Wolodymyr Selenskyj, Staatspräsident der Ukraine, vom westlichen Ausland bewundert, intern aber mehr und mehr in der Kritik (Foto UA.gov)

Ukraine: Selenskyj und seine Regierung sind alles andere als stabil

Für die Konsumenten und Konsumentinnen der westlichen Medien scheint es klar: Präsident Wolodymyr Selenskyj repräsentiert DIE Ukraine. Wer allerdings genauer hinschaut und auch die ukrainischsprachigen Informationen versteht, kommt zu einem ganz anderen Bild: Die politische und militärische Elite in Kiew ist bereits arg zerstritten. Gordon M. Hahn, ein US-amerikanischer Forscher für Terrorismus und Geostrategie im eurasischen Raum, ist so ein aufmerksamer Beobachter. Er registriert die gegenseitigen internen Attacken und Intrigen in Kiew aufs Genaueste. Globalbridge.ch hat seine auf seiner eigenen Website erschiene Analyse mit Bewiligung des Autors für die deutschsprachigen Leserinnen und Leser übersetzt. (cm)

Achtung: Wissenschaftler pflegen, im Gegensatz zu Journalisten, zur Stützung ihrer Analysen sehr viele Details und Quellen anzugeben – ohne Rücksicht auf die so entstehende Länge eines Textes. Das trifft auch bei der hier folgenden Analyse von Gordon Hahn zu. Wer nicht an den Details, sehr wohl aber an den daraus gezogenen Schlüssen interessiert ist, der lese am Schluss des hier folgenden Beitrags einfach das Fazit. (cm)

Die westlichen Staats- und Regierungschefs, angeführt von US-Präsident Joe Biden, haben sich für einen ewigen Stellvertreterkrieg gegen Russland entschieden, zumindest für so lange, bis die Ukraine den Krieg „gewinnt“, der mit dem Einmarsch russischer Truppen in das westliche Nachbarland am 24. Februar begonnen hat. Biden ließ die Katze aus dem Sack, als er erklärte, das Ziel der massiven westlichen Militär- und Finanzhilfe für Kiew sei es, in Moskau einen Regimewechsel herbeizuführen oder zumindest den beliebten, wenn auch autoritären russischen Präsidenten Wladimir Putin zu entmachten. Da die ukrainischen Streitkräfte aber mehr und mehr geschwächt werden, mehren sich die Anzeichen für eine größere Spaltung des Kiewer Regimes – eine gute Voraussetzung für Militär- oder Staatsstreiche, Revolten, Revolutionen und andere Formen eines Regime Change.

Eine Destabilisierung des heutigen Maidan-Regimes ist aufgrund mehrerer Faktoren bereits zu erwarten und wird durch zusätzlich neue Faktoren immer deutlicher. Die Erwartung einer Destabilisierung wird gestützt durch das bekannte historische Muster von militärischen Niederlagen, die zu einer Destabilisierung des Regimes und manchmal zu Staatsstreichen oder Revolutionen geführt haben, und jetzt in der Ukraine zusätzlich durch die real schwache Unterstützung Selenskyjs durch die Bevölkerung. Anzeichen für eine Destabilisierung des Regimes sind auch der zunehmende Autoritarismus des Staates und die Spaltungen innerhalb der Regime-Elite. Diese Tendenzen werden sich noch verstärken, wenn Kiew weitere militärische Niederlagen einstecken muss und die ukrainische Armee und die ihr angeschlossenen neofaschistisch dominierten nationalen Bataillone dann die wahrscheinlichen Kandidaten für einen Putsch oder einen gesellschaftlichen Aufstand sein werden.

Militärische Niederlagen sind oft die Todesglocken für politische Führer, für Regierungen und sogar für ganze Staaten. Die Brisanz militärischer Niederlagen lässt sich auch an der lokalen Geschichte der Ukraine und ihrer Umgebung ablesen, sei es, als sie Teil des kaiserlichen Russlands oder später der UdSSR waren. Russlands Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg von 1904 führte zu gewaltsamen sozialen Umwälzungen in der letztlich gescheiterten, aber weit verbreiteten und fast erfolgreichen „Revolution“ von 1905, die Regime-Change-ähnliche Veränderungen zur Folge hatte, etwa die Einsetzung einer parlamentarischen Staatsduma, freie Wahlen zur Duma und die Erklärung und Durchsetzung zahlreicher bürgerlicher, politischer und menschlicher Rechte. Die militärische Niederlage Russlands im Ersten Weltkrieg führte zur Februarrevolution 1917. Im Sommer 1917 führten die gescheiterte „Kerenskij-Offensive“ und der Marsch der Deutschen auf St. Petersburg zum Zusammenbruch der quasi-republikanischen provisorischen Regierung von Alexander Kerenskij und zum erfolgreichen Putsch der Bolschewiki im Oktober. Die Unruhen in der Ukraine während der Revolution, des Putsches und des Bürgerkriegs von 1917 bis 1921, waren ein teuflischer Sturm aus Chaos und Gewalt, hervorgerufen durch eine Vielzahl konkurrierender Kriegsherren, Ideologien und Bewegungen – vielleicht ein Vorgeschmack auf die Zukunft der heutigen Ukraine. Das Scheitern der sowjetischen Truppen in Afghanistan Anfang der 1980er Jahre, das 1985 zu ihrem Rückzug führte, war ein wichtiger Faktor für die Entscheidung des sowjetisch-kommunistischen Parteistaatsregimes, Reformen einzuleiten, Michail Gorbatschows Perestroika, die schließlich zum Zusammenbruch sowohl des sowjetischen Parteistaatsregimes als auch zum Zusammenbruch der ganzen Sowjetunion führte, aus dem auch der heutige unabhängige ukrainische Staat hervorging. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass der russische Einmarsch im Februar die schwache Legitimität, Stabilität und Lebensfähigkeit des heutigen Maidan-Regimes in Kiew in Frage stellt und vom russischen Präsidenten Wladimir Putin möglicherweise sogar beabsichtigt war.

Das Massaker auf dem Maidan ist nach wie vor ungeklärt

Die Legitimität des Maidan-Regimes war von Anfang an begrenzt. Man muss sich nur an seinen Gründungsakt erinnern, das Massaker der Heckenschützen auf dem Maidan am 20. Februar 2014, bei dem der neofaschistische Flügel der Maidan-Bewegung auf die Sicherheitskräfte der korrupten Regierung von Viktor Janukowitsch, vor allem aber auch auf die Maidan-Demonstranten selbst schoss. Das Wissen um die Wahrheit dieser Operation unter falscher Flagge war in elitären Kreisen eine versteckte Landmine, die das Maidan-Regime jederzeit zur Explosion bringen konnte. Während seiner Präsidentschaftskampagne hat der derzeitige ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst, wenn auch etwas versteckt, auf die Illegitimität des Maidan-Regimes und den Terroranschlag der Scharfschützen hingewiesen. In einer ebenfalls nicht ganz klaren Anspielung auf seinen Gegner, Präsident Petro Poroschenko (der möglicherweise tatsächlich gegen die Schießerei war) und auf das Massaker der Scharfschützen vom 20. Februar 2014, sagte Selenskyj: „Leute, die mit Blut an die Macht gekommen sind, profitieren von Blut„. Später beklagte er das „Verschwinden von Unterlagen über das Massaker“. Es war diese scheinbare Offenheit, die zu Selenskyjs erdrutschartiger Wahl zum ukrainischen Präsidenten führte. Eines Tages allerdings könnte er eben deswegen umgebracht werden, und die ukrainischen Neofaschisten stehen als erste auf der Liste der möglichen Täter.

Gleichzeitig hört man oft, dass die Popularitätswerte von Präsident Selenskyj seit der russischen Invasion putinsche Werte erreicht haben. Dies muss jedoch etwas genauer betrachtet werden, um ein klareres und tieferes Bild zu erhalten. Am Vorabend des Krieges war die Selenskyj-Regierung äußerst schwach, ebenso wie der gesamte ukrainische Staatsapparat, der durch umstrittene politische, ideologische, oligarchische und kriminelle Gruppierungen gespalten war. Das gesamte ukrainische politische System war zu diesem Zeitpunkt gegen Selenskyj. Seine Beliebtheitswerte waren auf 25 bis 30 Prozent gesunken. Laut Umfragen am Vorabend des Krieges lag Selenskyj bei 23 Prozent und sein Vorgänger auf der Bankowaja, Petro Poroschenko, bei 21 Prozent. Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ oder „Slugy naroda“ lag mit 19 Prozent zwar an der Spitze aller Parteien, aber das muss im Vergleich zu den 70 Prozent bei der Wahl der Rada und 14 Prozent für Poroschenkos Partei „Europäische Solidarität“ gesehen werden. Das bedeutet, dass Selenskyjs derzeitige hohe Popularitätswerte aus dem Krieg mit ziemlicher Sicherheit dünn sind und dass er bei dem anhaltenden Strom schlechter Nachrichten von der Front hochgradig gefährdet ist, obwohl er die Schrauben anzieht und die Informationen über die Lage an der Front manipuliert. Darüber hinaus erweckt er zweifellos den Eindruck, dass er an der Formulierung der ukrainischen Kriegsstrategie beteiligt ist, und tatsächlich scheint er daran auch intensiv beteiligt zu sein. Er gibt häufig öffentliche militärische und strategische Ankündigungen und nächtliche Berichte über die Lage an der Front und die geopolitische Situation ab. Diese nach vorne gerichtete Position macht den Präsidenten aber noch anfälliger für die politischen Risiken eines militärischen Scheiterns. Und es gibt und wird noch viele weitere schlechte Nachrichten von der Front geben.

Vor dem Krieg war Selenskyj der Verlierer

Vor dem Krieg waren Medienmanipulation, Desinformation und Lügen ein Markenzeichen des Regimes des Schauspielers und Show-Produzenten Selenskyj – eines Regimes, das aus Produzenten, Drehbuchautoren und PR-Fachleuten besteht. Selenskyjs Verschleierung der Realität durch die inzwischen allgegenwärtige postmoderne Unsichtbarkeit (Virtuality) und die Unwahrheiten der „strategischen Kommunikation“ werden heutzutage aufgedeckt und verschärfen die delegitimierende Wirkung des Krieges. Die vorgetäuschte Realität fehlt jedoch, wenn es um den zunehmenden Autoritarismus auf dem Maidan geht, sowohl vor dem Krieg, als Selenskyjs Werte sanken, als auch jetzt nach Kriegsbeginn, als Reaktion auf die Bedrohung der Regime-Stabilität durch den Krieg.

Vor dem Krieg hatte sich Selenskyj als Experte darin erwiesen, alle politischen Kräfte des Landes von seinem Team und seiner Partei „Slugi naroda“ zu entfremden, benannt nach seiner erfolgreichen Fernsehsendung über einen ukrainischen Präsidenten. Selenskyj verbot oppositionelle Fernsehsender, seine Staatsanwälte klagten den ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko des Hochverrats an und stellten ihn de facto unter Hausarrest, Selenskyj gestaltete den Obersten Gerichtshof unter Verletzung der ukrainischen Verfassung um und unterzeichnete Gesetze, die die russische Sprache diskriminieren und Oligarchen faktisch aus der Politik verbannen. Der einzige Teil des politischen Spektrums, mit dem er einen Modus vivendi finden konnte, waren die bekannteren neofaschistischen Parteien der Ukraine. So wurde beispielsweise der neofaschistische Gründer der extremistischen Partei „Rechter Sektor“, Kommandeur der halbautonomen Ukrainischen Freiwilligenarmee und Drahtzieher des terroristischen Pogroms vom 2. Mai 2014 in Odessa, Dmitro Yarosh, offizieller Berater des Generalstabschefs der ukrainischen Streitkräfte unter der Leitung von Selenskyj.

Nach Beginn des Krieges unterstellte Selenskyj alle Fernsehsender einem einzigen Kommando mit einheitlicher Ausstrahlung, die kaum abweichende Stimmen zuließ. Er verbot alle Oppositionsparteien mit Ausnahme von Poroschenkos hinreichend nationalistischer Partei „Europäische Solidarität“ sowie der zahlreichen, wenn auch kleinen ultranationalistischen, neofaschistischen Parteien. Folgende elf Parteien wurden verboten: die Oppositionspartei – Für das Leben, die Shariy-Partei, Nashi, der Oppositionsblock, die Linke Opposition, die Union der linken Kräfte, der Staat, die Progressive Sozialistische Partei der Ukraine, die Sozialistische Partei der Ukraine, die Sozialistische Partei und der Wolodymyr-Saldo-Block. „Jegliche Aktivitäten von Politikern, die auf eine Spaltung oder auf Kollaboration (mit den Russen) abzielen, werden keinen Erfolg haben“, erklärte Selenskyj. Doch Selenskyj spielt mit dem Feuer, denn seit die ersten Scharfschützensalven über den Maidan hallten, bereiten sich die radikalen Parteien darauf vor, in einer „nationalistischen Revolution“ die Macht zu ergreifen. Der Krieg könnte die Gelegenheit für einen Staatsstreich bieten, da die Regierung Selenskyj dazu beiträgt, den Neofaschisten einen autoritären Charakter zu verleihen, und auch weil die zunehmenden Niederlagen und Rückzüge an der Front die Legitimität des Maidan-Regimes zusätzlich untergraben.

Die politische und militärische Elite ist zunehmend gespalten

Es gibt untrügliche Anzeichen für eine zunehmende Fraktionierung, Polarisierung und Spaltung innerhalb der ukrainischen Elite, was Selenskyj zu autoritären Gegenmaßnahmen veranlasst. Jüngstes Anzeichen für die zunehmenden Risse war die Veröffentlichung eines Entwurfs für ein Präsidialdekret durch den Selenskyj nahestehenden ehemaligen Rada-Abgeordneten Sergej Leschtschenko, mit dem Selenskyjs geschäftlichem und politischem Förderer Ihor Kolomoyskyj die Staatsbürgerschaft entzogen werden sollte. Kolomoyskyj, der in den USA wegen verschiedener Straftaten gesucht wird, geriet in Konflikt mit Selenskyjs Vorgänger Poroschenko. Darauf wurde ihm seine wichtigste Holding, die ukrainische PrivatBank, entzogen. Neben Kolomoyskyj wurden auch Hennadyj Korban und zwei weitere Personen in denselben Dekretsentwurf aufgenommen. Korban war wie Kolomoyskyj ein Förderer der neofaschistischen Freiwilligenbataillone, die während des ersten Donbass-Krieges vom Rechten Sektor und anderen neofaschistischen Gruppen gestellt wurden und sich kürzlich in die Ukrainische Freiwilligenarmee und die Nationalen Korps umgewandelt haben. So unterzeichnete Yarosh zusammen mit 115 anderen Mitgliedern der ukrainischen Elite, darunter der einflussreiche Bürgermeister von Kiew Vitali Klitschko, eine Petition an Selenskyj mit der Aufforderung, von einem solchen Vorgehen gegen Korban (und damit auch gegen Kolomoyskyj) abzusehen, da ein solches Vorgehen gegen die Verfassung verstoße. Diese Episode kann eine weitere Episode sein, die Selenskyjs mitunter gereizte Beziehungen zu den Ultranationalisten und Neofaschisten schon vor dem Krieg verschärft haben.

Der Sprecher des Präsidialamtes, Alexey Arestovych, hat mit seinen ineffektiven, oft absurden und unverschämten strategischen Mitteilungen, darunter zahlreiche Fake News über den Krieg, die militärische und die zivile Führung in Misskredit gebracht und eine mögliche frühe Entwicklung einer Kluft zwischen ihnen signalisiert. Seit dem Frühjahr wird von zunehmenden Spannungen zwischen der zivilen und der militärischen Führung berichtet, da der russische Rückzug aus dem Norden Kiews zu einer neuen Strategie und einer zentralen Konzentration auf die Ostfront im Donbass und die Südfront in Noworossija entlang der Asowschen und der Schwarzmeerküste geführt hat. Die Einnahme des Asowschen Seehafens Mariupol durch Russland, die Aufdeckung von Kriegsverbrechen durch das neofaschistische Asowsche Bataillon und die lange russische Belagerung des Stahlwerks Asowstal‘, in dem Asowsche Kämpfer ausharrten und Druck auf das Regime und das Militär ausübten, um sie aus der russischen Umzingelung zu befreien, führten zu zivil-militärischen Spannungen und Sündenböcken und verschärften die Spannungen zwischen Regime und Neofaschisten. Während der Belagerung von Asowstal‘, die das Schicksal von Mariupol besiegelte, kritisierte der stellvertretende Kommandeur der dortigen Kämpfer des neofaschistischen Asowschen Bataillons Politiker wie Arestovych, der seinerseits die Asowschen warnte, sie sollten sich „um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern“. In den ukrainischen sozialen Netzwerken herrschte weit verbreitete Bestürzung darüber, dass die zivilen Behörden nicht genug tun, um die Einkreisung zu durchbrechen, weder militärisch noch durch Verhandlungen. Die Erklärung des ukrainischen Verteidigungsministeriums, dass eine Militäroperation zur Durchbrechung der Einkreisung von Asowstal nicht möglich sei, könnte von einigen als Ergebnis des Einknickens der Generäle unter dem Druck der Zivilbevölkerung gesehen werden.

Anfang Mai verschärften sich die zivil-militärischen Spannungen. Arestovych übte offen Kritik an der Militärführung und sprach von „Kriminalität“ und „Verrat“, die untersucht und bestraft werden müssten. Tatsächlich kritisierte er die gesamte staatliche Bürokratie als Reaktion auf die Vorwürfe der Inkompetenz auf Präsidentenebene: „Und 360 Tausend Bürokraten zwischen uns und dem Land? Wer sind sie? Haben sie etwas zu verantworten? Und die Militärführung, zu der es bereits viele Fragen gibt?“ Stimmen, die das Militär und den angeklagten Oppositionsführer, den ehemaligen Präsidenten Poroschenko, vertreten, schossen zurück und kritisierten Arestovych und andere zivile Kritiker. Eine militärische Stimme, die dem Generalstabschef der ukrainischen Streitkräfte, Zalyuzhniy, nahestehen soll, behauptete: „Hunderte von getöteten und verwundeten Männern und Frauen sichern der Elite jeden Tag den leckeren Kaffee im sonnigen Kiew. Jeden Tag. Und heute nach einem Schuldigen unter ihnen zu suchen, ist alles andere als eine gute Idee. Die Schuldigen sitzen nicht in der Armee, auch wenn es einige gibt, die sich etwas zuschulden kommen lassen, die Schuldigen sitzen in den hohen Ämtern, die die Haushaltspolitik gestalten und bestimmen, wer in Schlüsselpositionen dient.“ Ein ukrainischer Journalist sagte voraus, dass die Konsequenzen für die Kritiker „verheerend“ sein würden, wenn das Präsidialamt weiterhin das Militär kritisiere.

Anfang Juni gab es zwischen Selenskyj und dem Kommandeur der ukrainischen Streitkräfte Viktor Zalyuzhniy Meinungsverschiedenheiten über den Zeitpunkt des Rückzugs aus Sewerodonezk und darüber, wo eine neue Verteidigungslinie gegen die russische Offensive in den Gebieten Luhansk und Donezk gebildet werden sollte. Selenskyj verlangte, dass die Armee so lange wie möglich in Sewerodonezk ausharren und eine Verteidigungslinie in der Nähe der Stadt bilden solle – die Gefahr missachtend, dass Tausende von Soldaten eingekesselt werden könnten, während Zalyuzhniy den Rückzug forderte, um eine Verteidigungslinie zu bilden, die in Nord-Süd-Richtung durch Kramatorsk verläuft.

Die Spannungen innerhalb der politischen und militärischen Elite werden zur Krise

Die zivile Führung wird zudem durch Überläufer und Korruption in den Geheimdienst- und Strafverfolgungsorganen geplagt. Am 17. Juli entließ Selenskyj den Leiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes (SBU), Iwan Bakanow, und die ukrainische Generalstaatsanwältin Irina Venediktowa, die er angeblich für die zahlreichen Überläufer von Sicherheits- und Strafverfolgungsbeamten nach Russland verantwortlich machte. Er gab bekannt, dass „651 Strafverfahren wegen Hochverrats und Kollaboration durch Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, der Ermittlungsbehörden und anderer Strafverfolgungsbehörden registriert wurden. In 198 Strafverfahren wurden Personen als verdächtig eingestuft, und mehr als 60 Mitarbeiter der Organe und des SBU sind in den besetzten Gebieten geblieben und arbeiten gegen unseren Staat.“ Die Entlassungen waren offenbar eine Reaktion auf das, was Selenskyj als „eine Reihe von Verbrechen gegen die Grundlagen der nationalen Sicherheit des Staates und die festgestellten Verbindungen zwischen den Mitarbeitern der Strafverfolgungsbehörden der Ukraine und den Sonderdiensten Russlands“ bezeichnete. Bakanovs Assistent und ehemaliger Leiter des Krim-SBU Oleg Kulinich wurde wegen Spionage verhaftet (siehe auch hier und hier). Am 20. Juli entließ Selenskyj den stellvertretenden Leiter des SBU und die SBU-Regionalleiter in Charkiw, Sumy und Poltawa. Die Schwere dieser Krise kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bakanow und Selenskyj sind Freunde, die aus demselben Viertel in der Stadt Kryvyi Rih stammen. Bakanow leitete damals Selenskyjs Unterhaltungsunternehmen sowie seine Präsidentschaftskampagne im Jahr 2019. Dann ernannte Selenskyj Bakanov zum Leiter des SBU im Jahr 2019. Möglicherweise sind zumindest einige dieser Entlassungen das Ergebnis einer fehlgeschlagenen Geheimdienstoperation, mit der mehrere russische Piloten davon überzeugt werden sollten, mit ihren Kampfflugzeugen überzulaufen, wofür sieben russische Militärangehörige festgenommen wurden, wie am 25. Juli bekannt gegeben wurde. In den russischen Berichten wird behauptet, dass bei den Gesprächen der ukrainischen Geheimdienstmitarbeiter mit den russischen Piloten, die offenbar vom russischen Geheimdienst überwacht wurden, der Standort, die Struktur und andere Einzelheiten des ukrainischen Luftabwehrsystems an Russland weitergegeben wurden. Das meiste ist jedoch das Ergebnis der Überläufer nach Russland, wie Selenskyj feststellte; etwas, das kaum als Alibi für die gescheiterte Operation oder etwas anderes herhalten kann, da es seine Regierung, wenn nicht sogar das ganze Maidan-Regime, stark diskreditiert.

Ausländische Akteure, vor allem die Vereinigten Staaten, können das polarisierte Schachspiel auf mehreren Ebenen, zu dem sich die ukrainische Politik in der Hitze dieses Krieges entwickelt, zusätzlich verkomplizieren. Am 8. Juli, weniger als drei Wochen vor den Entlassungen der SBU und anderer Silowiki (prominente Vertreter des Militärs und der Geheimdienste, Red.), forderte die ukrainische US-Kongressabgeordnete Victoria Spartz die Biden-Administration auf, „den Kongress bei der für den 12. Juli 2022 anberaumten geheimen Kongressbesprechung über die durchgeführten Sorgfalts- und Aufsichtsverfahren in Bezug auf den Stabschef von Präsident Selenskyj, Andriy Yermak, zu informieren. Aufgrund einer Vielzahl von Informationen und Handlungen von Yermak in der Ukraine muss der Kongress diese Informationen dringend erhalten.“ Spartz betonte, dass Yermaks Aktivitäten „bei einer Vielzahl von Menschen in den Vereinigten Staaten und international Besorgnis erregen“, obwohl Yermak von Bidens nationalem Sicherheitsberater Jake Sullivan „hoch angesehen“ ist. Spartz‘ Verweis auf „nachrichtendienstliche“ Maßnahmen, die angeblich von Yermak ergriffen wurden, deutet darauf hin, dass Selenskyjs Stabschef verdächtigt werden könnte, die Sicherheit zu gefährden oder gar direkt zu untergraben, auch im Zusammenhang mit der Operation zur Kooptation russischer Luftwaffenpiloten mitsamt ihren Flugzeugen. Es sei daran erinnert, dass ähnliche Vorwürfe gegen Yermak erhoben wurden, als die Bemühungen des ukrainischen Geheimdienstes, russische Wagner-Kämpfer auf dem Weg nach Syrien gefangen zu nehmen, im Jahr 2021 schiefgingen und sie stattdessen in Weißrussland „festgenommen“ wurden, nachdem Selenskyj die Operation abgebrochen und Yermak die weißrussischen Behörden über die Anwesenheit der Wagner-Leute in ihrem Land informiert hatte.

Zusätzlich zu den Spannungen zwischen Bürgern und Silowiki und den schwerwiegenden politischen Folgen des Verbots von mehr als zehn politischen Parteien und vermutlich allen mächtigen Oligarchen der Ukraine hat sich Selenskyj eine neue Gruppe von Feinden geschaffen, als er Pläne ankündigte, die in diesem Jahr umgesetzt werden sollen, um die ukrainische Staatsbürokratie um zwei Drittel zu reduzieren. Dadurch werden Hunderttausende verbitterter Beamter mit detaillierten Kenntnissen über die Organisation, Funktion und Finanzierung des Staates arbeitslos und auf der Suche nach Arbeit auf die Straße gesetzt, und das in einem vom Krieg zerrütteten Land, in dem ein Mobilisierungsgesetz gilt, das alle arbeitsfähigen männlichen Bürger zum Dienst in den Streitkräften verpflichtet, wobei ein Gesetz zur Einbeziehung von Frauen in diese Verpflichtung angeblich noch aussteht. Diese Ausgestoßenen unterhalten weiterhin Kontakte zu ehemaligen Kollegen in der Bürokratie und können Intrigen spinnen, um Selenskyj, seine Politik und das Regime selbst zu untergraben.

Ein neuer Putsch ist nicht auszuschließen

Auch wenn es vielleicht noch zu früh ist, um auf ein hohes Maß an Spannungen zwischen Zivilisten und Silowiki zu schließen, kann man das Gleiche nicht über den politischen Kampf zwischen Selenskyj und dem ehemaligen Präsidenten Poroschenko sowie mit anderen Oligarchen sagen. Poroschenko könnte ein besonders gefährlicher Gegner sein. Er hatte gute Beziehungen zu Biden, als dieser US-Vizepräsident war und Obamas Ukraine-Politik leitete, und ist in die Enge getrieben, nachdem er angeklagt wurde und ins Ausland fliehen musste. Seine Anhänger aber sind im Land, und Selenskyjs dünne Unterstützung und die Säuberung der politischen Landschaft haben eine Fülle von Feinden geschaffen, die Poroschenko für sich gewinnen oder aufkaufen kann. Eine Verschärfung des Konflikts zwischen Selenskyj und Poroschenko könnte General Zalyuzhniy auf den Plan rufen. Er hat gute Kontakte zu Washington und Brüssel, die eines Tages Selenskyj überdrüssig werden könnten, wenn sich der Krieg hinzieht. All dies könnte zu einer explosiven Dynamik führen, wenn sich die Lage an der Front für die Ukraine weiter verschlechtert. Hinzu kommt der pro-russische Faktor (im weitesten Sinne, der eine pro-russische Sprach-Regelung, den Anspruch der russischen Ethnie auf ein Recht, in der Ukraine zu leben und sie mitzugestalten, sowie die generelle pro-russische Mentalität umfasst), der durch die Verhaftung des pro-russischen Oppositionsführers Medwedtschuk noch verstärkt wurde. Und es besteht die reale Gefahr, dass sich der Zusammenbruch des Landes durch einen Putsch oder eine Revolution in kriegsführende Fraktionen wiederholt, wie es nach 1917 geschah. In diesem Fall könnten die Regionen unter die Kontrolle moderner Kriegsherren geraten, die diese verschiedenen Strömungen repräsentieren und von Oligarchen und verschiedenen externen Interessenten unterstützt werden.

Hinzu kommen das eigene Spiel der Neofaschisten mit der nationalen Revolution und ihre Wut über den Tod und die Gefangennahme des Kerns des neofaschistischen Asow-Bataillons sowie die anhaltenden Verluste auf dem Schlachtfeld im Allgemeinen. Arestovych spielte bewusst oder unbewusst auf diese neofaschistische revolutionäre Bedrohung an, als er im Mai das „nicht so kluge Narrativ: ‚Helden auf dem Schlachtfeld gegen Verräter im Büro (des Präsidenten) und fette, dicke Generäle in den Stäben'“ bemerkte.

Darüber hinaus wird das ukrainische BIP in diesem Jahr um fast 50 Prozent schrumpfen und ein Viertel der ukrainischen Unternehmen musste schließen, da Russland die Kohle, die landwirtschaftlichen Flächen und die Seehäfen des Landes beschlagnahmt hat, die etwa 60 Prozent der ukrainischen Wirtschaft ausmachen. Es wird viel über die Energiekrise in Europa und Amerika geschrieben, während der Sommer in den Herbst übergeht und die Temperaturen zu fallen beginnen. Weniger Aufmerksamkeit wurde den Folgen der Energiedefizite in der Ukraine selbst gewidmet. Das vom Krieg zerrissene Land wird mit Sicherheit von russischem Gas, Öl und Kohle abgeschnitten sein, und seine eigene Kohle im Donbass ist unter russischer Kontrolle. Der Energiesektor des Landes steht kurz vor der Zahlungsunfähigkeit, da Privat- und Geschäftskunden nicht in der Lage sind, ihre Rechnungen zu bezahlen. Ein frierendes, hungriges Volk, das einen Krieg verliert, wird geneigt sein, Selenskyj und dem „demokratischen“ Maidan-Regime die Schuld zu geben und weniger wünschenswerten Führern zu folgen. Sie werden für Demagogen empfänglich sein, und die allzu zahlreichen ukrainischen Neofaschisten könnten die richtige Wahl sein. Letztere sind heute noch besser bewaffnet als vor dem Krieg und werden im Inland und im Westen als Helden gepriesen, die Asowstal‘, Mariupol, Kiew und Charkiw verteidigt haben. Die ukrainische Freiwilligenarmee des neofaschistischen Rechten Sektors der Ukraine (erstere wird vom Berater von Zalyuzhniy, Dmitro Yarosh, befehligt, letzterer wurde von ihm gegründet), das Nationale Korps (unter der Führung des Gründers von Asow, des Neofaschisten Andriy Biletskiy) und andere ultranationalistische und neofaschistische Gruppen opfern sich weiterhin an der Front auf, ganz im Gegensatz zu denen, die in Kiew Kaffee schlürfen und Fotoshootings in westlichen Hochglanzmagazinen für Frauen machen, wie es die Selenskyjs gerade getan haben.

Das kurze Fazit

Abschließend lässt sich sagen, dass es deutliche Anzeichen dafür gibt, dass der russisch-ukrainische Krieg das hybride republikanisch-oligarchisch-ultranationalistische Maidan-Regime destabilisiert – ein Regime, das von Anfang an von politischen, ideologischen und oligarchischen Flügelkämpfen zerrissen war. Unterhalb der Spitze des quasi-republikanischen Regimes des Maidan, das von einem wenig populären Frontmann angeführt wird, lauern bösartige Kräfte aus oligarchischer Korruption und Kriminalität sowie aus radikalem Nationalismus und Neofaschismus. Der Krieg überdeckte vorübergehend die internen Spaltungen der herrschenden Gruppen und vereinte sie trotz ihrer vielfältigen Interessen, Ziele und Konflikte. Im Laufe der Zeit werden der Krieg und der langsame Niedergang des ukrainischen Militärs jedoch den dünnen Mantel des Pflasters, der diese Gruppen in ihrem Kampf gegen die Russen vereint, abtragen. Gleichzeitig machen Korruption, Kriminalität und Multinationalität in der Ukraine das Maidan-Regime anfällig für eine Unterwanderung durch den russischen Staat. Darüber hinaus verschärft der Krieg zusammen mit dem begrenzten Engagement der ukrainischen Elite für eine republikanische Regierung das konfliktreiche Umfeld und die politische Kultur des Landes. Die ukrainische Kultur, die aus konkurrierenden und zunehmend gewalttätigen oligarchischen und ultranationalistischen Clans besteht, wird mit zunehmender Wahrscheinlichkeit zu wachsender innerstaatlicher Gewalt und politischen Umwälzungen führen. Dieser Trend wird sich mit besonderer Heftigkeit verstärken, wenn der Krieg eindeutig verloren ist und der Westen beginnt, die ukrainische Sache aufzugeben oder verzweifelt versucht, sie durch eine entscheidende politische Intervention wie einen Putsch zu retten. Zahlreiche Putsch- oder Revolutionsszenarien sind jetzt schon absehbar, und man sollte für alle Eventualitäten gerüstet sein.

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Gordon Hahns Analyse ist erschienen erstmals auf seiner eigenen Website. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.