Ukraine: Wie der Westen einen Waffenstillstand verhinderte
(Red.) Kurz nach Kriegsbeginn lag in Istanbul ein paraphiertes Friedensabkommen vor. Es ist nun erwiesen, dass die NATO es torpediert hat. Zu diesem Schluss kommt insbesondere auch ein gut recherchierter Artikel im US-amerikanischen Polit-Magazin «Foreign Affairs», das zwar fast in allen seinen Beiträgen einfach die US-amerikanische Sichtweise vertritt, aber in dieser speziellen Thematik offensichtlich keine Chance mehr hatte, die Realität zu leugnen. (cm)
Während in den grossen westeuropäischen Medien fast ausschliesslich Durchhalteparolen und Rufe nach mehr Waffenlieferungen ertönen, kommen in den Medien in USA derzeit auch vereinzelt Stimmen zu Wort, die für eine sofortige Verhandlungslösung plädieren. Das mag vielleicht damit zu tun haben, dass man in Washington erkennt, dass Joe Biden die Wahlen verlieren könnte, wenn sich abzeichnet, dass der Krieg in der weit entfernten Ukraine mehr und mehr zu einer schweren finanziellen Belastung für ein Land wird, das den Weltrekord in Sachen Verschuldung hält. Donald Trump hat wiederholt trompetet, er werde den Ukrainekrieg unverzüglich beenden.
Am 16. April erschien im führenden aussenpolitischen Magazin Foreign Affairs ein Artikel mit dem Titel «The Talks That Could Have Ended the War in Ukraine». Die Autoren, der britische Historikers Sergei Radschenko und der Politologe Samuel Charp von der Rand Corporation, der wichtigsten militärstrategischen Denkfabrik der USA, haben Dokumente über Friedensverhandlungen in Istanbul ausgewertet, die bislang nicht öffentlich zugänglich waren. Aus diesen geht hervor, dass Moskau wenige Wochen nach Kriegsbeginn bereit war, seine Truppen abzuziehen, wenn die Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichten würde.
Die Autoren zitieren einen damaligen Chefunterhändler Selenskyjs, David Arachamija, der 2003 in einem Interview im ukrainischen Nachrichtenprogramm sagte: «Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir wie Finnland (im Kalten Krieg) die Neutralität annähmen und uns verpflichteten, nicht der Nato beizutreten.» Ein anderer der ukrainischen Unterhändler, Olexander Tschali, sagte im Dezember 2023 bei einem öffentlichen Auftritt, «Wir waren sehr nahe, den Krieg mit einem Friedensschluss zu beenden.»
Die NZZ am Sonntag publizierte den Text aus Foreign Affairs in gekürzter deutscher Übersetzung am 21. April 2024 unter dem Titel «Wurde Putins schwacher Moment verpasst?» Da hat die Redaktion nun zwei Jahre gebraucht, bis ihr diese Frage einfiel. Und sie fiel ihr offenbar erst ein, als sie in Washington gestellt wurde. Zwei Jahre, in denen kein Tag verging, ohne dass das Gemetzel in der Ukraine, das Leiden der Menschen, die Grausamkeit der Russen und das Sterben der Soldaten der Westukraine beklagt wurden (die Menschen der prorussischen Ostukraine existieren für unsere Medien nicht).
Das Erstaunliche an der ganzen Sache ist, dass die Einigung in Istanbul seit März 2022 bekannt war, aber kurz darauf im Westen unter einem Mantel des Stillschweigens verschwand. Die Erklärung ist einfach: Da war eine unangenehme Wahrheit erschienen, die eine andere flächendeckend kolportierte «Wahrheit» Lügen strafte. Wenn Russland vier Wochen nach dem Angriff zum Rückzug bereit war, falls die Ukraine in einen Neutralitäts-Status einwilligte, dann implodierte die Erzählung vom russischen Imperialisten Putin, der halb Europa überrollen wolle.
Ob Wladimir Putin dabei einen «schwachen Moment» hatte oder nicht, sei der Einbildungskraft der NZZ-Redaktion überlassen. Feststellbar ist nur eines: Die Verhandlungen in Istanbul bestätigten, dass die russische Regierung nicht mehr und nicht weniger anstrebte als Sicherheitsgarantien der Nato für die russische Westgrenze. Entsprechende ultimative Vertragsentwürfe hatte Moskau am 15. Dezember 2021 bei einem Treffen in Moskau den USA und der Nato vorgelegt, diese hatten die Vorschläge ignoriert. Wären sie darauf eingegangen, hätte der Ukraine-Krieg mit grosser Wahrscheinlichkeit verhindert werden können, wie der international hochdekorierte deutsche General a.D. Harald Kujat, ehemaliger Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, seit Monaten immer wieder betont. Sein Urteil wird von renommierten Analysten wie dem ehemaligen Schweizer Geheimdienstoffizier Jacques Baud und anderen Militärs geteilt, die sich – weitgehend ungehört – für Verhandlungen einsetzen und warnen, die fortschreitende militärische Eskalation könne in die nukleare Katastrophe führen.
In Istanbul war Moskau laut den ukrainischen Unterhändlern gegen einen Nato-Beitritt der Ukraine, aber nicht grundsätzlich gegen eine Anbindung der Ukraine an die EU. Für die Lösung der Krimfrage und den Status der aufständischen Oblaste im Donbass waren langjährige Verhandlungen und Volksabstimmungen vorgesehen. Das Friedensabkommen sollte laut den Vorstellungen in Kiew unter anderem von der UNO und den führenden NATO-Staaten garantiert werden, die bei Vertragsverletzung zum Beistand verpflichten wären.
Dann ereignete sich Seltsames. Anfang April 2022, kurz nach der Verbreitung der Good News aus Istanbul, dringt die ukrainische Armee in die Stadt Butscha nordwestlich von Kiew ein und veröffentlicht Videoaufnahmen von gefesselten Leichen. In Kiew wird erklärt, abziehende russische Einheiten hätten ein Massaker angerichtet. Die Bilder gehen unverzüglich um die Welt.
Die Russen hatten demnach gefesselte und erschossene Zivilpersonen links und rechts an den Strassenrand gelegt, sozusagen als «foto opportunity» für alle westlichen TV-Kameras. Man hätte sich fragen können, welches Ziel die russische Armee mit diesen Morden verfolgte, wenn in Istanbul ein Friedensvertrag auf dem Tisch lag. In den westlichen Medien stellte aber niemand diese Frage. Istanbul war augenblicklich vergessen, von einem Friedensvertrag war nicht mehr die Rede, Butscha war die Schlagzeilen-Lawine, die alles andere zuschüttete.
Allenthalben ertönte ein Aufschrei der Empörung. Butscha bestätigte das in Kiew kultivierte Zerrbild einer blutrünstigen, mordlustigen russischen Soldateska. Die Vorgänge wurden dargestellt als ein Akt des russischen Terrorismus und der Vergeltung für die Niederlage bei der Einnahme von Kiew. Von da ab verstärkte sich in der westlichen Öffentlichkeit die Überzeugung, dieser Krieg müsse bis zur Niederlage Russlands geführt werden, koste es was es wolle.
Moskau dementierte: Butscha sei eine False Flag Operation des ukrainischen Geheimdienstes, um einen Grund für die Weiterführung des Krieges zu schaffen. Man wird die ganze Wahrheit vielleicht nie erfahren. Aber heute, zwei Jahre später, stehen Aussagen renommierter Leute im Raum, die es schwer machen, die russische Version der Vorgänge in Butscha als reine Propaganda abzutun. Verschiedene Politiker, die das Istanbul-Treffen begleitet haben – darunter der israelische Ex-Premier Naftali Bennet – beschuldigen die Nato, sie habe das Scheitern der Friedensverhandlungen zu verantworten. Die USA und ihre Verbündeten hätten Selenskyj klargemacht, dass sie einen Waffenstillstand und ein Kriegsende zu den ausgehandelten Bedingungen nicht akzeptieren würden.
Exakt mit diesem Auftrag unternahm der damalige britische Premier Boris Johnson Anfang April 2022 eine Reise nach Kiew, die in den Medien als «surprise visit» bezeichnet wurde. Dort erklärte er Selenskyj, Putin sei nicht zu trauen, deshalb müsse der Krieg weitergehen bis zur Niederlage Russlands.
Dies wurde von mehreren ukrainischen Insidern bestätigt, unter anderem von Selenskyjs damaligem Chefunterhändler David Arachamija. Wladimir Putin wiederholte den Vorwurf im bekannten Interview mit Tucker Carlson: Boris Johnson habe interveniert, um eine Einigung zu verhindern. Dies sei sogar in Kiew publik gemacht geworden. Putin beharrte im Interview weiter auf einer Verhandlungslösung auf Basis des Dokuments von Istanbul. Als die Sache Anfang 2024 ein Medienthema wurde, behauptete Johnson mit Vehemenz, es handele sich um eine Propagandalüge Putins.
Aber zumindest den Journalisten, die mit eigenem Kopf denken, müsste irgendwann einmal aufgefallen sein, dass der Westen seine Kriege immer wieder mit zweifelhaften «Fakten» gerechtfertigt hat: von der Bucht von Tonkin in Vietnam über eine erfundene Massenvertreibung im Kosovo («Plan Hufeisen»), die angebliche Verstrickung der Taliban in 9/11 bis hin zu den frei erfundenen Massenvernichtungswaffen des Irak und Gaddafis Plan eines Massenmordes in Benghasi, den der ehemalige Chef von Médecins sans Frontières, Rony Brauman, in seinem Buch «L’action humanitaire» als Propaganda-Fake nachgewiesen hat. Es ist nicht auszuschliessen, dass Butscha in diese Reihe der kreativen Geheimdienstarbeit gehört.
Wenn die Nato Mitverantwortung dafür trägt, dass der Krieg bis heute weitergeht, handelt es sich um ein politisches Verbrechen von ungeheurer Tragweite. Folglich werden – die Prognose liegt auf der Hand – die mutmasslichen Strippenzieher Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um zu beweisen, dass alle Anschuldigungen zurückgehen auf falsche Behauptungen Putins, auf die notorische russische Cyberintervention und Desinformation. Niemals wird sich das mächtigste Militärbündnis der Welt die Blösse geben, eine unabhängige Untersuchung auf internationalem Niveau rund um die Torpedierung des Friedensabkommens von Istanbul zuzulassen.
Rechtzeitig in einen Waffenstillstand einzuwilligen, ist eine grosse politische Kunst. Die Historikerin Barbara Tuchman hat in ihrem legendären Buch «The March of Folly» dargelegt, wie Staatslenker und ihre Entourage im Lauf der Geschichte immer wieder gescheitert sind, weil sie diese Kunst nicht beherrschten. Ihre Völker haben die blinden Versuche der Gesichtswahrung in nicht zu gewinnenden Kriegen mit Millionen Toten bezahlt.
Dieser Beitrag von Helmut Scheben erschien zuerst auf der Plattform von «Hintergrund.de»