Mehr berühmt als historische und architektonische Sehenswürdigkeit denn als Ort der christlichen Besinnung: die Türme der Basilius-Kathedrale in Moskau. (Foto Stefano di Lorenzo)

Unterstützt die russisch-orthodoxe Kirche den Krieg? Und die Katholische Kirche im Westen?

(Red.) Es gehört zu den Schwächen von Globalbridge.ch, dass nicht alle eingesandten und lesenswerten Beiträge rechtzeitig publiziert werden und dass manche von diesen sogar ganz untergehen. Das geschieht nicht zuletzt bei Autoren, die Globalbridge.ch – sprich: ihrem Herausgeber Christian Müller – vorher unbekannt sind. Zu diesen Beiträgen gehört eine absolut lesenswerte Zuschrift des Pfarreiseelsorgers Stefan Herbst aus Biel in der Schweiz, die seit Mitte Juni leider unveröffentlicht blieb. Jetzt aber, nachdem unser Korrespondent aus Moskau über die russische orthodoxe Kirche berichtet und sich die Frage stellt, wie weit diese den Krieg in der Ukraine mitantreibt, ist es Zeit, auch Stefan Herbst zu lesen! (cm)

((SdL) Am 28. Juli feiert man in Russland den „Tag der Taufe der Rus“. Im fernen Jahr 988, vor mehr als tausend Jahren, wurde an diesem Tag die Rus offiziell ein christliches Land, indem sie den christlichen Glauben Konstantinopels annahm. Einige Jahrzehnte später, im Jahr 1054, kam es zur Spaltung zwischen Katholizismus und Orthodoxie. War die Rus wirklich Russland? Man will sich hier nicht auf langwierige Debatten über die Übereinstimmung oder den Unterschied zwischen der alten Rus und Russland einlassen. Tatsache ist, dass nach dem Experiment des sowjetischen Atheismus im heutigen Russland die christlich-orthodoxe Religion wieder zu einem grundlegenden Element für die Definition der russischen nationalen Identität geworden ist. Zumindest im großen politischen und sozialen Diskurs. Jahrhundertelang zuvor hatte die Selbstbestimmung durch die Religion eine noch wichtigere Rolle gespielt als die später als „Nationalität“ bekannt gewordene Kategorie, die die nationale Identität auf der Grundlage der Muttersprache definierte.

Auch im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wird heute viel über die russisch-orthodoxe Kirche gesprochen. So schrieb zum Beispiel die Neue Zürcher Zeitung vor ein paar Monaten: „Russlands Staatskirche ruft einen «heiligen Krieg» aus. Der Patriarch von Moskau stellt sich ganz in den Dienst der aggressiven Kreml-Politik. Unter ihm hetzt die orthodoxe Kirche nicht nur zum Krieg, sondern propagiert auch eine groteske Massenumsiedlung von Städtern aufs Land.“

Die Schweizer Zeitung berichtete, dass der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill von Moskau anhand eines Gebots den Krieg gegen die Ukraine als „heiligen Krieg“ bezeichnet haben soll.

Das Dokument trägt den Titel „Gegenwart und Zukunft der russischen Welt“ und stammt eigentlich aus dem vergangenen November, vorbereitet vom XXV. Weltkonzil des russischen Volkes. Es ist eine Organisation, die sich unter der Schirmherrschaft der Russisch-Orthodoxen Kirche befindet. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine rein religiöse Organisation, die direkt aus der Russisch-Orthodoxen Kirche hervorgegangen ist, sondern vielmehr um eine Nichtregierungsorganisation. An den jährlichen Sitzungen nehmen traditionell Vertreter aller Regierungszweige, Leiter öffentlicher Vereinigungen, hochrangige Geistliche, Lehrer und Studenten der größten Bildungseinrichtungen, Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur sowie Delegierte russischer Gemeinschaften aus dem Ausland teil.

Zwei Passagen aus dem Dokument:

„Die Spezielle Militäroperation (auf Russisch: Spezialnaja woennaja operazja oder SWO, Red.) ist eine neue Phase des nationalen Befreiungskampfes des russischen Volkes gegen das verbrecherische Kiewer Regime und den kollektiven Westen, der es unterstützt, und wird seit 2014 im Südwesten der Rus durchgeführt. Im Zuge der SWO verteidigt das russische Volk sein Leben, seine Freiheit, seine Staatlichkeit, seine bürgerliche, religiöse, nationale und kulturelle Identität sowie das Recht, auf seinem eigenen Land innerhalb der Grenzen des vereinigten russischen Staates zu leben, mit der Waffe in der Hand. Aus spiritueller und moralischer Sicht ist die spezielle Militäroperation ein heiliger Krieg, in dem Russland und sein Volk durch die Verteidigung des einheitlichen geistigen Raums der Heiligen Rus die Mission des „Aufhalters“ erfüllen und die Welt vor dem Ansturm des Globalismus und dem Sieg des dem Satanismus verfallenen Westens schützen.“

„Nach der Vollendung der SWO sollte das gesamte Territorium der modernen Ukraine in eine exklusive russische Einflusszone übergehen. Die Möglichkeit, dass auf diesem Territorium ein russophobes politisches Regime, das Russland und seinem Volk feindlich gesinnt ist, sowie ein politisches Regime, das von einem externen, Russland feindlich gesinnten Zentrum regiert wird, muss völlig ausgeschlossen werden.“

Kurz gesagt, es sind ziemlich starke Worte, die nicht viel Raum für die Phantasie der Interpretation lassen. Zwar stimmt es einerseits, dass die russisch-orthodoxe Kirche seit Jahrhunderten — mit Ausnahme der Sowjetzeit — eine sehr enge Beziehung zum russischen Staat unterhält. Doch erweist sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche als komplexer als eine einfache Unterordnung. 

Sicherlich haben sich einige Mitglieder der russisch-orthodoxen Kirche nach dem Februar 2022 in vielerlei Hinsicht bestimmte Elemente der offiziellen russischen Rhetorik zu eigen gemacht und damit den Einmarsch in die Ukraine und den Krieg gerechtfertigt. So schrieb zum Beispiel die christlich-orthodoxe Zeitschrift Radonezh vor zwei Jahren: 

„Was machte diese Entscheidung unvermeidlich? Der Präsident erinnerte daran, dass die Lähmung der Macht und des Willens der erste Schritt zu einer vollständigen Degradierung war, in deren Folge die Sowjetunion Ende der 1980er Jahre geschwächt wurde und dann einfach zusammenbrach und das Gleichgewicht der Kräfte in der Welt gestört wurde. Danach haben wir 30 Jahre lang mit Hartnäckigkeit und Geduld versucht, uns mit den führenden NATO-Ländern auf die Grundsätze einer gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa zu einigen. Als Antwort auf unsere Vorschläge wurden wir immer wieder mit zynischen Täuschungen und Lügen oder mit Druck- und Erpressungsversuchen konfrontiert, während sich das Nordatlantische Bündnis in der Zwischenzeit trotz all unserer Proteste und Bedenken immer weiter ausgedehnt hat“.

Es handelt sich um Argumente, die ziemlich bekannt sind. Dennoch wäre es nicht ganz richtig zu sagen, dass die russisch-orthodoxe Kirche dem Westen einen heiligen Krieg erklärt hat, wie viele geschrieben haben. 

Letztes Jahr erklärte Patriarch Kirill bei einem Treffen in Moskau mit dem Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen Jerry Pillay, dass jede Bezugnahme auf einen „heiligen Krieg“ im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine „zur metaphysischen Sphäre gehört, nicht zu dem physischen bewaffneten Konflikt in der Ukraine“. Der Patriarch stimmte auch zu, „dass kein Krieg mit Waffengewalt ‚heilig‘ sein kann“.

Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine 1948 in den Niederlanden gegründete Organisation, deren Ziel die Ökumene ist, d. h. die Annäherung der verschiedenen christlichen Konfessionen. Heute hat die Organisation ihren Sitz in der Schweiz. Verbindungen zur Russisch-Orthodoxen Kirche werden immer noch gepflegt. 

Formal war die Russisch-Orthodoxe Kirche traditionell dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel unterstellt. Aber die Beziehungen der Russisch-Orthodoxen Kirche zu Konstantinopel wurden ausgesetzt, nachdem Konstantinopel im Januar 2019 die Autokephalie — die Unabhängigkeit — der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche anerkannte. Ein historisches Ereignis für die Ukraine, die zum ersten Mal ihre nationale Kirche offiziell vom Oberhaupt der Orthodoxie anerkannt sah.

Zwischen christlicher Moral und Krieg scheint es einen Abgrund zu geben. Auf den ersten Blick gibt es im Krieg nicht viel Christliches. Und doch ist es ein leider nur scheinbarer Widerspruch. In der Christenwelt war oft von einem gerechten Krieg die Rede. Kriege aus religiösen Gründen innerhalb der Christenwelt, zwischen Christen und Christen, waren zahlreich und blutig. Christ zu sein hat selten vor Krieg gegen andere Christen geschützt, oft im Namen des angeblich wahren Glaubens. Das Christentum war trotz seines scheinbar pazifistischen Ethos, der Bergpredigt und vieler anderer bewundernswerter Bestrebungen nie weniger kriegerisch als andere Kulturen, eher im Gegenteil. Selbst wenn die russische Kirche heute den Krieg offen unterstützen würde, wäre das keineswegs eine Ausnahme innerhalb des Christentums, es wäre kein fundamentaler Widerspruch, der dem Wesen des Christentums völlig fremd wäre.

Während die russisch-orthodoxe Kirche heute mehrheitlich an der Seite der Regierung im Krieg in der Ukraine zu stehen scheint, gab es auch Ausnahmen. So unterzeichneten bereits in den ersten Wochen des Krieges 293 Priester einen Aufruf zur Beendigung des Krieges. Unter den Unterzeichnern befanden sich auch einige ziemlich prominente Namen.

In Europa hat man in den letzten Jahren viele Kirchen mit ukrainischer Flagge gesehen. Diese Kirchen standen angeblich für Frieden im Kampf des Guten gegen das absolute Böse. Als ob die Ukraine einfach ein völlig wehrloses Opfer der russischen Aggression gewesen wäre und nicht ein Land, das nach der Revolution 2014 stark militarisiert und aggressiv nationalistisch geworden war. Waren die Kirchen in Europa, die die ukrainische Flagge mit Stolz zeigten, wirklich für den christlichen Frieden?

Eines soll noch gesagt werden. Die Russen, trotz einer scheinbaren Rückkehr der Religiosität seit den 1990er Jahren, sind heute nicht besonders religiös. Trotz aller Geschichten über die außergewöhnliche Frömmigkeit des russischen Volkes im Laufe seiner Geschichte leben die Russen größtenteils in der Kultur des 21. Jahrhunderts, weit entfernt von den Geboten der christlichen Moral. Die orthodoxe Kirche hat weiterhin eine dekorative und rituelle Funktion im öffentlichen Leben, aber sie hat wenig Einfluss auf das soziale Leben und das moralische Verhalten der meisten Russen. Eine Theokratie ist das heutige Russland auf keinen Fall. 

Ende Text von Stefano di Lorenzo

Und wie ist es mit den Christen im Westen?

(Red.) Eine Analyse der Situation in der EU, geschrieben nach der Europawahl Mitte Juni, von Pfarreiseelsoger Stefan Herbst aus Biel.

Das Wichtigste zuerst. Das ständige Schielen und Heruntermachen der angeblichen Europafeinde – den rechten, nationalen bis nationalistischen Parteien muss endlich aufhören, weil es das Problem verschleiert und den Blick auf die wirklichen Gefahren für Europa verdeckt.

Das wahre Problem Europas sind wir selbst – die angeblich, sozial, grün, liberal, demokratisch,- konservativ- christdemokratisch oder christsozialen Europäer der „Mitte“. Wir müssen Europa vor uns selbst schützen.

Denn woher kommt die Europaverdrossenheit der Menschen?

Sie erleben, dass Europa soziale Fortschritte verspricht, diese aber nicht wirklich schafft. Seit Jahrzehnten klafft die Kluft zwischen Reich und Arm immer weiter auseinander. Das Europa des sozialen Ausgleichs wird mehr und mehr abgeschafft und hinterfragt. Als alternativlose Reformen verkleidet, werden von all den „europafreundlichen“ Parteien Sozialabbau, Verringerung der Gesundheitsvorsorge sowie der Demokratieabbau durch die immer größer werdende Reichtum- und Armutsschere vorangetrieben.

Gleichzeitig wird Europa militarisiert. Schon lange vor dem aktuellen Ukrainekrieg gab es Stimmen insbesondere aus dem „rechten Lager“, Europa nicht mehr um die Werte Soziales, Demokratie und Chancengleichheit aufzubauen, sondern um das gemeinsame Militär, um Machtprojektion nach außen. Schleichend wurde Europa in diesem Sinne umgebaut. Aus einem Europa der guten Nachbarschaft wurde ein Europa der Interessenssphären und geopolitischen Einflusszonen. Dieses Umkippen in geopolitisch und wirtschaftspolitisch vorangetriebene Machtprojektion, weg von Frieden und Entspannung, machte aus Europa mehr und mehr ein Projekt mit hegemonialem, wenn nicht imperialem Anspruch gegenüber kleineren Ländern, aber auch anderen Ländern wie Russland oder China. Die Schweiz und andere kleinere Länder um Europa herum -insbesondere die afrikanischen Länder- können ein Lied davon singen. Europa und EU exportierten nicht mehr bzw. nicht wirklich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, sondern soziale Ungleichheit, Schuldknechtschaft sowie Waffen und Einflusspolitik mit Kriegen und Gewalt in seinem Gefolge. Die schleichende, aber immer größer werdende Annäherung an die NATO trug ihr Übriges dazu bei. Der Ukrainekrieg ist nur aus diesem Abgleiten Europas von einem auf Ausgleich und Frieden projizierenden Raum von Gleichen zu einer Macht- und Unterordnung projizierendem regionalem Hegemon zu verstehen. Mit Russland wurde erst gar nicht verhandelt – Russland hatte sich unterzuordnen unter das wirtschaftlich und militärisch vielfach überlegene Europa (gemeint ist die Europäische Union) bezüglich deren Ukraine-Ambitionen und Einflusssphäre.

Europa vor uns selbst schützen, bedeutet endlich das eigene Versagen aller europafreundlichen Parteien in den Blick zu nehmen. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Menschen zu Recht den Versprechen der EU und von „Europa“ nicht mehr glauben können. 

Insbesondere das Demokratiedefizit in Europa – wo die wirklichen Entscheidungen, von den Nationalstaatschefs ausgekungelt werden – von der „Europäischen Kommission“ – nimmt immer mehr zu. Denn diese Nationalstaatschefs haben versäumt, die Machtungleichgewichte in ihren Ländern, die sich durch die immer größer werdende Schere zwischen Multimilliardären auf der einen Seite und Habenichtsen und von der Hand in den Mund lebenden großen Mehrheiten auf der anderen Seite auszugleichen. Dieser wirtschaftlich-finanzielle Prozess ist gleichbedeutend mit einem Verlust an Demokratie. Es gilt zwar immer noch das Prinzip, „jede Stimme zählt gleich“, aber was nicht mehr gilt, ist die Gleichheit der „Waffen“, des Zugangs zu Medien und Öffentlichkeit – wenn einige Wenige sich auch immer mehr der Medien bedienen und die Verschränkung zwischen politischer und Wirtschaftskarriere immer enger wird. Man bedarf nicht mehr der offenen Korruption, wenn man die Gesetze von morgen in den eigenen- privatwirtschaftlichen Reihen und Hinterstuben von Kanzleien und „Wirtschaftsexperten“ schreiben und vorlegen kann. 

Dieser Prozess der Verschränkung von Privatinteressen großer Unternehmer und Eigentümer mit den staatlichen Strukturen wandelt die Demokratie nach und nach über den Zwischenschritt einer „gesteuerten Demokratie“ hin zu einem als Demokratie getarnten Autoritarismus mit totalitären Anteilen. Der Weg der Verwandlung von Demokratie zum Totalitarismus kommt oft unerkannt, aber gerade deswegen immer stärker zum Vorschein. Die Entstehung der „rechten Parteien“ sind deshalb im Grunde genommen nur ein folgerichtiger Ausdruck der derzeitigen Politik der „europatragenden Parteien“. Sie machen als Epiphänomen nur deutlich, was die derzeit Europa verantwortenden Parteien in ihrer Realpolitik im Gepäck tragen. 

Es wäre Sache von Christen …

Es wäre Sache von Christen, diese Entwicklungen durch den Rückgriff auf die unverfälschbare Botschaft des Mannes von Nazareth in den Blick zu bekommen. Nicht nur die Orthodoxie, wie jüngst vom Jesuiten Stefan Kiechle hervorgehoben stellt sich außerhalb des wahren christlichen Glaubens – gerade auch das „westlich-liberale“ Christentum hat sich selbst und die herrschafts- und reichtumskritischen Grundaspekte christlicher Befreiungsbotschaft längst aufgegeben und verraten. Sein Kommentar „Kirchen müssen gegen rechte Kräfte in Europa angehen“ würde bedeuten, die wahren Urheber einer schleichenden Totalisierung und völligen Profitorientierung von Gesellschaft und öffentlichem Raum anzuprangern.  Doch ist zu befürchten, dass weite Teile der „europäischen Christenheit“ sich schon längst dem Tanz um das goldene Kalb des Kapitals und militärischer Gewalt angeschlossen haben. Die „bürgerliche Religion“ eines Baptist Metz feiert fröhliche Katholikentage, während um sie herum die Welt zerfällt. Es ist ja wohl auch kein Zufall, dass ausgerechnet der EU-Beauftragte der Deutschen Bischofskonferenz ein Militärbischof ist, der am heftigsten für Militarisierung und Aufrüstung aller Lebensbereiche trommelt.

Siehe dazu auch: «Wer Waffen liefert, will töten helfen.» (Auf Globalbridge.ch)

Und siehe auch: «Trotz Selenskyjs Besuch beim Papst in Rom:  Die schwierige Lage der verschiedenen Kirchen in der Ukraine wird verschwiegen »