Blick in das Flüchtlingslager in der West-Bekaa-Ebene im Libanon. (Foto Karin Leukefeld)

… und wer kümmert sich um die Katastrophe im Libanon?

Während der libanesische Interims-Ministerpräsident Najib Mikati am Rande der UN-Vollversammlung zahlreiche Gespräche führt, um für den Libanon eine politische und wirtschaftliche Perspektive zu erreichen, kommt das Leben im Zedernstaat immer mehr zum Stillstand. Die Zahl der Menschen, die versuchen, aus dem Libanon über das Mittelmeer zu fliehen, hat sich nach Angaben des UN-Hilfswerks für Flüchtlinge 2022 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Viele bezahlen für den Wagemut mit ihrem Leben.

Sieben Jahre ist es her, dass Anfang September 2015 das Bild eines kleinen Jungen am Strand des türkischen Badeortes Bodrum um die Welt ging. Der zweijährige Alan Kurdi war ertrunken bei dem Versuch, mit seinen Eltern und seinem fünfjährigen Bruder auf einem Flüchtlingsboot die griechische Insel Kos zu erreichen. Auch sein Bruder und seine Mutter kamen ums Leben. Nur der Vater überlebte. Das Bild des Jungen wurde bald zum Symbol des Syrienkrieges, denn die Familie von Alan Kurdi war vor dem Krieg in Syrien geflohen. Heute machen die Toten im Mittelmeer und vor der Küste des Libanon und Syriens keine Schlagzeilen mehr. 

Am letzten Donnerstag trieben mindestens 30 leblose Körper im Mittelmeer vor der Küste des syrischen Hafens Tartus, der nur wenige Kilometer von der Grenze zum Libanon entfernt liegt. Bis zum Abend konnten von der syrischen Küstenwache mit Unterstützung von Fischern 15 Personen geborgen werden. Acht von ihnen lebten noch und wurden in ein Krankenhaus eingeliefert. Wegen des hohen Wellengangs mussten die Rettungsboote ihre Arbeit in der Nacht einstellen. Auf der Suche nach weiteren Opfern kreiste ein Armeehubschrauber mit Scheinwerferlicht über das Meer. 

Am Freitagmorgen war die Zahl der leblosen Körper auf 53 gestiegen, wie die libanesische Tageszeitung Al Akhbar berichtete. Tags darauf waren 70 Tote gezählt. Die Zahl der Überlebenden stieg von 8 am Donnerstagabend auf 21 Personen. Nach Angaben des Krankenhauses handelte es sich um 6 Libanesen, 3 Palästinenser, 12 Syrer. Familienangehörige der Menschen auf dem Boot wurden gebeten, Opfer zu identifizieren. Manche der Toten waren verstümmelt, die meisten hatten keine Ausweispapiere bei sich. Das syrische Transportministerium teilte mit, dass nach Angaben von Überlebenden 120 bis 150 Personen auf dem Schiff gewesen sein sollten. Das Boot sei von Minieh gestartet, nördlich der libanesischen Hafenstadt Tripoli.

Verzweiflung ist größer als Angst

Seit dem Frühjahr häufen sich Tragödien dieser Art vor der Küste des Libanon. Aus Verzweiflung über ihre Lage kaufen Menschen gemeinsam ein Schiff, um auf eigene Faust über das Mittelmeer in Richtung Zypern, Italien oder Griechenland zu fahren. Ihr Ziel ist es, europäischen Boden zu erreichen. Dort hoffen sie in den Flüchtlingslagern für sich und ihre Kinder eine bessere Zukunft zu finden. 

Die EU und EU-Mitgliedsstaaten wie Deutschland, rüsten die libanesische Küstenwache auf und bilden sie aus, um die Flüchtlinge zu stoppen. Beim Versuch, der Küstenwache zu entkommen sind bereits zahlreiche Flüchtlingsboote gekentert. Ein Grund dafür ist die Unerfahrenheit der Bootsführer, ein anderer Grund ist, dass die zumeist kleinen Boote viel zu viele Passagiere geladen haben. Die Menschen werden über „Soziale Medien“ und in den Moscheen über die Gefahren einer solchen Flucht informiert. Menschen, die es dennoch versuchten und sich auf die Flucht vorbereiteten, sollen auf die Gefahren aufmerksam gemacht aber nicht den Behörden gemeldet werden.

Im vergangenen April war ein Schiff mit 84 Menschen an Bord vor der Küste von Tripoli gekentert, als es versuchte, der libanesischen Küstenwache zu entkommen. 54 Menschen konnten gerettet werden, sechs Menschen, darunter ein 40 Tage alter Säugling, wurden tot geborgen. Die anderen Menschen blieben verschwunden. 

Das UN-Hilfswerk für Flüchtlinge (UNHCR) erklärte damals gemeinsam mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) es müsse dringend etwas gegen die sich ständig verschlechternden Lebensbedingungen im Libanon getan werden. Die Wirtschaftskrise habe zur „größten Fluchtwelle aus dem Land in seiner Geschichte geführt“, hieß es. Es müssten „sichere und legale Alternativen zur irregulären Migration“ geschaffen werden, sagte damals Mathieu Luciano von der IOM Libanon. Dazu gehöre auch „Hilfe zum Lebensunterhalt zu geben und gefährdete Gruppen zu unterstützen.“

UNHCR und IOM kümmern sich vor allem um die rund 1 Million syrischen Flüchtlinge im Libanon. Die libanesische Regierung appelliert seit Jahren an die UNO, die Rückkehr dieser Menschen in ihre Heimat zu unterstützen, damit die Lager im Libanon, vor allem in der Bekaa-Ebene, aufgelöst werden können. Eine finanzielle Unterstützung bei der Rückkehr der Syrer wird aber von den westlichen Geberländern der UNO verweigert. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borell erklärte anläßlich der letzten EU-Konferenz für die Zukunft Syriens und der Region (Mai 2022), man werde die Beziehungen zu Syrien nicht wiederherstellen, keine Hilfe beim Wiederaufbau Syriens leisten und die einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen gegen Syrien (Wirtschaftssanktionen) nicht aufheben, bis eine politische Transformation in Syrien unter Kontrolle der UNO und glaubwürdig in Gang gesetzt sei.

Not der Menschen ist Ergebnis einer falschen Politik

Tatsächlich braucht der Libanon keine Hilfe und auch keine Kredite, das Land braucht eine souveräne wirtschaftliche Perspektive ohne Einmischung, bei der es sich seine Partner für die Wirtschafts- und Entwicklungspolitik selber wählt. In den letzten Jahren hatte der Libanon Angebote aus China, Russland und Iran, die von den jeweiligen libanesischen Regierungen aus Angst vor angedrohten US-Sanktionen abgelehnt wurden. Der Verfall der libanesischen Lira ist Ergebnis einer falschen und korrupten Finanzpolitik der libanesischen Zentralbank, die Jahrzehnte von der Weltbank, der EU und den USA unterstützt worden war. Die libanesische Finanzkrise seit Herbst 2019 ist aber auch Folge des US-amerikanischen „Caesar Gesetzes zum Schutz der syrischen Bevölkerung“, das erst die syrische Lira, dann das libanesische Pfund abstürzen ließ. Das Gesetz sieht vor, dass Syrien und jeder, der mit Syrien Handel treibt mit US-Sanktionen bestraft werden kann. Syrien ist der wichtigste Handelspartner des Libanon.

Die staatliche Gesellschaft für Elektrizität im Libanon hat nun die Stromversorgung öffentlicher Einrichtungen und privater Haushalte – bisher täglich zwei Stunden – mangels Brennstoff für die Elektrizitätswerke eingestellt. Die Zentralbank hat die Subventionen auf Öl und Gas gestrichen, so dass viele Libanesen auf Strom und auf das Betanken ihrer Fahrzeuge ganz verzichten müssen.

Ein Gesprächspartner in Beirut berichtete der Autorin, er habe bisher 160 US-Dollar monatlich für Strom aus dem Generator bezahlt. Nun solle er 100 US-Dollar mehr, also 260 US-Dollar bezahlen, das sei mehr als die Hälfte seines Gehaltes. Die Preise für Benzin hätten sich verdoppelt, so der Mann: „Wir leben wieder wie in der Steinzeit.“

Banken schließen aus Protest gegen Überfälle

Die Banken kündigten am vergangenen Montag an, für drei Tage zu schließen. Begründet wurde die Schließung damit, dass Besetzungen und Überfälle auf Bankfilialen in den letzten Tagen zugenommen hätten. Personen, die auf ihren libanesischen Bankkonten US-Dollar haben, diese aber nicht oder nur begrenzt abheben dürfen, hatten Bankfilialen besetzt und sich geweigert, zu gehen, bevor sie nicht ihr Geld ausgezahlt bekämen. In einem Fall waren zwei Männer in eine Bank eingebrochen, um einer Frau zu helfen, an ihr Erspartes zu kommen. Sie brauchte das Geld, um die Krebsbehandlung ihrer Schwester bezahlen zu können. In einem anderen Fall hatte eine Frau eine Spielzeugpistole benutzt, um von der Bank ihre US-Dollar ausgezahlt zu bekommen. Die beiden Männer und die Frau wurden festgenommen. Demonstranten versammelten sich vor dem Justizministerium und forderten die Freilassung der Inhaftierten.

IWF und EU-/US-Sanktionen verschärfen Krise

Eine Delegation des Internationalen Währungsfonds (IWF) hielt sich ebenfalls Anfang der Woche in Beirut auf. Die internationale Kreditorganisation bietet dem Land Kredite an und fordert im Gegenzug „Reformen“. Dazu gehört u.a., dass Grundnahrungsmittel, Medikamente, Öl oder Gas für die Bevölkerung nicht weiter subventioniert werden sollen. Staatliche Firmen im Telefon, Strom- und zukünftig auch im Gassektor, sollen privatisiert werden. 

Der Druck auf den Libanon wird verschärft durch EU- und US-Sanktionen, die mit dem politischen Engagement der Hisbollah begründet werden. Die Organisation, die im Parlament und in der Regierung vertreten ist, wird vom Westen als „Terrororganisation“ verfolgt. Das US-Caesar-Gesetzt droht jedem Unternehmen, jedem Staat und jeder Einzelperson mit Sanktionen, sollten sie mit der Hisbollah oder deren Verbündeten Syrien, Iran und nun auch Russland kooperieren. Weil die USA keine Ausnahmegarantie gibt, liegt ein Abkommen zwischen Libanon, Ägypten, Jordanien und Syrien über Gaslieferungen an den Libanon durch die Arabische Gaspipeline seit einem Jahr auf Eis.

Der Iran hatte dem Libanon Anfang August kostenlose Öllieferungen angeboten, woraufhin die US-Botschaft in Beirut mit scharfer Kritik und Warnungen reagierte. Dennoch sollte eine Delegation unter Leitung von Interims-Energieminister Walid Fayyad in den Iran geschickt werden, um Einzelheiten zu besprechen. 

Israel verschiebt Gasförderung

Inzwischen deutet vieles darauf hin, dass die Verhandlungen über die Seegrenze zwischen Libanon und Israel Fortschritte machen. Dabei geht es um die Zuordnung der beiden Ölfelder Qana und Karish, an denen beide Länder Anteile beanspruchen. Der Libanon hatte vorgeschlagen, die Seegrenze so zu ziehen, dass Karish südlich der vorgeschlagenen Grenze Israel zugeordnet werden solle. Qana liege demnach nördlich der Grenze in der libanesischen maritimen Wirtschaftszone. Beide Seiten sollten auf ihre jeweiligen Ansprüche in dem anderen Gasfeld verzichten. 

Grundsätzlich bezeichnet man im Libanon die Gasvorkommen, die Israel beansprucht, als „palästinensische Gasvorkommen“. Israel, mit dem Libanon sich im Kriegszustand befindet, ist für die Libanesen, „Besatzungsmacht in Palästina“.

Israel hatte ursprünglich angekündigt, mit der Gasförderung im Karish Feld Mitte September beginnen zu wollen. Hisbollahführer Hassan Nasrallah hatte daraufhin erklärt, solange keine Seegrenze gezogen und der Libanon endlich mit der Förderung in den eigenen Gasfeldern beginnen könne, werde auch Israel kein Gas fördern. Sollte Israel es dennoch versuchen, werde die Förderplattform auf dem Karish Gasfeld zerstört.

Auf Wunsch der Betreiberfirma Energean hat Israel inzwischen die Förderung von Gas auf der Plattform Karish auf Oktober verschoben. Energieministerin Karine Elharrar begründete die Verschiebung mit „komplizierten technischen Arbeiten“ auf der Plattform.

Einigung über Seegrenze möglich

Der Chef der Libanesischen Sicherheitskräfte, Generalmajor Abbas Ibrahim äußerte sich nach den jüngsten Gesprächen mit dem US-Sonderbeauftragten für Energiesicherheit Amos Hochstein in Beirut vorsichtig optimistisch. Nach zwei Jahren Verhandlungen deute vieles darauf hin, dass man das Thema abschließen könnte, sagte Ibrahim Mitte September im Gespräch mit dem libanesischen Fernsehsender Al Jadeed. „Wir sprechen von Wochen, vielleicht Tagen, bis die Frage der Grenzziehung zum Abschluß gebracht werden kann.“ 

Hochstein hatte sich am 9. September für einige Stunden in Beirut aufgehalten und nach Treffen mit Präsident Aoun und dem stellvertretenen Parlamentspräsidenten Elias Bou Saab von „guten Fortschritten“ gesprochen. Libanesischen Medienberichten zufolge habe Hochstein Koordinaten für die Grenzziehung vorgelegt. Sollte der Libanon zustimmen, werde Hochstein in wenigen Tagen beiden Seiten einen „Gesamtvorschlag“ vorlegen. 

Beobachter im Libanon bewerten die Aussagen vorsichtig. „Der Teufel liegt bekanntlich im Detail“, so Mohammad Ballout, langjähriger Kriegskorrespondent der mittlerweile eingestellten Tageszeitung As Safir. „Libanon braucht nicht nur eine Einigung über die Seegrenze, es braucht vor allem Garantien von den USA, eine Vereinbarung auch zu achten.“ Nach den Erfahrungen des Iran mit dem ausgehandelten Atomabkommen, aus dem die USA einseitig ausgestiegen waren, sei man im Libanon gegenüber Israel und den USA mißtrauisch.

Verhandlungen am Rande der UN-Vollversammlung

Am Rande der UN-Vollversammlung in New York traf der libanesische Interims-Ministerpräsident Najib Mikati mit US-Außenminister Anthony Blinken zusammen. Mikati wurde von seinem außenpolitischen Berater Boutros Asaker, von Außenminister Abdullah Bou Habib und der libanesischen UN-Botschafterin Amal Mudallali begleitet. Auf US-Seite nahmen neben Blinken US-Sicherheitsberaterin Victoria Nuland und der US-Beauftragte für Energiesicherheit Amos Hochstein teil, der zwischen Libanon und Israel vermittelt. 

Alle wichtigen Themen seien angesprochen worden, sagte Mikati anschließend vor Journalisten. Die Markierung der Seegrenze mache „großen Fortschritt“, man habe aber auch über andere dringende Probleme gesprochen. Mikati nannte die bevorstehende Präsidentschaftswahl im Libanon, die Rückführung syrischer Flüchtlinge, eine Vereinbarung mit dem IWF und die Wiederherstellung der Stromversorgung. Blinken nannte die Unterredung „nützlich“ und auch aus Israel kamen positive Zeichen. Interims-Ministerpräsident Jair Lapid erklärte, eine Einigung sei „möglich und nützlich“ für beide Seiten. Einzelheiten sollen am Rande der UN-Vollversammlung weiter besprochen werden. 

Viele Interessen, viele Hindernisse

Die USA verhandelt seit Jahren im Interesse Israels, Gespräche unter dem Dach der UNIFIL schleppten sich hin. Verträge des Libanon mit drei internationalen Ölfirmen (Total, Eni, Novatek) wurden auf US-Druck auf die Firmen und Androhung von Sanktionen nicht umgesetzt. 

Auch innenpolitische Gründe in den USA, im Libanon und in Israel spielen eine Rolle.  US-Präsident Joe Biden steht vor den Midterm-Wahlen und möchte sich mit einer Einigung über die Seegrenze zwischen Libanon und Israel als erfolgreicher Vermittler darstellen. Zudem sind die USA an einer zügigen Gaslieferung aus dem östlichen Mittelmeer an Europa interessiert, um die EU weiter auf Kurs in der Konfrontation mit Russland zu halten.

Israel steht derweil vor Parlamentswahlen und eine Einigung über die Seegrenze, die den Interessen des Libanon entspricht, könnte als Niederlage von Interims-Ministerpräsident Jair Lapid gesehen werden und den langjährigen Amtsinhaber Benjamin Netanyahu wieder an die Macht bringen. Im Libanon läuft die Amtszeit von Präsident Michel Aoun aus, der im Falle einer guten Vereinbarung mit einem Erfolg aus dem Amt scheiden könnte.

Leblose Körper im Meer

Für die Bevölkerung bedeutet das Geschacher die Verlängerung ihrer Sorgen. Die leblosen Körper, die vor der Küste der syrischen Hafenstadt Tartous gefunden wurden, werden nicht die letzten gewesen sein. Die Tragödien und Dramen im Libanon sorgten nicht einmal am Rande der UN-Vollversammlung für Schlagzeilen in westlichen Medien. Dabei könnte ein Blick auf den Libanon, die Palästinensergebiete und Syrien der Bevölkerung im Westen zeigen, wohin die militärischen Interventionen und Wirtschaftskriege des Westens immer wieder führen.

Auch dieser kleine Junge hätte eine lebenswürdige Zukunft verdient: Eine Grossmutter mit ihrem Enkelkind im Flüchtlingslager in der West-Bekaa-Ebene . (Foto Karin Leukefeld)