Die US-Zeitschrift «The Atlantic» ist mittlerweile eine führende Stimme in der Förderung der Russophobie.(Screenshot)

«Unsere flüchtige Tugend»   

(Red.) Am Beispiel der US-Zeitschrift «The Atlantic» macht sich unser Kolumnist Patrick Lawrence aus den USA Gedanken zum 1. «Constitutional Amendment», dem 1. US-Verfassungszusatz, in dem neben der Religions-, der Rede-, der Versammlungs- und der Vereinigungsfreiheit vor allem auch die Pressefreiheit garantiert wird. Und wie heute trotzdem mehr und mehr versucht wird, diese einzuschränken. (cm)

«The Atlantic», viele seiner 166 Lebensjahre lang eine gute Monatszeitschrift, war zuerst zu einer ziemlich guten Monatszeitschrift geworden, dann zu einer o.k.-Monatszeitschrift auf dem Weg zu einer vergessenen Monatszeitschrift, die viele Jahre lang nur noch knapp überlebte. Seit Jeffrey Goldberg 2016 den Redaktionssessel übernommen hat, ist «The Atlantic» aber eine wirklich schreckliche Zeitschrift, die man noch so gerne vergessen würde, aber leider nicht vergessen kann: Wenn der Journalismus drittklassig ist, hat er eine natürliche Anziehungskraft auf die drittklassigen Köpfe, jene, die das immer weiter um sich greifende Zensurregime, die Korruption der amerikanischen Regierungsinstitutionen sogar unterstützen und mit ihrem Angriff  auf das, was von der amerikanischen Demokratie übrig geblieben ist, die Entwicklung der USA zur heutigen paranoiden „Russophobie“ sogar angeführt haben.  

Goldberg, der früher in den israelischen Streitkräften gedient hat, und zwar als israelischer Gefängniswärter, hat «The Atlantic» zu einem Speerträger für jede erdenkliche neoliberale Politik gemacht und hat damit jeden Krieg, den die in Washington regierenden Neoliberalen begonnen haben, befürwortet. Es ist keine Überraschung, dass das Magazin jetzt Israels tägliche Barbarei in Gaza uneingeschränkt unterstützt und gleichzeitig – das scheint Goldbergs Vorliebe zu sein – überall Antisemitismus entdeckt haben will..

Die schleichende Zensur gegen unabhängige, nicht konzerngebundene Medien ist in den USA seit den Tagen des Russiagate-Schwindels von 2016 bis 2020 offensichtlich. Aber die Völkermord-Operation der IDF in Gaza hat die Angriffe der liberalen Autoritären auf abweichende Berichterstattung, Kommentare und die freie Meinungsäußerung insgesamt noch verschärft. Hierfür gibt es zwei Gründe. 

Erstens verstößt die rassistische Grausamkeit der Israelis so eindeutig gegen die grundlegendsten menschlichen Werte, dass es größter Anstrengungen bedarf, um Einwände dagegen zu unterdrücken. Zweitens bietet der Vorwurf des Antisemitismus – des gefährlichen, lebensbedrohlichen Antisemitismus – eine hervorragende Tarnung für diejenigen, die meinen, Meinungsfreiheit sei ein antiquierter Begriff, auf den wir jetzt verzichten müssen. Deshalb finden diejenigen, die Israels Vorgehen in Gaza verteidigen, es nützlich, unter jedem Bett einen Antisemiten zu entdecken. Die Amerikanerinnen und Amerikaner werden jetzt täglich mit der Behauptung konfrontiert, der Antisemitismus sei in den USA so weit verbreitet, dass er das Leben der amerikanischen Juden bedrohe. Es spielt keine Rolle, ob man diese Behauptungen ernst nimmt – ich tue das natürlich nicht, um das gleich klarzustellen. Sie haben aber dem Zensurregime, das der Israel-Gaza-Krise schon um Jahre vorausging, neuen Auftrieb gegeben.

Jeffrey Goldbergs «Atlantic» hat die Angewohnheit, bei diesem oder jenem Thema zu weit zu gehen – Russlands Pläne, Europa zu überrennen, Donald Trumps Drohung, die USA in eine Diktatur zu verwandeln, wenn er nächstes Jahr eine zweite Amtszeit gewinnt, und andere. Wie nicht anders zu erwarten, geht die Zeitschrift jetzt klar zu weit und nutzt das Thema Antisemitismus, um die Unterdrückung der Meinungsfreiheit voranzutreiben. In einem Artikel vom 28. November greift Jonathan Katz «Substack», die Plattform für unabhängige Newsletter – darunter auch der von Ihrem Kolumnisten, «The Floutist» – als Brutstätte verschiedener rechtsextremer Anliegen an, von denen der eine anstößiger sei als der andere.  

Jonathan Katz‘ Artikel erscheint unter der Überschrift „Substack hat ein Nazi-Problem“. Hier analysiert er die schwerwiegenden Missstände, die dieses Problem verursachen. Leserinnen und Leser, die mit den Euphemismen, die unter liberalen Autoritären üblich sind, nicht vertraut sind, sollten beachten: „Inhaltsmoderation“ ist der neue Begriff, den sie verwenden, um Zensur zu befürworten, ohne sich zu blamieren: 

Zitat wörtlich:

Die Nutzungsbedingungen von «Substack», das 2017 gegründet wurde, verbieten offiziell „Hass“, Pornografie, Spam und alle Personen, die „auf «Substack» kein Geld verdienen dürfen“ – eine Kategorie, zu der auch Unternehmen gehören, die von «Stripe», dem Standard-Zahlungsanbieter der Plattform, gesperrt wurden. Aber die Verantwortlichen von «Substack» verachten auch stolz die Methoden zur Inhaltskontrolle, die andere Plattformen, wenn auch mit mäßigem Erfolg, anwenden, um die Verbreitung rassistischer oder fanatischer Äußerungen einzudämmen. Eine informelle Suche auf der «Substack»-Website und in extremistischen Telegram-Kanälen [sic], die «Substack»-Posts verbreiten, zeigt zahlreiche weiß-supremistische, neo-konföderierte und explizit nazistische Newsletter auf «Substack» – viele von ihnen wurden offenbar im letzten Jahr gestartet.

Und weiter unten im Artikel: 

Die Moderation des Kontextes ist bekanntermaßen knifflig…. Wenn Tech-Plattformen Poster schnell verbannen, haben Parteigänger aller Couleur einen Anreiz, ihre Gegner zu beschuldigen, Extremisten zu sein, um sie zum Schweigen zu bringen. Wenn Plattformen jedoch zu freizügig sind, laufen sie Gefahr, von Fanatikern, Belästigern und anderen schlechtgläubigen Akteuren überrannt zu werden, die andere Nutzer vertreiben…

Ende Zitat

Katz, der seinen eigenen Newsletter über «Substack» veröffentlicht, hat in seinen früheren Jahren als Korrespondent der Nachrichtenagentur «Associated Press» gute Arbeit geleistet, vor allem während des Erdbebens in Haiti 2010. Doch jetzt leistet er echt keine gute Arbeit mehr. Es ist die Art von schlechter Arbeit, die man typischerweise in Jeffrey Goldbergs «Atlantic» findet – verzerrt, unlogisch und mit inneren Widersprüchen behaftet. 

Da ist zum einen die Frage nach dem Ausmaß. Wie Katz berichtet, beherbergt «Substack» mehr als 17.000 Autorinnen und Autoren, die für ihre Arbeit bezahlt werden, sowie eine Reihe weiterer Autoren, die den Lesern den Zugang zu ihren Veröffentlichungen nicht in Rechnung stellen. Okay, also 17.000+. Zwei Sätze weiter heißt es: „Mindestens 16 der Newsletter, die ich überprüft habe, haben offenkundige Nazi-Symbole, darunter das Hakenkreuz und das Sonnenrad, in ihren Logos oder in auffälligen Grafiken.“ Das Sonnenrad ist das Symbol der Schwarzen Sonne, das die Leserinnen und Leser vielleicht schon auf den Uniformen zahlloser ukrainischer Soldaten gesehen haben, die den Krieg gegen Russland führen, den «The Atlantic» routinemäßig anfeuert.  

Aber das ist egal. Sechzehn von etwas mehr als 17.000 Newslettern mit rechtsextremer Gesinnung, und schon hat «Substack» ein Nazi-Problem? Wie kann man so etwas schreiben und erwarten, ernst genommen zu werden? Von jetzt an wissen wir, dass Katz einen Fall heraufbeschwört, um eine digitale Publikationsplattform zu Fall zu bringen, die bewundernswerterweise die Grundsätze der freien Meinungsäußerung unterstützt und ihre Autorinnen und Autoren nur in den extremsten Fällen außen vor lässt. Der Mann, der Katz‘ Rechnungen unterschreibt, vielleicht sogar Katz selbst, will einfach mehr Zensur bei «Substack». Das ist es, worüber wir in diesem Artikel lesen, das ist der Hintergrund.

In der Frage der freien Meinungsäußerung und des Ersten US-Verfassungszusatzes fällt Katz‘ Artikel in sich zusammen wie ein misslungenes Soufflé. „Letztendlich gibt der Erste Verfassungszusatz den Publikationen und Plattformen in den Vereinigten Staaten von Amerika das Recht, fast alles zu veröffentlichen, was sie wollen“, schreibt Katz. „Aber der gleiche erste Verfassungszusatz gibt ihnen auch das Recht, die Nutzung ihrer Plattform für etwas zu verweigern, das sie nicht veröffentlichen oder veranstalten wollen.“ Diese Art von beschämenden Entschuldigungen lesen wir heutzutage immer öfter. Was Katz schreibt, ist in beiderlei Hinsicht wahr. Aber das Schauspiel eines Journalisten, der implizit das Recht einer Publikation verteidigt, Sprache zu unterdrücken, ist für mich zu viel des Guten. 

Ein bisschen weiter, Zitat:

In den letzten Jahren hat «Substack» versucht, mehr konträre und konservative Autoren anzusprechen … und Leser, die von den Mainstream-Publikationen enttäuscht sind. Das Unternehmen hat auch begonnen, sich offener als glühender Verfechter der Meinungsfreiheit zu positionieren – ein lobenswertes Ziel. Aber in der Praxis geht «Substacks» Definition dieses Konzepts über die Begrüßung von Argumenten aus einem breiten ideologischen Spektrum und die Verteidigung des Rechts auf die Verbreitung von Bigotterie und Verschwörungstheorien hinaus; implizit beinhaltet es auch die Aufnahme und den Gewinn aus bigotten und verschwörerischen Inhalten.

Ende Zitat

Erkennst du das Argument, das Katz seinen Lesern heimlich unterschiebt? Freie Meinungsäußerung ist „ein lobenswertes Ziel“? Lächerlich. Sie ist ein Prinzip, das in dem Dokument verankert ist, nach dem diese Nation leben soll: eine etablierte Realität. Der Erste Verfassungszusatz hat als solcher keine politische Bedeutung: Er gilt universell, so wie er sein muss. Aber irgendwie ist es in Ordnung, für die freie Meinungsäußerung einzutreten, aber nicht in Ordnung, ein digitales Verlagsunternehmen nach diesem Prinzip zu führen. Was um Himmels willen meint Katz mit dieser Passage? Meiner Meinung nach ist sie zehnmal so fadenscheinig. 

«Substack» hat kein Nazi-Problem. Katz und die Zeitschrift «The Atlantic–, für die er schreibt, haben ein Problem mit dem Ersten Verfassungszusatz. Ich hebe sie hervor, weil sie so deutlich auf die absichtlich kultivierte Verwirrung hinweisen, die unter uns herrscht. 

Ich habe eine weitere Frage an Jonathan Katz und an alle Leser, die seine Argumente ernst nehmen. Was nützt das Prinzip der Meinungsfreiheit, wenn es nur für Äußerungen gilt, die von der einen oder anderen Wählerschaft, die gerade an der Macht ist, für akzeptabel gehalten werden? Daraus ergibt sich eine weitere Frage: Verstehen Leute wie Katz das nicht? Wenn du vorschlägst, die Meinungsfreiheit selektiv durchzusetzen – und das ist der Grundgedanke –, ist es dann nicht offensichtlich, dass du, wenn eine gegnerische politische Fraktion an die Macht kommt, von denjenigen schikaniert wirst, die du möglicherweise schikaniert hast? 

Meine Antwort auf diese Fragen: Der Erste Verfassungszusatz muss vor allem dann aufrechterhalten werden, wenn die Rede, um die es geht, anstößig ist. Wer bräuchte den Zusatzartikel, wenn jede Rede für alle akzeptabel wäre? Warum haben die Verfasser der «Bill of Rights» diesen Zusatzartikel verfasst und warum ist er an erster Stelle? 

Hier beziehe ich mich auf das sogenannte Skokie-Prinzip, das ein Ereignis markiert, das die meisten von uns leider vergessen zu haben scheinen. Ich beziehe mich auf den Fall aus dem Jahr 1978, in dem die «American Civil Liberties Union» (ACLU) – damals eine seriöse Organisation – eine Gruppe von Neonazis vertrat, die in voller Montur durch die Stadt Skokie, Illinois, marschierten, in der viele Juden, darunter auch Überlebende des Holocaust, lebten. Die ACLU verteidigte die Neonazis unter Berufung auf ihre Rechte nach dem ersten Verfassungszusatz. Wir waren alle besser dran.

Wie lange sind diese Zeiten vorbei. Angriffe auf die freie Meinungsäußerung sind heute an der Tagesordnung, und diejenigen, die sie durchführen, haben die Verfechter der freien Meinungsäußerung in die Defensive gedrängt. Universitäten, öffentliche Versammlungen, Straßendemonstrationen gegen den israelischen Feldzug in Gaza und die Medien – in diesem Zusammenhang sei der Fall «Substack» genannt – sind allesamt Schauplätze von Angriffen der Befürworter des Zensurregimes. Anfang dieser Woche hat der Kongress eine Resolution verabschiedet, die – in der überladenen Sprache unserer Zeit – „klar und deutlich feststellt, dass Antizionismus Antisemitismus ist“. Abstimmungen dieser Art, die als „Sense of Congress“-Resolutionen bekannt sind, sind als Gesetz nicht bindend. Aber diese Resolution wird sicherlich einen tiefgreifenden und schädlichen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs in Amerika haben.

Ich muss fast 400 Jahre zurückgehen, wenn ich an «The Atlantic», Jonathan Katz und «Substack» denke und an die kollektive Besessenheit, die in Wahrheit ein Wahnsinn ist, von Antisemitismus. Es beginnt im Jahr 1644, als Milton im Parlament eine Rede hielt, die uns als Areopagitica überliefert ist: Eine Rede des englischen Dichters John Milton für die Freiheit des nicht lizenzierten Buchdrucks. Während der englische Bürgerkrieg tobte, sprach sich Milton gegen ein im Jahr zuvor verabschiedetes Parlamentsgesetz aus, das von Schriftstellern eine offizielle Lizenz verlangte, bevor ihre Werke veröffentlicht werden durften.

Ich liebe diese großartige Rede, seit ich sie vor Jahrzehnten zum ersten Mal gelesen habe. Hier zitiere ich kommentarlos – was gibt es da noch zu sagen? – die berühmteste Passage: 

«Ich kann eine flüchtige und verborgene Tugend nicht loben, die nicht geübt und nicht geatmet wird, die nie ausbricht und ihren Gegner erkennt, sondern sich aus dem Rennen schleicht, in dem um den unsterblichen Siegerkranz gekämpft werden muss, nicht ohne Schweiß und Leidenschaft.»

Zum Originaltext von Patrick Laurence