Vladimir Makei, der weissrussische Aussenminister, wusste, wovon er sprach
(Red.) In einer Zeit, in der, nicht zuletzt in Westeuropa, gewisse Aussenministerinnen deutlich mehr Einbildung als Ausbildung vorzuweisen haben, gibt es auch Aussenminister, die von der Ideen- und Geistesgeschichte dieser Welt noch eine Ahnung haben – oder eben, leider, hatten: Am Samstag ist der weissrussische Aussenminister Vladimir Makei überraschend verstorben. Nur zwei Wochen vor seinem Tod hat er auf der Website «RUSSIA IN GLOBAL AFFAIRS» einen Artikel zum Thema Weltordnung veröffentlicht, in dem er aufzeichnet, warum die «Liberale Internationale Ordnung» (LIO) als von allen Seiten zu akzeptierende Weltordnung ausgedient hat. (cm)
(Kleine Vorwarnung: Die Zeitschrift «RUSSIA IN GLOBAL AFFAIRS» richtet sich, ähnlich wie die US-amerikanische Zeitschrift «Foreign Affairs», in erster Linie an professionelle Politologen, an eine akademisch ausgebildete, politisch und vor allem auch geopolitisch interessierte Leserschaft. Die Redaktion von Globelbridge.ch bringt diesen Beitrag aus aktuellem Anlass. Der zum Verständnis des Artikels erforderliche historische Background kann nicht von jedermann erwartet werden. Stil und Länge des Beitrags sollen auf Globalbridge.ch eine Ausnahme bleiben. Red.)
(Red.) Zuerst die Zusammenfassung des Artikels von Vladimir Makei, geschrieben von ihm selbst:
Es ist allgemein bekannt, dass die «Liberale Internationale Ordnung» (LIO) nach dem Zweiten Weltkrieg entstand und ihren Höhepunkt in den 1990er Jahren erreichte, als ihr Hauptvertreter – die USA – eine hegemoniale Position auf der globalen Bühne einnahm. Die wahren Wurzeln der LIO sind jedoch viel früher zu suchen, nämlich im späten 18. Jahrhundert, als sich in der europäischen Politik zwei unterschiedliche Richtungen herausbildeten, die wirtschaftliche und die politische. Beobachter neigen dazu, den dualen Charakter der LIO zu übersehen, der sich aus diesen beiden Richtungen ergibt, und übersehen dabei das ihr innewohnende Hauptproblem. Während die wirtschaftliche Schiene der LIO für alle akzeptabel sein mag, dient ihre politische Schiene, die im Konzept des Demokratischen Friedens verkörpert ist, nur dazu, die Welt zu polarisieren. Wichtig ist, dass der derzeitige Diskurs über die LIO in einer posthegemonialen Zeit geführt wird. Diejenigen, die immer wieder auf der Möglichkeit bestehen, die LIO zu retten, die für eine kurze liberale Hegemonialzeit relevant war, verkennen, dass die heutige vielfältige Welt eine neue Art von internationaler Ordnung erfordert.
(Red.) Und ab hier sein in englischer Sprache veröffentlichter Beitrag, ins Deutsche übersetzt:
In den letzten zehn Jahren hat das Interesse am Thema der so genannten «Liberalen Internationalen Ordnung» LIO allmählich zugenommen, insbesondere in der westlichen akademischen Gemeinschaft. Die Hauptursache für diesen allgemeinen Trend scheint der unaufhaltsame Aufstieg Chinas und der immer deutlicher werdende Niedergang der USA zu sein. Viele Experten argumentieren, dass der Aufstieg Chinas eine langfristige existenzielle Bedrohung für die LIO darstellt, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Werten und Interessen der USA – der damals dominierenden Macht – aufgebaut wurde. Dieser Argumentation zufolge ist China, wenn es auf der Weltbühne zu einer dominanten Macht wird, dazu bestimmt, die liberale Ordnung durch eine internationale Ordnung zu ersetzen, die besser zu seinem eigenen politischen und wirtschaftlichen System passt. Es ist also eine „autoritäre“ internationale Ordnung im Entstehen begriffen. Folglich waren die westlichen Akademiker im Allgemeinen eher pessimistisch, was die Aussichten der LIO betrifft.
Die Debatte über die LIO wurde in den Jahren 2016-2017 vor dem Hintergrund der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, des Brexit Großbritanniens aus der Europäischen Union, der Massenmigration aus dem Nahen Osten nach Europa und des zunehmenden Populismus und Rechtsnationalismus in einigen westeuropäischen Ländern besonders brisant. Sehr bezeichnend für diesen Trend war der Titel der Januar-Februar-Ausgabe 2017 von «Foreign Affairs» – „Out of Order: The Future of the International System“ (Die Zukunft des internationalen Systems), die sehr aufschlussreiche Beiträge von anerkannten westlichen Experten enthielt.
Außerdem fand eine höchst interessante intellektuelle Debatte über die Zukunft der LIO zwischen zwei renommierten westlichen politischen Experten, dem Briten Niall Ferguson und dem Amerikaner Fareed Zakaria, statt (The Bridgehead, 2017). Fast zwei Stunden lang stritten sie in einer Fernsehsendung um eine Antwort auf die Frage: „Ist die liberale Weltordnung vorbei?“, wobei Ferguson für ihr nahes Ende und Zakaria dagegen argumentierte. Die meisten Zuschauer stimmten für Fergusons pessimistische Sicht auf die Zukunft der LIO.
Das jüngste Interesse an der LIO entstand im Zusammenhang mit Russlands militärischer Sonderoperation in der Ukraine, die am 24. Februar 2022 begonnen hat. Wieder einmal schien die Debatte in den westlichen Medien stärker zu sein. Der Westen vertritt allgemein die Auffassung, Russlands Vorgehen in der Ukraine habe der LIO einen tödlichen Schlag versetzt, die durch den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und seine zunehmend selbstbewusste Außenpolitik sowie durch einige anhaltende transnationale Herausforderungen wie den Klimawandel, die öffentliche Gesundheit und vieles Andere bereits geschädigt worden sei. Diesem Gedankengang zufolge gibt es keine Hoffnung auf eine Wiederbelebung der LIO.
Auch nicht-westliche Politiker und Politikwissenschaftler beteiligen sich seit fast einem Jahrzehnt an der Debatte über die LIO, wenn auch scheinbar in kleinerem Rahmen. So äußerte sich beispielsweise der russische Präsident Wladimir Putin in einem Interview mit der «Financial Times» im Juni 2019 zu diesem Thema und argumentierte, die liberale Idee habe ihren Zweck überlebt und die LIO sei obsolet geworden, da sie mit den Interessen der überwältigenden Mehrheit der Menschen [in der Welt] in Konflikt geraten sei (Financial Times, 2019). Auch «Russia in Global Affairs» hat sich regelmäßig an der Debatte beteiligt.
In der Debatte über die LIO wurden die so genannten „Demokratien“ gegen „Autokratien“ ausgespielt, da die LIO mit den ersteren in Verbindung gebracht wird, während die Bedrohung für die LIO angeblich von den letzteren ausgeht. Für diese Begriffe gibt es keine allgemeingültigen Definitionen. Nichtsdestotrotz wissen wir alle, wofür sie stehen. In groben Zügen verstehen wir unter „Demokratie“ eine Form des Regierens, bei der die Macht dezentralisiert und mehr oder weniger gleichmäßig auf die verschiedenen Zweige verteilt ist, während „Autokratie“ eine Form des Regierens ist, bei der die Macht zentralisiert ist und bei der die Rolle der Exekutive ziemlich ausgeprägt ist. Ein Autokrat an der Macht würde beispielsweise niemals dem berühmten Ausspruch des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan zustimmen: „Die Regierung ist nicht die Lösung für unser Problem, die Regierung ist das Problem“ (Reagan, 1981). Jeder „Autokrat“ würde sicherlich für das Gegenteil einstehen.
Dieser Artikel ist ein Versuch, einen bescheidenen Beitrag zur Debatte über die LIO aus der Perspektive eines „autokratischen“ Staates zu leisten – Belarus, wie es vom Westen in diese Kategorie eingeordnet wird und der Autor dieses Artikels ist zufällig belarussischer Außenminister. Mit diesem Versuch erhebe ich gewiss nicht den Anspruch, die Sicht aller „Autokratien“ darzustellen; vielmehr biete ich meine eigene Sichtweise an, die auf der langjährigen Erfahrung als hoher Beamter in einem „autokratischen“ Land beruht. Wichtig ist, dass ich den Begriffen „Demokratie“ und „Autokratie“ keine pejorative Bedeutung beimesse; sie werden in diesem Papier lediglich der Einfachheit halber verwendet, um ihrer breiten Verwendung im außenpolitischen Diskurs zu folgen.
Entstehung, Substanz, Herausforderungen
Was ist eine internationale Ordnung und warum wird die derzeitige Ordnung als liberal angesehen?
Eine internationale Ordnung kann im Allgemeinen als ein dominantes Muster des weltpolitischen Engagements ihrer Akteure betrachtet werden. Wie es im Verlaufe der Geschichte immer der Fall war, hat ein führendes oder hegemoniales Land die Schlüsselrolle bei der Schaffung einer internationalen Ordnung gespielt. Dieses Land versucht stets, auf der internationalen Bühne bestimmte Verhaltensregeln aufzustellen, denen andere freiwillig oder unfreiwillig folgen. Eine internationale Ordnung ist also eher ein informeller Mechanismus, der in Ermangelung einer solchen Regierung die Rolle einer Weltregierung übernehmen kann.
Wann hat sich die heutige LIO entwickelt? Die gängige Meinung besagt, dass diese Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise entstand, als die USA mit Unterstützung anderer westlicher Länder eine Reihe von Institutionen, Regeln und Normen förderten, die eine Wiederholung der Fehler der 1930er Jahre vermeiden und stattdessen Frieden, Wohlstand und Demokratie fördern sollten. So kam es, dass die LIO schließlich auf internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF, der Weltbank und der Welthandelsorganisation, Sicherheitsbündnissen wie der NATO, informellen Gruppierungen wie der G7 und der G20, zahlreichen internationalen Verträgen und Konventionen sowie vielen anderen formellen und informellen Vereinbarungen und Instrumenten beruhte. Zusammengenommen beeinflussen diese Strukturen fast jeden Aspekt des Lebens in der Welt.
So stützt sich die LIO auf folgende Schlüsselelemente: Freihandel, freier Kapitalverkehr, demokratische Regierungsform, die auf der Trennung und Ausgewogenheit der verschiedenen Gewalten beruht, Engagement für die Menschenrechte, einschließlich verschiedener individueller bürgerlicher und politischer Rechte, und das Recht auf Eigentum. Die Befürworter nannten sich jeweils „Demokratien“, offensichtlich um die eigene Bevölkerung davon zu überzeugen, dass sie tatsächlich die Möglichkeit hat, Behörden zu wählen und durch gewählte Vertreter zu regieren.
Die LIO entstand im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg. Daher wurde sie natürlich von der Sowjetunion und ihren Verbündeten in Frage gestellt. In der Tat stellte der Sowjetblock mit seinen alternativen Versionen der politischen und wirtschaftlichen internen Organisation eine Art vorübergehende Alternative zur westlich geführten Ordnung dar. Der Zusammenbruch des Blocks zu Beginn der 1990er Jahre und die Übernahme „liberaler“ Werte durch seine ehemaligen Mitglieder veranlasste einen sehr berühmten politischen Analysten, das „Ende der Geschichte“ auszurufen (gemeint ist der Politikwissenschafter Francis Fukuyama. Red.). Seiner Logik zufolge konnte es nach dem Sieg des Liberalismus über den Kommunismus keine Alternative mehr zur LIO geben, und folglich war die Geschichte, wie wir sie kannten, d. h. die Geschichte der Kriege, Rivalitäten und Konfrontationen, endlich vorbei.
Eine weitere ideologische Herausforderung für die LIO, wenn auch nur von kurzer Dauer, kam von den Entwicklungsländern inmitten des Kalten Krieges in den frühen 1970er Jahren. Die Entkolonialisierung der 1960er Jahre brachte viele neue Entwicklungsländer auf die Weltbühne, die sich in der LIO und insbesondere im Freihandel mit den westlichen Industriestaaten im Nachteil sahen.
Also stellten sich die Entwicklungsländer einer gemeinsamen Herausforderung. Ihre Initiative mit der Bezeichnung „Neue Internationale Wirtschaftsordnung“ (New International Economic Order) wurde im Schlussdokument des Gipfels der Blockfreien Bewegung 1973 formell festgehalten und 1974 als Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen unter demselben Titel angenommen. Das Programm sah Maßnahmen vor, die darauf abzielten, die bestehenden internationalen Wirtschaftsbeziehungen in einer Weise zu verändern, die für die Dritte Welt vorteilhafter wäre. Die Umsetzung der Initiative hing jedoch vom guten Willen des Westens ab, der sie ablehnte.
So hatte die LIO in den 1990er Jahren scheinbar alle vorübergehenden Herausforderungen überstanden und war so stark und widerstandsfähig geworden, wie sie nur sein konnte. Doch was ist nur wenige Jahrzehnte später schief gelaufen (aus historischer Sicht ja nur ein flüchtiger Moment)? Was führte dazu, dass sich der weltweite Diskurs über die LIO von strahlendem Optimismus in sauren Pessimismus verwandelte? Um diese Fragen zu beantworten, erscheint es sinnvoll, die LIO als solche näher zu betrachten und zu prüfen, ob sie einige inhärente Fehler aufweist, die ihr unvermeidliches Scheitern vorherbestimmt haben.
Markenzeichen und übergeordnetes Prinzip
Wenn Politikwissenschaftler sagen, die LIO sei nach 1945 entstanden, haben sie sowohl Recht als auch Unrecht. Sie haben Recht, wenn sie dieses Datum als den Beginn der praktischen Arbeit am Aufbau der mit der LIO verbundenen Strukturen bezeichnen. Sie liegen falsch, wenn sie nicht weiter in die Vergangenheit schauen, um Ereignisse und Entwicklungen zu finden, die die Entstehung der LIO in der Mitte des 20. Jahrhunderts ermöglichten.
In seinem Buch «World Order» (2014) behauptet der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger, es habe nie eine wirklich globale „Weltordnung“ gegeben und das, was in unserer Zeit als Ordnung gilt, sei vor fast vier Jahrhunderten in Westeuropa entwickelt worden. Kissinger zufolge wurde der Westfälische Friede von 1648, der auf einem System unabhängiger Staaten beruhte, die sich nicht in die inneren Angelegenheiten der anderen einmischten und die Ambitionen der anderen durch ein allgemeines Machtgleichgewicht kontrollierten, zum Markenzeichen eines neuen Systems internationaler Ordnung (Kissinger, 2014, S. 3).
Eine weitere wichtige Einsicht in den Ursprung der LIO lieferte der britische kritische Historiker Eric Hobsbawm in seinem bahnbrechenden Buch «The Age of Revolution» (1962), dem ersten einer Trilogie seiner Bücher über das „lange 19. Jahrhundert“. Eric Hobsbawm entwickelte den Begriff der Doppelrevolution, womit er die britische industrielle Revolution, die Ende des 18. Jahrhunderts stattfand, und die französische Revolution von 1789 meinte.
Hobsbawm zufolge setzte die Industrielle Revolution um 1780 ein und dauerte zwanzig Jahre, wobei das revolutionäre Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung seitdem zur Norm wurde. Die Französische Revolution, die von den Idealen der Aufklärungsphilosophie inspiriert war, setzte die Verbreitung von Ideen wie Demokratie, Nationalismus und Liberalismus in Gang. In der Tat wurde der Liberalismus in der Zeit nach der Französischen Revolution zu einer dominierenden Bewegung. Die Liberalen glaubten an die Pressefreiheit, die Redefreiheit, die Bürgerrechte, faire Wahlen, die Religionsfreiheit und das Privateigentum. So bezeichnete Hobsbawm die Industrielle Revolution als eine wirtschaftliche Revolution, während die Französische Revolution als politische Revolution angesehen wurde. Zusammengenommen bilden sie die „doppelte Revolution“.
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Schlüsselelemente der heutigen LIO – Liberalismus, Freihandel und Demokratie – aus der doppelten Revolution an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert stammen. Wenn also der Westfälische Friede von 1648 das Markenzeichen der LIO war, kann die «Doppelte Revolution» sicherlich als ihr übergeordnetes Prinzip und ihr Wegbereiter angesehen werden.
Die «Doppelte Revolution» hat sich schließlich zur LIO entwickelt. Aber der Weg der «Doppelten Revolution» zum Ziel der «Liberalen Internationalen Ordnung» LIO war nicht eben und einfach. Während die wirtschaftliche Schiene der «Doppelten Revolution» von den Eliten der damals führenden Staaten begrüßt wurde, geriet ihre politische Schiene unter Beschuss durch den Konservatismus, der mit der 1815 von Österreich, Preußen und Russland geschmiedeten Heiligen Allianz verbunden war, um die Ideen des Liberalismus, des Nationalismus und der Demokratie auf dem europäischen Kontinent zu bekämpfen.
Auf politischer Ebene hatte die «Doppelte Revolution» erst nach dem Ersten Weltkrieg eine Chance, als US-Präsident Woodrow Wilson versuchte, sein Versprechen einzulösen, „die Welt sicher für die Demokratie zu machen“, das er abgegeben hatte, um den Kriegseintritt der USA zu rechtfertigen. Die Bemühungen schlugen jedoch fehl, nicht zuletzt, weil es Wilson nicht gelang, im eigenen Land Unterstützung für seine globale „demokratische“ Nachkriegsagenda zu gewinnen.
Was die Wirtschaft betrifft, so war die Bilanz der «Doppelten Revolution» bis vor einigen Jahrzehnten eher gemischt. Einerseits hat die industrielle Revolution sicherlich den menschlichen Fortschritt gefördert, da sie der Menschheit dank des Freihandels und einer beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung im Inland half, aus der so genannten Malthusianischen Falle auszubrechen. Andererseits brachte sie auch zwei negative Entwicklungen mit sich. Auf internationaler Ebene führte sie zu einem Freihandelsregime, das die Industrienationen gegenüber den rückständigen Gesellschaften begünstigte, während sie auf nationaler Ebene zu großer sozialer Unzufriedenheit führte, da die Reichen versuchten, den Armen so viel wie möglich wegzunehmen, um in die weitere wirtschaftliche Expansion zu investieren. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die kommunistische Ideologie in Europa genau als Reaktion auf den letztgenannten Trend entstanden ist.
Es ist rätselhaft, warum Meinungsforschungsexperten, die sich mit der LIO befassen, diese eindeutige Doppelnatur nicht erkennen, zumal das Problem der LIO, wie weiter unten gezeigt wird, genau in ihrer Doppelnatur liegt.
Entwicklung
Wie bereits erwähnt, war die LIO im 20. Jahrhundert in der Lage, zwei ideologischen Herausforderungen zu widerstehen, die vom sozialistischen Lager bzw. der Dritten Welt ausgingen. Doch die LIO ist nicht unversehrt geblieben, sondern hat sich weiterentwickelt. Eine wichtige Entwicklung fand auf wirtschaftlicher und eine andere auf politischer Ebene statt. Beide veränderten die LIO in einer Weise, die sie gleichzeitig „humaner“ und auch „aggressiver“ machte.
Die wichtigste Entwicklung, die in den 1970er Jahren an der wirtschaftlichen Front begann, war positiver Natur, da sie die LIO „humaner“ machte. Diese Entwicklung war das so genannte „Outsourcing“ – die Verlagerung der Produktion vom Westen in die Entwicklungsländer. Die wirtschaftliche Logik liegt hier auf der Hand: Durch die „Verlagerung“ ihrer Produktion ins Ausland senken transnationale Konzerne (TNK) die Produktionskosten aufgrund billigerer Arbeitskräfte in den Entwicklungsländern und steigern ihre Gewinne, während ausländische Direktinvestitionen in den aufnehmenden Entwicklungsländern diese in die Lage versetzen, exportorientierte Volkswirtschaften aufzubauen und so einen Entwicklungssprung zu machen.
China steht hier als die größte Erfolgsgeschichte. Dank seiner wirtschaftlichen Offenheit und seiner Bereitschaft zum freien Handel konnte China ausländische Direktinvestitionen anziehen und durch sein exportorientiertes Wachstum eine beispiellose wirtschaftliche Entwicklung erreichen, die Hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreit und das Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt gemacht hat. Experten sind sich einig in ihrer Einschätzung, dass China bald wieder den Titel der größten Volkswirtschaft der Welt erlangen wird, den es vor der industriellen Revolution jahrhundertelang innehatte. Viele andere Entwicklungsländer, vor allem in Ostasien, treten in Chinas Fußstapfen.
Diese positive Entwicklung bedeutet nicht, dass die LIO in wirtschaftlicher Hinsicht völlig „human“ geworden ist. Für die am wenigsten entwickelten Länder, die von der Globalisierung „abgekoppelt“ sind, bleibt eine beträchtliche „nicht integrierte Lücke“ bestehen (Barnett und Gaffney, 2003). Aus verschiedenen Gründen sind diese Länder nach wie vor in hohem Maße von der öffentlichen Entwicklungshilfe und anderen Formen der internationalen Hilfe abhängig.
Wie geht es also den „Autokratien“ in diesem veränderten globalen Wirtschaftsumfeld? Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sie im Allgemeinen vom wirtschaftlichen Arm der LIO profitieren. Dies wird durch die Tatsache bestätigt, dass sie alle wollen, dass der Westen seine Wirtschaftssanktionen aufhebt, wenn diese gegen „Autokratien“ verhängt werden, denn Sanktionen schränken die Möglichkeiten für Vorteile ein, die sich aus dem freien Handel und dem freien Kapitalverkehr ergeben.
Darüber hinaus profitieren alle „Autokratien“ vom Zugang zu den Verbrauchermärkten in den „demokratischen“ Ländern und vom Technologietransfer aus den „Demokratien“, der größtenteils von den im Westen ansässigen transnationalen Unternehmen im Rahmen des Outsourcing durchgeführt wird. Darüber hinaus streben alle „Autokratien“ die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO) an, um die Vorteile des Freihandels voll ausschöpfen zu können. Im Allgemeinen scheinen die „Autokratien“ also stark in die wirtschaftlichen Prozesse und Strukturen der LIO integriert zu sein und streben eine noch stärkere Integration an.
Diese Tatsachen lassen den Schluss zu, dass die „Autokratien“ keine ernsthaften Probleme mit der LIO auf wirtschaftlichem Gebiet haben, d.h. mit dem freien Handel und dem freien Kapitalverkehr. Daher scheinen die „Autokratien“ gegenwärtig nicht daran interessiert zu sein, den „wirtschaftlichen“ Status quo durch die Schaffung einer neuen Wirtschaftsordnung zu ändern; zumindest wäre eine Einigkeit über eine solche Initiative unter ihnen derzeit unwahrscheinlich.
Dennoch haben die „Autokratien“ einen „Vorbehalt“ in diesem wirtschaftlichen Bereich. Ein solcher Zustand in der Wirtschaft ist für die „Autokratien“ auf internationaler Ebene akzeptabel, sofern sie im Inland ihre eigene Wirtschaftspolitik unter stärkerer staatlicher Kontrolle verfolgen können. Dieses Phänomen, das als „staatlich gelenkter Kapitalismus“ bezeichnet wird, wird in vielen „autokratischen“ Ländern erfolgreich praktiziert. In der Tat haben „Autokratien“ guten Grund, eine solche Haltung einzunehmen, da sie sich gut daran erinnern, dass das Fehlen solcher Kontrollen und die Unterordnung unter den vom Westen geführten Washingtoner Konsens eine hoch akute Finanz- und Wirtschaftskrise in Südostasien 1997-1998 und in Russland 1998 auslöste.
Die „Autokratien“ haben jedoch ein Problem mit der LIO auf der politischen Schiene, da der Westen versucht, dem Rest der Welt seine spezifische politische Regierungsform, d.h. die „Demokratie“, aufzuzwingen. Warum ist das so? Dieser Trend wird am überzeugendsten von der liberalen Schule der Theorien der internationalen Beziehungen durch das Konzept des Demokratischen Friedens erklärt.
Die liberale Theorieschule geht davon aus, dass die internationalen Beziehungen von den Absichten der Staaten und nicht von ihren Fähigkeiten bestimmt werden. Mit anderen Worten: Wenn einige Länder gute Absichten gegenüber anderen Ländern haben, besteht für sie keine Notwendigkeit, ihre militärischen Fähigkeiten auszubauen und Kriege zu führen. Aber wie kann man eine Situation erreichen, in der alle Länder nur gute Absichten gegenüber den anderen haben? Offensichtlich, indem man sie alle gleich macht. Aus dieser Überzeugung heraus entstand die Theorie des Demokratischen Friedens – die Ansicht, dass „Demokratien“ keine Kriege gegeneinander führen, weil „demokratische“ Regierungen im Gegensatz zu „autokratischen“ Regierungen ihrer Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig sind und daher keine feindlichen Absichten gegen andere demokratische Staaten hegen können.
Dieses Konzept geht auf Immanuel Kant zurück, der in seinem Werk „Ewiger Friede“ (1797) die Ansicht vertrat, dass Staaten mit einer republikanischen Regierungsform dem Frieden untereinander eher förderlich sind als mit anderen Ländern. Das Rezept zur Überwindung der Zwänge der internationalen Anarchie bestand demnach darin, alle Länder des Systems in ihrer inneren Struktur ähnlich zu machen, d. h. sie alle republikanisch zu gestalten. Die Verwirklichung dieses Ziels würde die Anhäufung von Macht im Innern und das internationale Gleichgewicht in einer von gleichgesinnten Ländern bewohnten Welt irrelevant und unnötig machen. Auf diese Weise würde schließlich ewiger Frieden in der Welt eintreten.
Zur Zeit Kants wurde die republikanische Staatsform mit sozialem Fortschritt assoziiert, im Gegensatz zu „reaktionären“ Monarchien, die angeblich den Fortschritt der Menschheit aufhielten. Da sich heute die republikanische Staatsform durchsetzt und sowohl „liberale“ als auch „autokratische“ Staaten umfasst, haben die Liberalen das Wort „republikanisch“ in Kants Theorie durch „demokratisch“ ersetzt und damit eine modifizierte Handlungsanleitung für die westliche Politik geschaffen.
Der wichtigste Punkt in der Theorie des Demokratischen Friedens ist, dass „Demokratien keine Kriege gegen andere ‚Demokratien‘ führen, aber es steht ihnen frei, ‚Despoten‘, ‚Tyrannen‘ und ‚Autokraten‘ zu bekämpfen“. Genau so erklärt die Theorie die Kriege des revolutionären Frankreichs gegen die europäischen Monarchien im späten 18. Jahrhundert – als Kriege, die von einem „republikanischen“ („demokratischen“) Land gegen „böse“ Mächte geführt wurden.
Die meiste Zeit seit seiner Entstehung wurde der Demokratische Frieden von anderen globalen Kräften eingedämmt, zum Beispiel vom europäischen Konservatismus im 19. und von der Sowjetunion im 20. Jahrhundert. Bis in die 1990er Jahre hatte er keine Chance, zu einem dominierenden globalen Trend zu werden, weil es keinen hegemonialen „republikanischen“ oder „demokratischen“ Staat in der Welt gab, der fest hinter ihm stand.
„Hegemonie“ wird in diesem Zusammenhang in dem Sinne verwendet, den der italienische politische Denker Antonio Gramsci in den 1920-1930er Jahren entwickelt hat: Er meint nicht die militärische oder wirtschaftliche Dominanz eines Landes über andere, sondern spiegelt vielmehr die Tatsache wider, dass alle Teilnehmer des Systems die Führung, die Autorität und die damit verbundenen Machtstrukturen eines anderen bereitwillig akzeptieren und sie als etabliert, natürlich und legitim ansehen (siehe Cox, 2010).
In den frühen 1990er Jahren wurden die USA zu einer Hegemonialmacht. Als solche hätten sie ihren Status und ihre Macht klüger nutzen können, um die LIO in einer Weise zu gestalten und zu stärken, die allen Teilnehmern am System der internationalen Beziehungen zugute gekommen wäre, wodurch die Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit der LIO gewährleistet worden wäre.
Denn was war die von den USA vorangetriebene NATO-Erweiterung anderes als der Beweis für die Lebensfähigkeit der Theorie des Demokratischen Friedens? Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes gab es keinen Grund mehr für seine weitere Existenz. Doch trotz des Fehlens jeglicher Bedrohung begann das Bündnis unter verschiedenen weit hergeholten Vorwänden zu expandieren, neue „Demokratien“ in seine Reihen aufzunehmen und anderen Ländern in der Welt diese Regierungsform gewaltsam – unter Verletzung des Völkerrechts – aufzuzwingen.
Was waren die so genannten „farbigen Revolutionen“, die vom Westen angeregt und unterstützt wurden, um in anderen Ländern, vor allem in den ehemaligen Sowjetrepubliken, „Demokratie“ einzuführen, wenn nicht die praktische Umsetzung der Theorie des Demokratischen Friedens? Darüber hinaus sind die unrechtmäßigen einseitigen Zwangsmaßnahmen, die die „Demokratien“ der Welt immer wieder gegen die „Autokratien“ ergreifen, um deren Nutzen aus der wirtschaftlichen Komponente der LIO zu begrenzen, ebenfalls Teil ihrer Bemühungen, die Idee des Demokratischen Friedens zu fördern.
Natürlich wehren sich die „Autokratien“ gegen Versuche, ihnen den „Demokratischen Frieden“ aufzuzwingen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass eine interne Regierungsform in einem Land nicht von außen aufgezwungen werden kann. Die innere Form eines jeden Staates ist ein komplexes „historisches Konstrukt“: Seine Entwicklung wurde durch eine Reihe von ultimativen und zentralen Faktoren wie Geographie, Religion, Kultur und die Geschichte der Beziehungen zu den Nachbarländern beeinflusst. Diese Faktoren bestimmen historisch die Art der Zentralisierung oder Dezentralisierung der Macht in jedem Staat und das Ausmaß, in dem die Exekutive mit anderen Gewalten zusammenarbeitet.
Die „Autokratien“, denen großes Verdienst zukommt, verstehen diesen komplexen historischen Prozess und versuchen nicht, ihre zentralisierte und „autokratische“ Lebensweise den westlichen Gesellschaften aufzuzwingen, die auf dem evolutionären Weg der inneren Entwicklung zu einer dezentralisierten Regierungsform und einem System der gegenseitigen Kontrolle in der Regierung gelangt sind.
Es ist nicht verwunderlich, dass die Auferlegung von Regierungsformen, die einem bestimmten Staat fremd sind, zu innerem Chaos führt und diesen Staat praktisch zerstört und gleichzeitig einen negativen „Spill-over-Effekt“ in der gesamten Region auslöst. Entwicklungen dieser Art gab es im Zusammenhang mit dem so genannten Arabischen Frühling im Nahen Osten und in Nordafrika.
So dient die politische Schiene der LIO dazu, die LIO selbst zu untergraben und zu diskreditieren und Ideen über die Schaffung einer neuen globalen Ordnung zu wecken.
Eine neue Ordnung?
Man kann den allgemeinen Pessimismus über die Aussichten der LIO nur teilen. Doch die Ursache für diesen Pessimismus wurde im laufenden globalen Diskurs nicht richtig erkannt. Das Problem mit der LIO besteht nicht darin, dass bestimmte Ereignisse wie der Brexit, die Wahl Trumps oder die militärische Operation Russlands in der Ukraine die LIO „untergraben“. Dies sind alles vorübergehende Ereignisse, sie kommen und gehen.
Das Problem mit der LIO ist eher struktureller Natur. Die Geschichte zeigt, dass Weltordnungen (oder eher regionale Ordnungen, wenn man sie aus der historischen Perspektive betrachtet) gedeihen, wenn sie von hegemonialen Staaten gestützt werden. Die moderne Welt befand sich in ihrer hegemonialen Phase ungefähr vom „Fall der Berliner Mauer 1989 bis zum Fall von Lehman Brothers 2007“, wie es der amerikanische Ökonom Joseph Stiglitz formulierte (2010).
Es war in der Tat eine Ära des amerikanischen Triumphalismus, der „unipolare Moment“. Dieser Moment ging politisch mit der imperialen Überforderung der USA im Irak, in Afghanistan und anderswo zu Ende, während er wirtschaftlich durch die globale Wirtschafts- und Finanzkrise beendet wurde, die durch den in den USA herrschenden „Marktfundamentalismus“ ausgelöst wurde.
Die Geschichte zeigt, dass nicht-hegemoniale Perioden von regionalen oder, seltener, ideologischen Ordnungen beherrscht wurden. Ist Regionalismus (oder Ideologie) eine Option für die Welt von heute? Es ist sicherlich eine sehr praktikable Option.
In erster Linie ist es viel einfacher, auf regionaler Ebene eine wirksame Zusammenarbeit zu erreichen als auf globaler Ebene, da die Regionen kohärentere politische, wirtschaftliche und kulturelle Einheiten darstellen als ein globales Gemeinwesen. In jeder Region gibt es eindeutig einige Hegemonen im gramscianischen Sinne, die in der Lage sind, die regionale Ordnung zu gestalten. Außerdem scheinen die politischen Hauptströmungen in allen Regionen eine solche Entwicklung zu unterstützen. So hat beispielsweise der russische Präsident Wladimir Putin vor einigen Jahren die Idee einer großen eurasischen Partnerschaft geäußert, mit der eine stärkere Zusammenarbeit und Integration in diesem Teil der Welt angestrebt wird.
Es ist also durchaus möglich, eine Weltordnung zu entwickeln, die durch regionale Ordnungen repräsentiert und realisiert wird, die durch eine effektive Zusammenarbeit miteinander verbunden sind.
Die Debatte im Westen spricht jedoch meist für die Rettung der derzeitigen LIO. Sehr aufschlussreich in dieser Hinsicht war ein Artikel mit dem Titel „Last Best Hope: The West’s Final Chance to Build a Better World Order“, der kürzlich in «Foreign Affairs» erschien (Daadler und Lindsay, 2022).
In Anlehnung an die Rede von US-Präsident Biden im März 2022, in der er sagte, dass „der Westen jetzt vor einem Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, zwischen Freiheit und Unterdrückung, zwischen einer auf Regeln basierenden Ordnung und einer, die von roher Gewalt beherrscht wird, steht“, kamen die Autoren auf die Idee, eine G12 zu gründen, um den Westen zu konsolidieren. Sie argumentieren, dass die neue Gruppe keine lose Ad-hoc-Organisation wie die G7 sein sollte, sondern vielmehr ein effektiver Mechanismus, um „den russischen Revanchismus zu vereiteln und mit China zu konkurrieren“. Sie sehen ihre Idee als die letzte Hoffnung, die LIO zu retten.
Was diese Autoren vorschlagen, ist nicht das, was ihnen tatsächlich vorschwebt; vielmehr schlagen sie die Stärkung einer regionalen euro-atlantischen oder, wie man es alternativ nennen könnte, einer ideologischen „demokratischen“ Ordnung vor. Das Mittel, das sie vorschlagen – mehr „Demokratie“ für die Welt – würde sicherlich nicht dazu führen, die LIO als internationales Arrangement zu retten, was sie als Ziel formulieren. Im Gegenteil, wenn diese Idee verwirklicht würde, würde sie den letzten Nagel in den Sarg der LIO schlagen, denn die Konsolidierung des Westens würde andere nur dazu zwingen, das Tempo ihrer eigenen regionalen oder ideologischen Konsolidierung zu beschleunigen.
Infolgedessen würde sich die bestehende Kluft zwischen dem „demokratischen“ und dem „autokratischen“ Lager nur noch vertiefen. Die regionalen oder ideologischen Ordnungen, die sich in diesem Szenario herausbilden würden, wären eher in Rivalität als in Kooperation miteinander verwickelt.
Die LIO als Gesamtphänomen kann schon deshalb nicht gerettet werden, weil sie der Vielfalt der Welt nicht gerecht wird. „Liberalismus“ und „Demokratie“ sind in der Tat in vielen Ländern seit langem etablierte Regierungspraktiken. Dennoch sind sie nicht überall eine allgemein akzeptierte Regierungsform, sondern nur einige unter anderen.
Dennoch ist es möglich, ihre nützlichen Bestandteile zu bewahren und sie in eine neue Ordnung einzubauen. Wie in diesem Artikel gezeigt wurde, ist die wirtschaftliche Komponente der LIO zwar nicht perfekt, aber für die überwiegende Mehrheit der Länder in der Welt von großem Vorteil gewesen. Die Schlüsselelemente des Freihandels und des freien Kapitalverkehrs kommen den meisten Ländern, die sie anwenden, immer noch zugute.
Ist es überhaupt möglich, eine neue, wirklich globale Weltordnung zu schaffen? Hypothetisch schon. Praktisch kann das Ergebnis nicht vorherbestimmt werden, da eine solche Ordnung ohne einen globalen Hegemon, der den Prozess „steuern“ könnte, aufgebaut werden müsste. Diese Bemühungen würden also voraussetzen, dass sich alle Parteien einig sind, was eine schwierige Aufgabe ist.
Ein Ausgangspunkt für Überlegungen zu dieser Möglichkeit könnte die von Henry Kissinger in seinem Buch «World Order» vertretene Position sein: „[Welt-]Ordnung muss kultiviert werden, sie kann nicht aufgezwungen werden. Dies gilt insbesondere in einem Zeitalter der sofortigen Kommunikation und des revolutionären politischen Wandels. Jedes System der Weltordnung muss, um nachhaltig zu sein, als gerecht akzeptiert werden, nicht nur von den Führern, sondern auch von den Bürgern.“ (Kissinger, 2014, S. 8).
In der Tat muss eine neue Weltordnung kultiviert werden. Sind alle Länder der Welt und ihre Bürger heute bereit, eine neue Ordnung aufzubauen, indem sie diesen „kultivierenden“ Ansatz übernehmen? Das ist sehr zweifelhaft. Damit dies geschehen kann, muss eine Revolution in den Köpfen des politischen Mainstreams des Westens stattfinden.
Zuallererst sollten sich die „demokratischen“ Eiferer im Westen die folgende Frage stellen: Wenn der Hegemon schon während seiner fast zwei Jahrzehnte andauernden, allgemein akzeptierten globalen Vorherrschaft nicht in der Lage war, seinen Willen durchzusetzen, wie kann er dann hoffen, seinen Willen jetzt durchzusetzen, wo die globale Konjunktur für den Post-Hegemon viel schlechter ist?
Wenn sie die ehrliche Antwort geben, dass sie nicht darauf hoffen können und sollten, wäre der nächste logische Schritt, die mit der Theorie des Demokratischen Friedens verbundenen Praktiken aufzugeben. In der Tat hat kein einziges Land jemals die Macht, die Führungsstärke, die Widerstandsfähigkeit, den Glauben und die Dynamik gehabt, seinen Willen dauerhaft in der ganzen Welt durchzusetzen. Niemand wird dies jemals tun, insbesondere nicht im Rahmen einer globalen Nichthegemonie. Die Welt ist ein sehr vielfältiger Ort; daher muss eine internationale Ordnung diese Vielfalt widerspiegeln, wenn sie von allen akzeptiert werden soll.
In diesem Sinne möchte ich einen praktischen Schritt vorschlagen, nämlich die Ausarbeitung einer Charta für die Vielfalt der Welt im 21. Jahrhundert durch die Vereinten Nationen, in der alle Mitgliedstaaten gemeinsam einige Schlüsselprinzipien für die Regelung des internationalen Lebens in einer nicht-hegemonialen und sehr vielfältigen Welt festlegen könnten. Ein Bekenntnis zu dieser Idee würde zeigen, dass wir alle es vorziehen, eine neue internationale Ordnung auf der Grundlage der bestehenden Realitäten aufzubauen, anstatt Wunschdenken zu pflegen.
Es scheint lohnenswert, diesen Artikel mit den Worten Immanuel Kants zu beschließen, dessen intellektuelle Einsicht die liberale Theorie des Demokratischen Friedens als Weg zum immerwährenden Frieden hervorbrachte, in der Hoffnung, dass seine Bewunderer im Westen auch seine anderen wirklich lehrreichen Worte inspirierend finden werden: „Der ewige Friede wird schließlich auf eine von zwei Arten in die Welt kommen: durch menschliche Einsicht oder durch Konflikte und Katastrophen von einem Ausmaß, das der Menschheit keine andere Wahl lässt“ (zitiert nach Kissinger, 2011, S. 530).
Es ist noch nicht zu spät, menschliche Einsicht zu zeigen.
.
Dieser Artikel von Vladimir Makei erschien zuerst auf «RUSSIA IN GLOBAL AFFAIRS» in englischer Sprache. Chefredakteur Fyodor Lukyanov bewilligte die Übernahme auf Globalbridge.ch. Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Christian Müller.