USA: eine Nation ohne Ziel
Dies ist der zweite von zwei Essays über den Zustand der amerikanischen Politik, während die Wahlen im November näher rücken. Den ersten Teil dieses Essays können Sie hier lesen.
1977, zwei Jahre nach Amerikas katastrophaler Niederlage in Südostasien, veröffentlichte der verstorbene Stanley Hoffmann ein Buch mit dem Titel Primacy or World Order. Ich schätze Hoffmann, einen Gelehrten österreichisch-französischer Herkunft, der in Harvard Außenbeziehungen lehrte, seit langem für seine Fähigkeit, unsere globale Situation mit außergewöhnlicher Klarheit zu erfassen. Das erwähnte Buch ist ein gutes Beispiel dafür. Amerikas demütigende Niederlage in Vietnam hatte die unausweichliche Wahl, vor der Amerika nun stand, deutlicher gemacht als in der gesamten Zeit nach 1945: Es konnte weiterhin auf seiner kürzlich errungenen Hegemonie bestehen oder es konnte zum Aufbau einer Weltordnung beitragen, die diesen Namen verdient, aber es würde sich für das eine oder das andere entscheiden müssen.
Wenn die Amerikaner in diesem Herbst zu den Wahlen gehen, gibt es noch eine andere Möglichkeit, über die Wahl nachzudenken, die mit der amerikanischen Außenpolitik verbunden ist. „Demokratie oder globale Vorherrschaft?“ fragte Peter Dimock in einem Beitrag, den wir kürzlich auf The Floutist veröffentlicht haben. Dimock, ein erfolgreicher Romanautor mit einem intellektuellen Hintergrund in amerikanischer Geschichte, hat diese Frage in den richtigen, drastischen Worten formuliert, die unsere Zeit erfordert:
«Angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen stehen die Amerikaner vor der existenziellen Wahl zwischen der Aufrechterhaltung historisch grundlegender demokratischer Verpflichtungen oder … einer neoliberalen transnationalen Kultur des permanenten Krieges, in der die Aussichten auf einen echten internationalen, universellen und demokratischen Frieden so gut wie zerstört sind. Permanenter Krieg als Standardpolitik zur Gewährleistung der „globalen Ordnung“ durch die amerikanische Staatsmacht stellt keine internationale Politik dar, die in der Lage ist, das demokratische Wohlergehen auf der ganzen Welt zu fördern. Die wirtschaftlich und militärisch erzwungene amerikanische Vorherrschaft zerstört die Möglichkeit einer echten demokratischen internationalen Politik.»
Hoffmann hatte Recht und Dimock hat Recht – zwei kultivierte Köpfe, die die Dinge auf den Punkt bringen. Das war die Wahl zu jener Zeit und es ist die Wahl der Amerikaner heute. Aber es gibt eine bittere Realität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, während sich die Amerikaner, die darauf bestehen zu wählen, darauf vorbereiten, entweder Donald Trump oder Kamala Harris zu ihrem siebenundvierzigsten Präsidenten zu wählen: Eine Wahl, die diese beiden Denker sie so trefflich beschrieben haben, wird es nicht geben. Amerikas politische Cliquen und die verschiedenen Elitegruppen – Politik, Verwaltung und Unternehmen – haben diese Wahl vor langer Zeit bereits getroffen, haben sich falsch entschieden und seitdem alles so weit wie möglich von der Öffentlichkeit ferngehalten. Zwischen der Demokratie (im In- und Ausland) und dem Imperium bleibt nur letzteres als Schandfleck der Menschheit bestehen.
Wie wird die Außenpolitik von Donald Trump aussehen, wenn er für eine zweite, nicht aufeinanderfolgende Amtszeit als Präsident gewählt wird? Was denkt Kamala Harris über den Krieg in der Ukraine, über China, über Europa, über Israel und den Völkermord in Gaza? Das sind logische Fragen in diesem entscheidenden Moment, und es gibt noch viele andere Fragen. Ich wünschte, diese Fragen würden als interessante Fragen gestellt und sie würden differenzierter beantwortet als mit Gemeinplätzen.
Ja, es gibt Unterschiede zwischen den Kandidaten der Republikaner und der Demokraten. Diese sind es wert, berücksichtigt zu werden. Aber jeder Gedanke, dass eine Präsidentschaft von Trump oder Harris irgendeinen substanziellen Unterschied im Verhalten des amerikanischen Imperiums bewirken wird, ist einfach töricht oder illusorisch. Aber solche Gedanken gibt es reichlich, muss ich leider hinzufügen.
Die Amerikaner denken selten über Außenpolitik nach, weder zu Wahlzeiten noch sonst. Sie überlassen das traditionell den verschwiegenen Eliten – wobei Zwischenfälle wie die breite Antikriegsstimmung der 1960er Jahre jene Ausnahmen sind, die die Regel bestätigen. So ist es auch in dieser politischen Saison. Wir erleben den amerikanischen Narzissmus in seinem Extrem, die Selbstverliebtheit eines Landes, das zu groß und durch die Ozeane auf beiden Seiten zu isoliert ist. Gleichzeitig sind die politischen Fragen, mit denen Amerika jetzt konfrontiert ist – allen voran Gaza und die Ukraine – zu groß, um einfach unerwähnt zu bleiben. So versucht jeder Kandidat intensiv, sich vom anderen zu unterscheiden. Ihr gemeinsames Problem aber ist, dass dies ein echt schwieriges Unterfangen ist, da keiner von den beiden die Absicht hat, den Kurs Amerikas grundlegend zu ändern.
Auf der einen Seite gibt es die Verblendung, auf der anderen die Verzerrung.
Das Ausmaß, in dem die Demokratische Partei und die ihr dienenden liberalen Medien Harris als scharfsinnige, originelle Denkerin dargestellt haben, die bereit ist, eine entschlossene Agenda zu enthüllen, hat schnell den Punkt erreicht, an dem man es nur noch als amüsant bezeichnen muss. Ein ungenannter Mitarbeiter der nationalen Sicherheit im Lager der Demokraten, um ein griffbereites Beispiel zu nennen, sagte neulich zu Politico: „Mit einer Präsidentin Harris könnte eine Zwei-Staaten-Lösung endlich möglich sein.“ Eine Vermutung ist, dass Kamala Harris ihre eigenen Vorstellungen von der Krise im Nahen Osten hat und entschlossen ist, die amerikanische Politik entsprechend zu verändern. Eine andere ist, dass Harris ein so gutes Gespür für Staatskunst hat, dass sie in der Lage ist, eine Lösung für eine Frage zu entwickeln, die sich seit Jahrzehnten als unlösbar erwiesen hat. Und wieder eine andere Vermutung ist, dass eine Zweistaatenlösung für die israelisch-palästinensische Krise durchaus noch möglich ist.
Alle drei dieser Annahmen sind mehr als lächerlich. Wenn der zitierte Beamte sich nicht täuscht, dann will er dazu beitragen, Harris von Biden zu unterscheiden, um die Wählerschaft zu täuschen. Kamala Harris ist in der Außenpolitik ein unbeschriebenes Blatt. Soweit ich weiß, hat sie noch nie eine einzige Idee oder Position geäußert, die aus opportunistischen Gründen nicht wieder geändert werden könnte. Sie hat folglich nicht die Absicht, etwas anderes zu tun als das, was man ihr sagt. Das heißt, was die Amerikaner und die Welt von Joe Biden erlebt haben, werden sie noch mehr erleben, sollte Harris im November gewinnen.
Gezielte Verzerrung scheint der Lieblingssport von Republikanern und Demokraten zu sein. Harris hasse Israel und liebe die Palästinenser, wird das Trump-Lager jedem erzählen, der zuhört. Trump sei „pro-russisch“, behaupten die Demokraten. Er sei ein enger Freund von Präsident Putin und wolle, dass das russische Militär Kiew auf den ukrainischen Schlachtfeldern besiege.
Nun, wenn es nur wenige inhaltliche Unterschiede zwischen der Politik der beiden Kandidaten gibt, ist es wohl nur folgerichtig, dass Unterschiede fabriziert werden müssen, damit die Wähler in der Illusion zur Wahl gehen können, sie würden eine Wahl treffen.
Als Barack Obama 2008 kandidierte und gewählt wurde, stellte er einen radikalen Gegensatz zur Regierung von George W. Bush dar. Er würde die aggressive Kriegstreiberei von Bush II durch eine vernünftige Politik ersetzen, die anderen Nationen und Völkern gegenüber wohlwollend sei. Der Olivenzweig in den Krallen des amerikanischen Weißkopfseeadlers würde Vorrang vor den Pfeilen haben, die er in seiner anderen Kralle hält.
Der fatale Fehler in Obamas außenpolitischem Denken zeigt sich indessen in der Bilanz, die er hinterlassen hat. Ihm ging es um die Methode, nicht um das Ziel, um die Mittel, nicht um den Zweck, oder in der altgriechischen Auffassung, um techne und nicht um telos. Die Macht des Imperiums sollte ausgeweitet und durchgesetzt werden, aber mit mehr Drohnen und verdeckten Operationen und weniger mit Invasionen und Kampfsoldaten.
Die Präsidentschaft Obamas war nicht die erste, während der es offensichtlich war, dass jeder Bewohner des Weißen Hauses in hohem Maße eine Galionsfigur war, ein Verkäufer, der der Öffentlichkeit eine Politik verkaufte, die von dem entwickelt und ausgeführt wurde, was ich mit gutem Gewissen den „Deep State“ nennen kann. Das war zumindest in den Reagan-Jahren der Fall. Aber seit Obama hat die Kompetenz in Staatsangelegenheiten immer mehr an Bedeutung verloren. Das geht so weit, dass man sich manchmal fragt, ob diejenigen, die die Politik tatsächlich formulieren und ausführen, einen nicht ganz so kompetenten Präsidenten sogar bevorzugen, einen, der ihnen nicht im Weg steht.
In der freundlichsten Interpretation ist diese Obama-gegen-Bush-Binarität das meiste, was man in den Trump-Harris-Wettbewerb hineinlesen kann. Beide sind der israelischen Lobby, dem Geld der Konzerne und dem Staat der nationalen Sicherheit in einem noch nie dagewesenen Maße hörig. Trump ist ein Mann des „Friedens durch Stärke“ nach dem Vorbild Reagans, auch wenn er unbeständiger und unberechenbarer ist. Er will, dass das terroristische Israel „den Job in Gaza schnell erledigt“, weil der zionistische Staat einen schweren Schlag für seinen Ruf bedeutet.
Harris wird die Obama-Karte ausspielen und so tun, als würde sie den Stellenwert der Diplomatie in der amerikanischen Staatskunst erhöhen. Sie wird von der Notwendigkeit eines Waffenstillstands sprechen, so wie es Biden getan hat – und damit dem Netanjahu-Regime die Möglichkeit geben, die Arbeit in dem von ihm gewünschten Tempo zu Ende zu bringen – und, nicht zu vergessen, dies mit den bekannten Waffen. Die grundlegende Politik des Deep State, die unveränderliche und bedingungslose Unterstützung des israelischen Apartheidregimes, wird nicht angetastet werden.
Techne, die Technologie eines Projekts, das „Wie“, ist das, worum es zwischen Trump und Harris in allen Fragen geht, die die Beziehungen Amerikas mit der Welt jenseits seiner Küsten betreffen. Das Telos, das Ziel, die Absicht, steht heute genauso fest und außer Frage wie in der gesamten Nachkriegszeit. Aus diesem Grund versprechen weder Trump noch Harris außenpolitische Erfolge oder einen Richtungswechsel. Das Scheitern bleibt Amerikas einzige Aussicht bei seinen außenpolitischen Bemühungen.
Vor 115 Jahren veröffentlichte ein Schriftsteller namens Herbert Croly das Buch, für das er bekannt ist. In The Promise of American Life (Das Versprechen des amerikanischen Lebens) warf der berühmte Sozialkritiker einen Blick in die Zukunft, um die Notwendigkeiten zu ergründen, denen sich die Vereinigten Staaten stellen müssen, wenn sie ihre Meinung ändern und Demokratie dem Imperium vorziehen wollen. Amerika müsse seine Vorstellung von sich selbst grundlegend ändern, argumentierte Croly mit außergewöhnlicher Einsicht: Eine Nation, die an ihr Schicksal glaubt, muss sich zu einer Nation mit einem Ziel entwickeln. Die schicksalsgläubige Nation übertrug ihrem Volk eine halbwegs heilige „Mission“ und die Verpflichtung, die Welt nach ihrem Bild zu verändern. Ein klares Ziel zu haben aber bedeutet, irdische Dinge zu tun, es erfordert die Arbeit, eine bessere Welt zu schaffen, die Arbeit, die auch einen menschlichen Einsatz erfordert und diesen auch verdient.
Ich habe Croly und sein Buch im Laufe der Jahre bei verschiedenen Gelegenheiten zitiert, einfach weil das Verlassen des Glaubens an ein Schicksal und die Suche nach einem Ziel ein Projekt ist, das Amerika noch nie in Angriff genommen, geschweige denn abgeschlossen hat. Es wäre töricht, von Donald Trump oder Kamala Harris zu erwarten, dass sie dieses Versäumnis auch nur annähernd in Angriff nehmen, wenn der eine oder die andere gewählt werden. Amerika und sein Volk werden sich schließlich selbst verändern müssen, so wie es Herb Croly vorgeschlagen hat, aber man hat den Gedanken an eine nationale Initiative aufgegeben: Die kommenden Ereignisse und die Geschichte werden diesen Prozess in Gang setzen müssen.
Zum Originaltext von Patrick Lawrence.
(Hinweise auf eventuelle Übersetzungsfehler sind willkommen.)
Und siehe in der rechten Spalte «Empfohlene Artikel auf anderen Plattformen» ein Gespräch mit Prof. Jeffrey Sachs, der unverhohlen über den Niedergang der USA und Israels zu reden wagt.