschend. Noch wenige Jahre zuvor schien ein Atomkrieg durchaus möglich. Für viele in der Sowjetunion war Reagan ein gefährlicher, schießwütiger Cowboy. Sowjetische Agenten, die unweit des Weißen Hauses stationiert waren, beobachteten nachts sogar, ob dort das Licht brannte — ein mögliches Zeichen, dass die USA einen Angriff auf die UdSSR vorbereiteten.

Gorbatschow, der nach dem raschen Tod zweier Vorgänger an die Spitze der UdSSR gelangte, wirkte jung, energisch, unkonventionell. Im Westen wird Michail Gorbatschow bis heute fast ehrfürchtig verehrt — als mutiger Reformer, als Visionär, als Humanist, der Osteuropa befreite, die Berliner Mauer einstürzen ließ und der Welt eine „Friedensdividende“ schenkte. Margaret Thatchers berühmter Satz wird bis heute zitiert: „This is a man we can do business with.“ Für Europa und Amerika wurde Gorbatschow zu einer moralischen Ikone — ein lebendiger Beweis, dass Geschichte durch Mut und Vernunft von der Katastrophe weggeführt werden kann.

In Russland hingegen wird Gorbatschow mit sehr wenig Zuneigung erinnert. Warum? Wenn Russen, die zu Gorbatschows Zeiten gelebt haben, den Namen des letzten Staatsoberhaupts der UdSSR hören, murmeln sie oft denselben bitteren Satz: „Er hat unser Land zerstört.“ Viele zeigen sich ungläubig darüber, dass Gorbatschow im Westen zum Kultfigurenstatus gelangte. Zwei Frauen, Mitte vierzig, fassen das verbreitete Gefühl zusammen: „Kannst du dir das vorstellen? Im Westen lieben sie ihn.“ — „Natürlich lieben sie ihn, er hat doch so viel für sie getan.“ Der Kalte Krieg mag vorbei gewesen sein, aber für viele, die in der Sowjetunion geboren wurden, ist das Gefühl der Entfremdung zwischen Russland und Europa nie verschwunden.

Kaum ein anderer russischer Führer ruft so hartnäckiges Misstrauen und Irritation hervor wie Gorbatschow. Er gilt als der Mann, unter dessen Führung ein Staat zerfiel, der jahrzehntelang eine Weltmacht gewesen war. Er wird nicht als Befreier, sondern als Verlierer erinnert — einer, der die Kontrolle verlor, die Autorität, schließlich das ganze Land. Für Russland war dies eine Demütigung.

Für gewöhnliche Russen bedeutete das Ende des Kalten Krieges einen Verlust — materiell, psychologisch, geopolitisch. Was der Westen als moralischen Durchbruch feierte, erinnern viele Russen als eine Epoche leerer Regale, entwerteter Ersparnisse, ausbleibender Löhne und eines Staates, der plötzlich nicht mehr funktionierte. Mit der sowjetischen Macht löste sich auch die Stabilität auf, die das Alltagsleben über Jahrzehnte geprägt hatte. Die große paternalistische Maschine, die Arbeit, Wohnung und eine berechenbare soziale Ordnung garantierte, brach zusammen. Zurück blieb eine Welt, die theoretisch freier, praktisch aber chaotisch, brutal und gnadenlos war.

Gorbatschows Reformen werden streng beurteilt. Begriffe wie Glasnost, Perestroika, „Neues Denken“ oder der Traum vom „gemeinsamen europäischen Haus“ wirken in Lehrbüchern edel. Rückblickend allerdings empfinden viele Russen sie als Auftakt zum Zusammenbruch. Die Erinnerung an die 1980er Jahre ist in Russland keine Geschichte der Befreiung, sondern eine der Auflösung. Und weil diese Auflösung so schnell und vollständig verlief, war es nahezu unvermeidlich, dass der Mann an der Spitze zum Symbol all dessen wurde, was schiefging.

Ein weiterer Grund für den anhaltenden Groll ist die Wahrnehmung, dass Gorbatschow die Fragilität des Systems unterschätzte, das er reformieren wollte. Seine Verteidiger sehen in ihm einen Reformer, der in der Maschinerie eines verkrusteten Imperiums feststeckte. Seine Kritiker sehen in ihm im besten Fall einen gutmeinenden Amateur, im schlimmsten Fall einen Verräter. Gorbatschow lockerte die Zensur, schwächte den Parteiapparat, öffnete den politischen Raum — und zeigte sich ehrlich überrascht, als lange unterdrückte Nationalismen und soziale Konflikte plötzlich explodierten. Er versuchte gleichzeitig, das Land zu demokratisieren und ein multiethnisches Reich zusammenzuhalten — eine historische Seltenheit, die kaum je funktioniert hat.

Aus westlicher Sicht war das moralischer Mut: Gorbatschow weigerte sich, Gewalt einzusetzen, um Proteste niederzuschlagen. Aus russischer Sicht wirkt es im Nachhinein wie verhängnisvolle Unentschlossenheit. Gorbatschows Zögern, sein Schwanken zwischen Vorsicht und Kühnheit, Reform und Rückzug — all das prägt das russische Bild von ihm. Selbst viele, die seine Aufrichtigkeit anerkennen, werfen ihm vor, es habe ihm an Strategie, Timing und einem Verständnis der Kräfte gefehlt, die er freisetzte.

„Die deutsche Einheit war ein Fehler Moskaus“

Die geopolitische Dimension verstärkt den Ärger. Wie russische Kommentatoren oft betonen, applaudierte der Westen Gorbatschow, weil er das lieferte, was der Westen sich lange gewünscht hatte: ein Ende sowjetischer Macht — ohne Kampf. Für viele Russen wirkt die westliche Bewunderung deshalb wie ein Beweis, dass seine Politik anderen mehr nützte als dem eigenen Land. Das Lob, das er in Europa und Amerika genießt, wird nicht als Anerkennung verstanden, sondern als Hinweis darauf, dass er zu viel, zu schnell, mit zu wenig Gegenleistung preisgab. Es fügt sich in das heute weit verbreitete Narrativ, der Zusammenbruch der UdSSR sei kein natürlicher Prozess gewesen, sondern eine geopolitische Niederlage, von außen orchestriert. Dass Gorbatschow der deutschen Wiedervereinigung zustimmte – etwas, das selbst in Westeuropa damals nicht unumstritten war –, wird vielen bis heute als verhängnisvolle Naivität ausgelegt. Dankbarkeit erwartete niemand; aber als das vereinigte Deutschland schon wenig später zu einem der feindlichsten Länder gegenüber Russland wurde, fühlten sich viele Russen schlicht betrogen. Dieses Gefühl hält an.

Russen deuten die westliche Gorbatschow-Verehrung oft als Fortsetzung des Triumphgefühls nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion — mit der NATO-Erweiterung, mit den wirtschaftlichen Schocks, und der Erfahrung, an den Rand der Weltpolitik gedrängt worden zu sein. Gorbatschow gilt in diesem Narrativ als der Mann, der die Tore geöffnet hat.

Auch der Generationenunterschied spielt eine Rolle. Jüngere Russen, die die Sowjetunion nicht erlebt haben, urteilen milder. Aber jüngere Leute werden als unwissend und naiv abgetan. Für die älteren — die Perestroika-Generation — ist der Name Gorbatschow untrennbar mit sehr konkreten Härten verbunden. Sie erinnern sich an die Euphorie neuer Freiheiten, aber ebenso an Angst, Mangel und moralische Desorientierung. Wenn große Hoffnungen in einem nationalen Zusammenbruch enden, kann das Gefühl des Verrats ein Leben lang bleiben.

Der Westen blickt auf die Gorbatschow-Ära und sieht den Abbau nuklearer Spannungen, offene Grenzen, die moralische Schönheit des Abbaus eines repressiven Systems. Doch all diese Errungenschaften löschen im russischen Gedächtnis die Härte der damaligen Erfahrung nicht aus. Die Welt wurde vielleicht für eine Zeit lang ruhiger und sicherer — aber der Alltag vieler Russen wurde zu einer Hölle. Die Geschichte zeigt selten Gnade gegenüber den Verlierern, selbst jenen, die mit Würde verlieren.

Viele deutsche „Russlandversteher“ glauben, die Lösung aller Probleme hätte eine symbiotische Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland sein können: Russland als Rohstofflieferant, Deutschland als industrielles Kraftzentrum. Doch diese Art von Nostalgie findet heute in Russland kaum Sympathie. Die russische Selbstachtung könnte sich nicht damit zufriedengeben, bloß ein gigantisches Gasfeld im Dienst der deutschen Industrie zu sein. Die Russen wollen selbst Technologien erfinden und Reichtum schaffen. An Selbstvertrauen fehlt es ihnen nicht mehr. Darüber hinaus sind inzwischen viele in Russland überzeugt, dass sie den Westen weit weniger brauchen, als Europa seinerseits Russland irgendwann mal brauchte. Gorbatschow mag von einem vereinten Europa geträumt haben, aber von dem heutigen Europa haben die Russen die Nase langsam voll und von Europa erwarten sie nichts Gutes. Die Zeit der Idealisierung Europas ist vorbei.

(Red.) Siehe dazu die Würdigung der Leistungen Gorbatschows – aus Sicht eines Kämpfers für den Frieden (von Leo Ensel)

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