Chatyn in Belarus, die Namen der Dörfer, die durch die gewaltsame Ermordung all ihrer Bewohner, vor allem ältere Menschen, Frauen und Kinder, durch die deutschen Soldaten einfach ausgelöscht wurden.

„Valentina, ich schäme mich für mein Land!“ – Brief an eine 84jährige Babuschka in der russischen Provinz

80 Jahre nach Kriegsende macht sich Deutschland wieder „kriegstüchtig“. Und wieder soll es gegen Russland gehen. Ich habe dies zum Anlass genommen, an eine befreundete ältere Russin zu schreiben – Namen und Ortsangaben sind anonymisiert –, die wenige Wochen nach dem deutschen Überfall geboren wurde. Wir kennen uns seit über einem Vierteljahrhundert und haben uns in dieser Zeit öfters besucht, in Russland und in Deutschland. Sie steht hier stellvertretend für all meine Freunde in Russland, nein: im gesamten postsowjetischen Raum – auch in der Ukraine, West und Donbass.

Valentina, 

geliebte Babuschka im vierten Stock der sowjetischen Plattenbausiedlung in der halbe Millionenstadt in der russischen Provinz!

Ich schreibe Dir in großer Sorge und unendlicher Traurigkeit.

Vor 84 Jahren bist Du auf diese Welt gekommen – zum falschest möglichen Zeitpunkt! Mitten hinein in den schrecklichsten aller Kriege. Und wir Deutschen hatten ihn vom Zaun gebrochen. Fast 27 Millionen Sowjetbürger hat er das Leben gekostet. Deinen Vater hast Du nie kennengelernt. Er gehörte zu den jungen Männern, die gleich zu Beginn an die Front geschickt und dort verheizt wurden. Eine Schwester von Dir starb wenig später als kleines Kind an Hunger und Krankheiten. 

Der Krieg

Ich lasse Dich am Besten selbst erzählen. Als wir uns Ende der Neunziger Jahre kennenlernten, schriebst Du mir:

Wenn ich das Wort „Deutschland“ höre, dann fällt mir als erstes „der Krieg“ ein. Dafür gibt es zwei Gründe. Den ersten habe ich selbst erlebt. Ich wurde im August 1941, zwei Monate nach Kriegsbeginn geboren. Ich war drei Tage alt, als mein Vater an die Front ging, wo er nach vier Monaten ums Leben kam. Ich habe meinen Vater nie in meinem Leben gesehen, und es war immer mein Wunsch, einen Vater zu haben. Das war typisch für alle Kinder nach dem Krieg. Nur wenige Männer kehrten aus dem Krieg zurück. 

Meine Mutter erzählte mir über die Kriegsjahre: In dem Dorf, wo wir lebten, gab es keine deutschen Truppen; sie blieben auf dem anderen Ufer des Flusses stehen. 13 Kilometer von unserem Dorf entfernt befand sich, befindet sich auch jetzt, eine sehr große Eisenbahnstation – ich würde sagen, eine der größten in unserem Land –, die die Deutschen bombardierten.

Meine Mutter wurde zusammen mit drei von ihren fünf Kindern (sechs Jahre, vier Jahre und ich) aus dem Dorf ungefähr 100 Kilometer weiter nach Osten evakuiert. Wir fuhren in einem Zug – natürlich ohne Bequemlichkeiten und Heizung, aber es war schon Winter. Ich war einige Monate alt und wenn meine Windeln nass waren, dann schlug meine Mutter sich selbst mit ihnen ein, um sie mit ihrer Körperwärme ein bisschen zu trocknen. Manchmal waren wir gezwungen, den Zug zu verlassen, weil die deutschen Flugzeuge uns bombardierten. Wir saßen irgendwo nicht weit vom Zug, manchmal im Schnee – meine Mutter mit uns Kindern. Einmal flog das Flugzeug so niedrig, daß man das Gesicht des Piloten sehen konnte. Meine Mutter erzählte, dass er lachte; sein Gesicht konnte sie noch nach 50 Jahren erinnern. Sie vermutete, dass es ein Aufklärungsflugzeug war. Die Frauen beugten sich mit ihrem Körper über ihre Kinder, obwohl alle wussten, dass sie sie damit nicht vor den Bomben retten konnten. Aber so sind alle Mütter.

Während der Evakuierung lebten wir in einem anderen Dorf. In diesem Haus war auch eine Frau mit Kindern. Sie hatten selbst nicht viel zu essen und dann kamen wir noch dazu! Aber immer wurde das Essen – gewöhnlich Kartoffeln und Brot – unter allen im Haus verteilt. In erster Linie bekamen das die Kinder. Wir waren einige Monate evakuiert. Ich hatte noch zwei weitere Geschwister, 14 und 16 Jahre alt. Sie blieben in unserem Dorf und sollten wie alle anderen Altersgenossen Schützengräben ausheben. Während des Krieges starb eine von meinen Schwestern im Alter von fast fünf Jahren an Hunger und Krankheiten. 

Auch das Leben nach dem Krieg war sehr schwer. Am Tag arbeitete meine Mutter im Kolchos, meistens auf dem Feld, sieben Kilometer von unserem Haus entfernt. Den Weg hin und zurück ging sie gewöhnlich zu Fuß. Und in der Nacht buk sie für den Kolchos Brot, jedes zehnte durfte sie kostenlos behalten. So hat sie uns alle durchgebracht. Ich habe meine Mutter so gut wie nie schlafen gesehen. Manchmal wenn ich mich daran erinnere, kann ich es nicht verstehen: Wie kann ein Lebewesen so etwas ertragen? Sie muss sehr stark gewesen sein. Ich zum Beispiel kann nicht sicher sagen, ob ich auch so stark wäre. Ich erinnere mich noch daran, daß alle Kinder trotz Hunger und Verwüstung in die Schule wollten und meistens mit Vergnügen lernten.

Und Gennadij, Dein verstorbener Mann, schrieb mir damals über diese Zeit:

Auch nach dem Krieg war das Leben kompliziert, besonders Ende der Vierziger Jahre. Da herrschte Hunger. Meine Mutter war gezwungen, aus den Schalen von Sonnenblumenkernen Mehl zu mahlen. Heute ist das für mich unvorstellbar, aber damals aßen wir das. Weil meine Mutter die Schale nicht bis zum Ende zerkleinern konnte, waren im Mehl oft noch kleine Stückchen von der Schale. Alles was meine Mutter buk, aßen wir mit Blut im Mund, denn diese Stückchen ritzten das Zahnfleisch auf.

Ich weiß nicht warum, aber heute assoziiere ich Deutschland nicht mehr mit dem Krieg. Das heutige Deutschland ist ein anderes Land mit einer anderen Generation. Aber wir alle, die Deutschen und die Russen, sollen daraus Konsequenzen ziehen und das nicht vergessen. Ich weiß, dass die deutschen Schüler über den Krieg ganz wenig im Geschichtsunterricht erfahren und manche fest glauben, dass die Engländer und Amerikaner allein den Krieg gewonnen haben. Das ist nicht die beste Strategie, ausgerechnet eine der wichtigsten Tatsachen der Geschichte zu verschweigen.

Und jetzt noch einmal Du:

Der zweite Grund, warum ich Deutschland mit dem Krieg assoziiere, sind unsere Filme aus der Sowjetzeit. Immer wieder gab es Filme über den Krieg, wo die Deutschen immer ekelig aussahen, grob und brutal waren. Aber ich würde sagen, jetzt hasse ich dieses Land und die Deutschen nicht. Jetzt lebt in diesem Land, wie auch in Russland, eine andere Generation. Es gibt noch diejenigen, die den Krieg erlebten. Aber sie sollten den jüngeren Generationen keinen Hass beibringen, sondern erzählen, wie es war, damit die Jüngeren ihre Schlüsse daraus ziehen können.

„Wir empfinden keinen Hass“

„Wir empfinden keinen Hass.“ – „Heute lebt in Deutschland eine andere Generation.“ – „Wir haben nicht gegen die Deutschen gekämpft, sondern gegen die Faschisten.“ – „Wir dürfen nicht vergessen; wir müssen es den jungen Generationen erzählen, damit sich das nicht wiederholt!“

Wie oft habe ich seit 1996 diese Sätze gehört! Während meiner interkulturellen Trainings für die Goethe-Institute und andere deutsche Organisationen in der ehemaligen Sowjetunion. In Moskau, in Jelez (Schwarzerderegion), in Kasan an der Wolga, in Ufa am Ural, in Novosibirsk und in Irkutsk unweit des Baikal. In Minsk und in der weißrussischen Provinz. In Almaty und in der kasachischen Steppe. In Kiew, in Donezk und in Kleinstädten des östlichen Donbass. Und immer habe ich dieses Thema angesprochen. Niemals meine russischen, belarussischen, kasachstanischen oder ukrainischen Seminarteilnehmerinnen. Niemals und nirgendwo wurde ich komisch angeschaut, weil ich Deutscher bin.

Was für ein kostbares Geschenk habt Ihr uns damit gemacht. Welch grandiose zivilisatorische Vorleistung für eine friedlichere Welt! (Hierzulande ist sie noch unbekannter als die Verbrechen, die unsere Väter und Großväter bei Euch in der Sowjetunion begangen haben.) Wenn doch viel mehr Menschen bei uns in Deutschland das sehen und würdigen könnten!

Das Ende des Kalten Krieges

Valentina, 

Du bist ein (russisches) Kind des Krieges, ich bin ein (west-deutsches) Kind des Kalten Krieges. Die Angst vor „den Russen“ habe ich mit der Muttermilch eingesogen. Mein halbes Leben lang hatte ich Angst vor Krieg. Einem Krieg, bei dem hier in beiden deutschen Staaten kein Stein mehr auf dem anderen geblieben wäre! Wie glücklich war ich nach dem für uns Deutsche so glücklichen Ende des Kalten Krieges. (Für Euch, für Dich war es das nicht. Da begann eine schwere Zeit, ich weiß es.)

Welch großartige politische Chancen eröffneten sich für einen kurzen wunderschönen Wimpernschlag der Weltgeschichte für unseren gemeinsamen eurasischen Kontinent! Ein Kontinent des Friedens und der Zusammenarbeit für die nächsten hundert Jahre zeichnete sich bereits in Umrissen ab. Michail Gorbatschow, den ich verehre und von dem Du nichts hältst, sprach 1990 in Bonn gar vom „Ewigen Frieden“… Noch vor wenig mehr als einem Jahrzehnt waren wir Deutschen bei Euch in Russland das nach den Menschen in Belarus zweitbeliebteste Volk. – Und jetzt?

Wir, ‚der Westen‘, haben es vergeigt! Wir haben Euch und Eurem Land, dem wir im Wesentlichen das friedliche Ende des Kalten Krieges und die Wiedervereinigung zu verdanken hatten, nicht genug Respekt entgegengebracht. In den USA jubelten sie sofort nassforsch-triumphalistisch: „By the grace of God America won the Cold War!“ Und dann hat ‚der Westen‘, „siegestrunken“ und in blindem Hochmut, jahrzehntelang systematisch Euer Sicherheitsbedürfnis ignoriert. Die Hauptschuld – die meisten in meinem Land stimmen mir hier nicht zu – für das, was jetzt in der Ukraine geschieht und vielleicht noch geschehen kann, liegt daher bei uns! (Ich weiß, Du möchtest am Liebsten gar nicht, dass ich darüber rede. Du willst mit Politik nichts zu tun haben. Aber leider ‚interessiert‘ sich die Politik für uns! Wir können ihr nicht entfliehen.)

Es geht wieder los…

Valentina,
jetzt bist Du alt und krank – und es soll wieder losgehen! Politiker und Medien reden hier den Krieg gegen Dein Land, Russland, förmlich herbei. Dabei haben sie alle keine Ahnung wovon sie reden: Sie wissen überhaupt nicht mehr, was Krieg bedeutet – wenn sie es denn je gewusst hatten. Sie haben jegliche Bodenhaftung verloren und hantieren gefährlich locker mit den Gewichten. Der Ton wird tagtäglich schriller, das Datum immer weiter nach vorne verlegt: 2030, 2029 – nun sollen wir den letzten Friedenssommer schon hinter uns haben… Laut unserem Bundeskanzler, der den Hals nicht voll kriegt, sind wir bereits „nicht mehr im Frieden“ und unser Außenminister verspricht, Russland werde „immer ein Feind“ bleiben. (Unsere frauenbewegte Ex-Außenministerin wollte Euch ja schon vor dreieinhalb Jahren „ruinieren“.) Jeden Tag gibt es neue Horrormeldungen, über den sogenannten „grauen“, „hybriden“ Krieg, den Dein Land angeblich längst gegen uns führt. Ein Krieg gegen Russland sei „unausweichlich“„Es könnte heute Abend sein“ titeln sie. Sie faseln von „Kriegstüchtigkeit“ und „Kampfkraft“. Eltern werden aufgefordert, ihre Kinder zu „opfern“

Diplomatie und Verständigung sind nun Schimpfworte! Wer für Entspannungspolitik plädiert, wer an Willy Brandt und Egon Bahr erinnert, wird mit Hohn und Spott übergossen. Mit Eurem Präsidenten, der ja lange Zeit mit uns zusammenarbeiten wollte, „könne man nicht reden“. Er verstehe, so tönen sie, nur die „Sprache der Stärke“. Und so haben sie – „whatever it takes“ – ein schuldenfinanziertes billionenschweres Aufrüstungsprogramm initiiert, das uns und unsere Kinder auch ohne Krieg in den Abgrund reißen wird.

Nächstes Jahr sollen hier wieder Mittelstreckenraketen stationiert werden, die auch Deine Stadt treffen könnten.

Valentina, mir wird schlecht! Und ich schäme mich zu Tode. Ich kenne mein Land nicht mehr wieder. Niemals in meinem Leben hätte ich für möglich gehalten, was jetzt hier geschieht! 

Nein, die Menschen hier in Deutschland wollen keinen Krieg. Sie wollen keine Eskalation – aber sie tun auch nichts dagegen! Statt dessen arbeiten sie sich an tausend Nebensächlichkeiten ab. Unsere Politiker, die ich nicht gewählt habe, und unsere Leitmedien, die allesamt dasselbe schreiben, haben es ihnen über Jahre hinweg eingehämmert und es wirkt: Sie haben jetzt mehr Angst vor eurem Präsidenten als vor einem Krieg, der sich im schlimmsten Falle zu einem Atomkrieg ausweiten könnte. 

Valentina, vor 84 Jahren bist Du mitten im schrecklichsten aller Kriege auf die Welt gekommen – und auf was für eine schaurige Weise wird Dein Leben auf den letzten Metern jetzt ‚rund‘!

Niemals werde ich Euch als Feind betrachten!

Es kann nur eine einzige Konsequenz geben: Wir, die sogenannten einfachen Menschen in allen Ländern, müssen jetzt zusammenhalten. Wir dürfen uns nicht noch einmal zu Feinden machen und gegeneinander aufhetzen lassen.

Valentina, vor über dreieinhalb Jahrzehnten, im Herbst 1988 habe ich mit Freunden eine Friedens- und Versöhnungsreise in die Sowjetunion organisiert: nach Minsk, Moskau und Leningrad. Wir wollten mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören, welche Verbrechen Deutsche während des Zweiten Weltkrieges den Menschen dort angetan hatten. Im weißrussischen Chatyn, auf dem Friedhof für 186 abgefackelte belarussische Dörfer hatten wir spontane Begegnungen mit Menschen aus Sibirien und baten sie stellvertretend für alle Sowjetbürger um Verzeihung. Und da konnten wir – Deutsche und Russen – auf einmal nur noch gemeinsam herzzerreißend weinen! Wir, wildfremde Menschen, fielen uns in die Arme.

Allerspätestens seitdem habe ich es in meiner DNA: Es darf nie wieder geschehen! Wir Menschen, ob in Russland, in Deutschland oder in der Ukraine (West und Donbass), wir gehören doch zusammen. Wir sind nicht auf der Welt, um uns gegenseitig umzubringen – und unseren kostbaren einzigartigen Planeten am Ende noch mit. Niemals, Du liebe Babuschka in der russischen Provinz, werde ich Dich und Deine Landsleute als Feinde betrachten! 

Der Krieg muss beendet, die Fahrt in den Abgrund so schnell wie möglich gestoppt werden. Wir alle müssen wieder lernen, uns zu respektieren, uns zuzuhören, zu verzeihen. Irgendwann, in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft, müssen unsere Länder wieder Freunde werden. Für unsere Kinder und Enkelkinder. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption!

Ich werde dafür tun, was ich kann. Jeden Tag. Solange es mich gibt. 

Das verspreche ich Dir.

(Red.) Siehe zum Vorgehen der Deutschen in Belarus auch den Artikel «Das bestialische Vorgehen der Nazi-Deutschen darf nicht vergessen gehen!». Und man schaue sich den Firm «Komm und sieh!» zum gleichen Thema an! Hier anklicken! (cm)

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