Ukraine: Die Meinungs-Einfalt hat sich durchgesetzt

Am 22. März kam im Tagesgespräch des Schweizer Radios SRF1 der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck zu Wort. Er wünscht sich weniger altmodische Neutralität der Schweizerinnen und Schweizer. Stattdessen sollen sie mehr Gefolgschaft gegenüber der EU und der NATO leisten. Selbstverständlich sagt der rhetorisch äusserst gewandte evangelische Theologe dies nicht so unverblümt, sondern verpackt es in ein diplomatisches Kauderwelsch:  «Zwar ist die Bindung an die nationale Tradition immer noch eine gut funktionierende, doch für meinen Geschmack schon ein wenig überholte Form, identitätsprägend zu sein.» 

Es gebe nämlich «höhere Werte» als nur «die traditionelle Form der inneren Beheimatung» Auf gut Deutsch: Die Schweiz soll auf ihre traditionelle Neutralität pfeifen und die Munition für den Gepard-Panzer zur Weitergabe freigeben. Und dieses Gemahnen an «höhere Werte» möge – Gott bewahre – keine Weisung von Gauck an die Regierung in Bern sein, sondern, wie er betont, ein «Herzenswunsch».

Gauck fordert seit langem, Deutschland müsse der Regierung in Kiew schwere Waffen liefern. Was nicht erstaunlich ist, hat er doch in seiner Zeit als Bundespräsident stets betont, die Bundesrepublik müsse die «Kultur der militärischen Zurückhaltung» aufgeben und als Global Player auch an militärischen Einsätzen teilnehmen. Meist tönte in diesem Zusammenhang die Parole vom weltweiten «Kampf gegen den Terrorismus». Auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Januar 2014 hatte Gaukk bereits den Anspruch angemeldet, die Bundesrepublik müsse «von einem Nutzniesser zu einem Garanten internationaler Sicherheit und Ordnung» werden. Dass internationale Sicherheit und Ordnung in militärischer Gefolgschaft der USA und der Nato herzustellen seien, versteht sich für Gauck von selbst. Was in Afghanistan, aber auch in Einsätzen der Bundeswehr in Syrien und Mali bereits ausgiebig geübt wurde. Die Resultate sind in diesen Ländern zu besichtigen.

Gauk wird nicht müde, von den «gemeinsamen Werten» zu reden. Und er ist in diesen Tagen nicht der einzige. Der Verweis auf «unsere Werte», die wir in der Ukraine zu verteidigen haben, ertönt seit dem russischen Einmarsch in westlichen Medien wie ein brausender Chorgesang.  Wer auch immer Waffenlieferungen an die Regierung in Kiew fordert, von ehemaligen linken Armee-Abschaffern wie Cédric Wermuth bis zum FDP-Präsidenten Thierry Burkhart, die «wertebasierte Weltordnung» scheint moralischer Imperativ und Antrieb jeglichen Handelns geworden zu sein. 

Wer in der Sprechblase nach etwas Konkretem sucht, findet gesprengte Gaspipelines und Leopard-Panzer. Der Wert der Rheinmetall-Aktie hat sich nach Kriegsbeginn verdoppelt (und bis heute verdreifacht, Red.). Deutschland baut Terminals für Fracking-Gas aus USA. Kriege wurden selten um moralische Werte geführt, sondern meist um wirtschaftliche und geopolitische Interessen. 

Die moralischen Werte und besonders die «Menschenrechte» werden jedoch routinemässig aus der ideologischen Werkzeugkiste geholt, wenn es massive Interessen zu kaschieren gilt. Haben wir dem Irak Panzer geliefert, als er 2003 von den NATO-Staaten angegriffen wurde? Wo war da unsere «wertebasierte Weltordnung»? Wo war sie, als die NATO den Staat Libyen in Grund und Boden bombardierte? 

Müssten wir «moralischen Menschen» den Palästinensern nicht schwere Waffen liefern, nachdem die Vereinten Nationen ein ums andere Mal die Besatzungspolitik Israels verurteilen? Hätten wir schwere Waffen nach Guatemala, Chile, Panama, Vietnam liefern sollen, als die USA diese Länder angriffen und destabilisierten? Mussten wir dem jemenitischen Volk nicht Flugabwehrgeschütze liefern gegen die saudischen Luftangriffe? Wo waren unsere Werte und unsere Menschenrechte in hundert anderen Konflikten rund um den Erdball? Die Antwort lautet: Die USA und ihre NATO-Verbündeten ziehen  Menschenrechte und Werte nur dann aus dem Ärmel, wenn es ihren Interessen dient. Die Ideologie, ethnische Konflikte auf dieser Welt seien zu lösen, indem man die einen als Täter und die andern als Opfer deklariert und letzteren Panzer liefert, ist eine Ideologie von enormer Stupidität. 

Der österreichische Historiker Hannes Hofbauer zeichnet in seiner Studie «Experiment Kosovo» nach, wie die Zerschlagung des damaligen jugoslawischen Bundesstaates in den 1990er Jahren von statten ging. Einer der auslösenden Faktoren war ein unerhörter Affront gegen den Westen: Der serbische Präsident Slobodan Milosevic liess im Januar 1991 Dinar im Wert von 1,8 Milliarden Dollar drucken, um Löhne und andere Sozialausgaben zu zahlen. Er brachte damit das Austeritätsprogramm des Internationalen Währungsfonds zu Fall.

Hofbauer resümiert: «Der Krieg war intendiert. Mehr als lokale Nationalisten glaubten auswärtige Kräfte daran. Und sie fanden die passende philosophische Rechtfertigung. Menschenrechte bzw. ihre Gefährdung, so tönte es allenthalben ab 1989, dem Zeitpunkt des Zusammenbruchs osteuropäischer, von kommunistischen Parteien regierten Gesellschaften, würden nach Einmischung verlangen. Die Schwammigkeit des Menschenrechtebegriffes machte es seinen Anwendern leicht, darunter all das zu verstehen, was man sich als gut und teuer imaginieren konnte. Die damit geführte Diskussion um Werte liess eine Debatte um Interessen nicht zu, ja, verhinderte sie sogar.» (Experiment Kosovo, S.74)

Die Rede war plötzlich, so Hofbauer, vom «humanitären Krieg», der geführt werden müsse. Es ging in Wirklichkeit um das Interesse der westeuropäischen Industriestaaten an dem Balkan als einem grossen Markt. Es ging um freien Verkehr von Waren, Kapital und Arbeitskräften.

Der ehemalige Pfarrer Joachim Gauck redet heute vom barmherzigen Samariter aus der Bibel, der dem armen Mann hilft, der unter die Räuber gefallen war. Gleichermassen sei es ein Gebot der Nächstenliebe, der angegriffenen Ukraine zu helfen. Den Konflikt in der Ukraine in ein Täter-Opfer-Schema zu pressen, ist ein verblüffender ideologischer Kurzschluss, der desungeachtet mittlerweile landauf landab Glaubenssatz der Waffenlieferer geworden ist.

Ob es ihnen gefällt oder nicht: Es gibt seit 2014 nicht «die Ukraine», sondern zwei Ukraine, die sich bekämpfen. Folglich hat Russland nicht «die Ukraine angegriffen», sondern die Regierung in Kiew, welche ihrerseits die Ostukraine seit 2014 militärisch angreift. Dass mehrere Millionen Menschen im Donbass und auf der Krim den von den USA gesponserten Umsturz 2014 nicht akzeptieren wollten und Widerstand leisteten, ist ausführlich dokumentiert. Wer argumentiert, dass sie völkerrechtlich dazu nicht legitimiert seien, müsste erklären, warum die westliche Politik zum Beispiel im Kosovo den Aufstand der Opposition gegen eine Zentralregierung als legitim ansah und diesen Aufstand militärisch unterstützte.

Die verquere «Logik», die dem innewohnt, erscheint in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit bei einem Vergleich mit dem Krieg in Syrien. Dort hatten der Westen und die ihm zugewandten Medien das Bühnenstück genau umgekehrt – mit vertauschten Rollen – inszeniert: Die syrische Regierung wurde als Täter, die von Katar, Saudi-Arabien und dem Westen finanzierten Angreifer wurden als Opfer dargestellt. Gegen den syrischen Aufstand, der von den Nachbarländern und den Regierungen des NATO-Pakts mit Milliarden Dollar unterstützt wurde, bat die syrische Regierung die UNO um Hilfe. Sie wurde in Washington und New York ausgelacht.   

Das Leiden der aufständischen «Rebellen» wurde ab 2011 in hunderten von Medienbeiträgen ausgemalt. Über das Leid der Millionen von Syrerinnen und Syrern, die zur Assad-Regierung hielten, herrschte dröhnendes Stillschweigen. Die Soldaten der syrischen Armee erschienen in unseren Medien nur als Giftgasmörder und Monster.

In der Ukraine gelten nun andere westliche Interessen und folglich die umgekehrte «Moral». Die Soldaten der ukrainischen Armee sind tagtäglich Helden des Befreiungskampfes. Dass sie nicht nur auf Russen, sondern auch auf Ukrainerinnen und Ukrainer schiessen, ist kein Thema, denn es darf ja keinen wirklichen und legitimen Aufstand im Osten geben: Folglich gibt es ihn nicht.

Eine Zeitung wie der Zürcher Tagesanzeiger beliefert uns nun seit dem russischen Einmarsch tagtäglich mit Berichten darüber, wie die Bevölkerung der Ukraine unter den russischen Angriffen leidet. Kein Wort darüber, wie die Menschen im Donbass unter den Granaten der Kiewer Armee leiden. 

Die stupende Performance, von zwei Seiten in einem Bürgerkrieg konsequent über Jahre hinweg nur eine Seite zu sehen, verlangt eine enorme Anstrengung.  Eine Anstrengung und eine Willenskraft, die nur aus einer allmächtigen Ideologie kommen können. Da hat sich die «öffentliche Meinung» auf die fiktive Prämisse geeinigt, die Welt habe es mit einem absolut Bösen zu tun, und alle Mittel seien in den Dienst der Vernichtung dieses absolut Bösen zu stellen. 

In dieser Wahnvorstellung werden nicht nur Informationspflicht der Medien und professionelles journalistisches Ethos auf den Müll geworfen, sondern auch Recht und Gesetz so lange verbogen, bis sie in die Kampfstiefel der hehren moralischen Mission passen. Es soll endlich Schluss sein mit Hinweisen auf geltendes Recht.

NZZ-Chefredaktor Eric Gujer formuliert es auf seine Weise: «Die uferlosen juristischen Debatten führen in die Irre. Im Zentrum steht nicht die Jurisprudenz, sondern die Politik und damit die Frage, welches Bild die Schweiz im Ausland abgeben will.» Die Devise lautet also:  Was scheren uns Grundgesetz und Neutralität, wenn es nicht mit unserer «Realpolitik» übereinstimmt. 

Der ehemalige deutsche Bundespäsident Gauck offenbart im Radiointerview einen schweren Realitätsverlust, wenn er sagt: «Putin ist realistisch genug, dass er weiss, dass die Menschen, die auf demokratischen Werten bestehen, ihn ablehnen und ihn bekämpfen.» 

Sollte dem 83jährigen Gauck entgangen sein, dass die meisten Staaten der drei Kontinente Afrika, Asien und Lateinamerika weder Putin bekämpfen noch bereit sind, der neuen Koalition der Willigen in den Konflikt mit Russland zu folgen. Welch unerhörte Arroganz spricht aus der Definition, die «demokratischen Werte» seien nur denen zu eigen, die im Ukraine-Konflikt im Gleichschritt mit EU und Nato marschieren. 

Der Radio-Moderator, der Gauck interviewte, bemerkte wahrscheinlich nichts von diesen Widersprüchen. Oder er bemerkte sie und hatte nicht die Courage, einem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten zu widersprechen. 

P.S. der Redaktion: Zum Glück gibt es auch deutsche Theologen, die die geopolitische Lage aus christlicherer Sicht beurteilen als der ehemalige Theologe und Bundespräsident Joachim Gauck. Am Samstag, 1. April, spricht um 16 Uhr im St. Leodegar-Saal (Hofkirche) in Luzern der bekannte deutsche Theologe und Friedensaktivist Dr. Eugen Drewermann, organisiert von www.avenir50plus.ch, wo man sich auch anmelden kann: anlass@avenir50plus.ch. Es dürfte ein interessanter Nachmittag werden – mit anschliessendem Apéro.

P.S.2: Hier der Link auf den Vortrag von Drewermann.