Heinrich Böll, 1917-1985, 1972 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, war ein erklärter Gegner der NATO-Nachrüstung und nahm 1983 an einer Sitzblockade des Raketenstützpunktes auf der Mutlanger Heide teil. Die Heinrich-Böll-Stiftung steht indessen der Partei Bündnis 90/Die Grünen nahe, deren prominenteste Vertreterin Annalena Baerbock Deutschlands heutige Aussenministerin ist – und die sich vehement für die Lieferung von Waffen in die Ukraine einsetzt ...

Ukraine: Der Hurra-Militarismus und die Verachtung der Friedfertigkeit

Wann hat der Krieg begonnen? 2022? 2014? Im Kosovo oder in Syrien? Oder ist er gar Teil sozialen Lernens seit unserer Kindheit? 

Im April 2022 sagte der ukrainische Fotograf Alexey Furman, er dokumentiere den Krieg in der Ukraine seit vielen Jahren. «Der Krieg hat nicht am 24. Februar begonnen, sondern vor acht Jahren.»

Hat der Krieg vor acht Jahren angefangen oder hat er nicht viel früher in unseren Köpfen angefangen? Aufschlussreich ist ein Artikel des Zürcher Tagesanzeigers mit dem Titel «Verdammt zum Nichtstun» (28.7.2022). Da beklagen sich Ukrainer, dass sie nicht kämpfen dürfen. Denn das ukrainische Verteidigungsministerium rekrutiert derzeit vor allem Männer, die seit 2014 im Donbass Erfahrungen im Kampf gegen Separatisten gesammelt haben, die von Russland unterstützt werden. 

Millionen würden gern an die Front gehen, heisst es da, aber ihr Land brauche sie nicht. Man habe sie wieder heimgeschickt. Deshalb fühlen sie sich diskriminiert und deprimiert. Als Feiglinge und Versager verachtet: «Ein Leben im Schatten». Kein Leben im strahlenden Licht der Uniformen und der Waffen. Da kommt eine Mentalität zum Vorschein, die mehr will als ein gewöhnliches Leben im Frieden.

Der deutsche Schriftsteller Heinrich Böll, der im Zweiten Weltkrieg als einfacher Soldat mehrmals verwundet wurde, war wohl der erste deutsche Intellektuelle, der nach dem Krieg einem französischen Journalisten Rede und Antwort stand. Böll sagt dort Sätze, die für viele junge Kriegsfreiwillige schockierend klingen mögen:

«Der Krieg hat mich gelehrt, wie lächerlich die Männlichkeit ist. Hätte es keinen Krieg gegeben, dann hätte ich wahrscheinlich diese Lächerlichkeit in irgendeinem Beruf entdeckt. Sagen wir, ich wäre Lehrer oder Angestellter in einem Betrieb; meine Kollegen, fast alle lächerlich in ihrer Männlichkeit, in ihrer Wichtigtuerei und ihrem Gerede. Das klingt jetzt sehr böse, weil ja Männer im Krieg auch einiges mitmachen, sie sterben, sie werden verwundet. Und trotzdem hat mich der Krieg in seiner Lächerlichkeit, in seiner absurden Lächerlichkeit, zum Verächter des Mannes gemacht.» 

Der Schriftsteller aus einer katholischen Familie des Rheinlandes erklärt in diesem langen Interview (Heinrich Böll: Eine deutsche Erinnerung), ausführlich, wie er zu seiner Haltung gekommen ist. Seine Erfahrungen erinnern an ähnliche Beobachtungen im Ersten Weltkrieg. Der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell schreibt in seinen Memoiren über den Sommer 1914, es habe ihn mit Grauen erfüllt zu sehen, dass etwa neunzig Prozent der Bevölkerung eine Art Vorfreude auf den Krieg fühlten: «Ich musste meine Ansichten über die menschliche Natur revidieren.»  

Sigmund Freud schrieb an Albert Einstein, dass eine mit dem Selbsterhaltungstrieb verbundene menschliche Aggressionsfähigkeit vorhanden sei, die nutzbar gemacht werden könne, um Menschen für den Krieg zu begeistern. Die übergrosse Mehrheit der Leute bedürfe ausserdem einer «Autorität, welche für sie die Entscheidungen fällt, denen sie sich meist bedingungslos unterwerfen.» Er schloss seinen Brief mit den Worten: «Wie lange müssen wir nun warten, bis auch die anderen Pazifisten werden? (…) Vielleicht ist es keine utopische Hoffnung, dass der Einfluss der beiden Momente, der kulturellen Einstellung und der berechtigten Angst vor den Wirkungen eines Zukunftskrieges, dem Kriegführen in absehbarer Zeit ein Ende setzen wird.» 

Der israelische Historiker Shlomo Sand verwendet für die soziale Konditionierung den Begriff «implantiertes Gedächtnis» und erklärt: «Wir alle werden in ein Universum von Diskursfeldern hineingeboren, das die ideologischen Machtkämpfe früherer Generationen geformt haben. Noch ehe sich der Geschichtswissenschafter das Rüstzeug zu einer kritischen Hinterfragung aneignen kann, formen all die Geschichts-, Politik- und Bibelstunden in der Schule, die Nationalfeiertage, Gedenktage, öffentlichen Zeremonien, Strassennamen, Mahnmale, Fernsehserien und sonstigen Erinnerungssphären seine Vorstellungswelt. In seinem Kopf liegt ein riesiger Brocken ‘Wahrheit’, den er nicht einfach umgehen kann.» (Shlomo Sand. Die Erfindung des jüdischen Volkes)

Dieser riesige Brocken «Wahrheit» ist es, der unseren Blick auf die komplexen Ursachen des Krieges verstellt. Wir nehmen nicht wahr, dass Menschen für den Krieg dressiert werden. Sie lernen, Krieg zu befürworten. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die Akzeptanz des Krieges oder zumindest die affirmative Haltung gegenüber dem Krieg in uns allen als soziale Lektionen tief verankert sind. In den achtziger Jahren habe ich für die linksrevolutionäre FMLN-Guerrilla im Bürgerkrieg in El Salvador gearbeitet und beobachten können, wie stark junge Männer und Frauen von Waffen und Krieg fasziniert sind. Es ging vordergründig immer um die Legende vom «Kampf für die gerechte Sache». Die meisten legten sich kaum Rechenschaft ab über ihre fundamentaleren Motive: die Mutproben als Stärkung des Selbstwertgefühls, die Flucht vor privaten Problemen oder einer Sinnleere des Alltags, die Erwartung von sozialem Ansehen und Geborgenheit in stabilen militärischen Strukturen, der Respekt vor Autoritäten und die romantische Hoffnung auf die Erfahrung der vielbeschworenen Kameradschaft im Kampf. Viele von ihnen merkten zu spät, dass auch zwischen dem eigenverantwortlichen, freien Denken und dem militärischen Prinzip von Befehl und Gehorsam ein Widerspruch besteht.

Der Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm kommt in seinem Versuch, Ursachen der beiden Weltkriege zu ergründen, zu dem Schluss, dass der Krieg auf pervertierte Art als soziale Wohltat empfunden werden kann:

«Der Krieg bewirkt bis zu einem gewissen Grad eine Umwertung aller Werte. Er bewirkt, dass tiefeingewurzelte menschliche Impulse wie Altruismus und Solidaritätsgefühl zum Ausdruck kommen – Impulse, die durch den Egoismus und den Konkurrenzkampf des modernen Menschen in Friedenszeiten unterdrückt werden. Klassenunterschiede verschwinden ganz oder doch in beträchtlichem Mass. Im Krieg ist der Mensch wieder Mensch und er hat die Chance, sich auszuzeichnen (…) Dass der Krieg diese positiven Züge aufweist, ist ein trauriger Kommentar zu unserer Zivilisation.» (Erich Fromm. Anatomie der menschlichen Destruktivität. S.241) 

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine zelebrierten unsere Medien die «Bewaffnung des ukrainischen Volkes» für den Widerstand gegen die Russen. Da waren die Zeitungen voll von Coiffeusen, Automechanikern, Dozentinnen oder Studenten, die mit einer Kalaschnikow vor der Kamera posierten. Das Arrangement erinnerte fast ein bisschen an die Ethno-Photographie, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts native Stammeskrieger in den USA darstellte. Manche trugen eine Flinte und einen Zylinderhut. Die Widerstandskämpfer der First Nations wurden am Ende im Showbusiness vermarktet. William Frederick Cody, genannt Buffalo Bill, gastierte mit seinem Indianer-Zirkus unter anderem in München und Bremen.

«Bevölkerung bewaffnet sich: ‘Wir werden die Russen besiegen’» titelte die Pendlerzeitung ‹20minuten› am 26. Februar nach dem russischen Angriff. Und in Deutschland konnte ‹Die Zeit› nicht der Versuchung historischer Zitate widerstehen: «Zu den Waffen» titelte das Blatt am 7. März, und man hörte unwillkürlich die Marseillaise: «Aux armes citoyens, formez vos bataillons».

Die Vorstellung vom einfachen Volk, das sich in Waffen gegen die Tyrannei erhebt, ist Teil unserer Kulturgeschichte und unserer sozialrevolutionären Mythen. Vom Sturm auf die Bastille bis hin zum Sturm der Bolschewiki auf den Winterpalast ist der Aufstand der Massen ein ideologisches Versatzstück, das linke und rechte Revolutionäre bis heute kultivieren. Oft übersehen sie dabei, dass bei derlei historischen Revolutionen viele andere politische Faktoren mehr Gewicht hatten als die reine Effizienz der Waffen an einem Tag in der Geschichte.

Mit fortschreitender Entwicklung der Waffentechnik vom Kriegshandwerk zur industrialisierten Massenvernichtung im 20. Jahrhundert (Gas und Artillerie) verlor das Konzept der «spontanen Volksbewaffnung» zwar – wie man jetzt wieder sieht – nichts von seiner Symbolmacht, wurde aber bei dem Versuch der praktischen Umsetzung zu einem Experiment mit unsicherem Ausgang.  

Denn der Gebrauch moderner Schnellfeuerwaffen der Infanterie ist eine schwierige Sache, die eine sorgfältige Ausbildung erfordert. Das wird in der Schweiz jedem Rekruten beigebracht. Die Vorstellung, man könne einer Universitätsstudentin oder einem Bäckerlehrling ein Sturmgewehr in die Hand drücken und sie dergestalt bewaffnet an die Barrikaden schicken, ist für jeden Waffen-Instruktor ein Albtraum. Sicher ist nur, dass die Chirurgen in dem Fall viel Arbeit bekommen durch versehentliche Bauchschüsse aus ungesicherter Waffe, vorzeitig explodierten Handgranaten und anderes mehr. 

Der fotografische Hype rund um den «Volkswiderstand» in der Ukraine hat Elemente von Tragödie und von Groteske. Man kann einerseits keinem Menschen den Respekt versagen, der den Mut hat, seine Heimat unter Lebensgefahr zu verteidigen, selbst wenn seine Argumente sich mehr auf Emotionen als auf Fakten stützen. Andererseits sollten Vernunft und Realitätswahrnehmung oberstes Gebot sein, wo es um Leben oder Tod geht. Elite-Einheiten der Infanterie lernen den Häuserkampf mit seinen komplexen taktischen Problemen in einer langen Ausbildung. Es ist daher kalter Zynismus, militärisch unerfahrene Menschen zu bewaffnen und in eine Gefechtssituation zu schicken, in der sie kaum Chancen auf Effizienz oder Überleben haben. 

Jugendliche an einer militärischen Ausbildung in Transkarpatien / Ukraine (Foto Imago)

Die Porträtfotos von Zivilisten mit Sturmgewehren, die unsere Zeitungen füllten, sind Wasser auf die Propagandamühlen der Regierung in Kiew. Da werden Leute als Symbol des Widerstandswillens fotografiert, denen man nicht sagt, dass sie das Material sind, das für einen Betrug gebraucht wird. Sie werden im Wohnzimmer als Heldinnen und Helden fotografiert, draussen auf der Strasse sind sie billiges Kanonenfutter. Dass die westlichen Medien sich an diesen Fotos geradezu berauschen, legt einen erstaunlichen Grad an Menschenverachtung offen. Es sind perverse Fotos.

Sie sind aber nur Teil einer weitaus tieferliegenden ideologischen Grundströmung – oder bildlich gesagt: einer kulturellen Grundwasserverseuchung auf dem gesamten Terrain dieses Konfliktes. Da ist unter der Oberfläche der zivilisatorischen Wertegemeinschaft ein Hurra-Militarismus zum Vorschein gekommen, den man lange überwunden glaubte. Ein Verleger und Verwaltungsratspräsident  von CH Media schreibt, die NATO sei «letztlich feige, weil sie die Ukraine in ihrem Freiheitskampf im Stich lässt.». Man dürfe nicht in die Knie gehen: Denn «wenn man Angst vor einer atomaren Drohung äussert, hat man schon verloren.» Da soll also einmal wieder gekämpft werden bis zum letzten Blutstropfen. Kleinere Masseinheiten sind unbekannt.

Die Medien gleichen einem Chorgesang von Rüstungsexperten. Man überbietet sich gegenseitig mit Ratschlägen, welche schweren Waffen der Ukraine zu liefern seien, um den russischen Aggressor zu stoppen. Die deutschen Grünen im Bundestag zum Beispiel, von denen kaum jemand eine militärische Ausbildung absolviert hat, mutieren im Handumdrehen zu Spezialisten für den Einsatz von Luftabwehrsystemen, Panzerhaubitzen und so weiter. In Zeiten von Cancel Culture ist es auch für sie kein Problem, ihre eigene pazifistische Ostermarsch-Vergangenheit zu löschen. 

Die obsessive Fixierung auf die Frage Kampfpanzer ja oder nein und andere strategische Denkschablonen begraben jede rationale Perspektive auf die komplexe Sachlage. Wer zum Beispiel die nüchterne Frage stellen würde, warum Deutschland verpflichtet sein sollte, einer der  Kriegsparteien Waffen zu liefern, der würde als Vaterlandsverräter oder «nützlicher Idiot des Kremls» gelten.

Arthur Ponsonby, britischer Staatsbeamter, Politiker und Pazifist, publizierte 1928 sein Buch «Falsehood in War-Time», wo er festhält, von 1914 bis 1918 müsse es «mehr Lügen in der Welt gegeben haben als in irgendeiner anderen Periode der Weltgeschichte». Die belgische Historikerin Anne Morelli hat die Studie von Ponsonby analysiert und «zehn Prinzipien der Kriegspropaganda» herausgearbeitet. Zur Nummer vier in dieser Reihe gehört der Propaganda-Lehrsatz: «Wir kämpfen für eine gute Sache und nicht für eigennützige Ziele».

Wenn es irgendeiner Veranschaulichung für diese Propaganda-Täuschung bedürfte, dann sind es die Textbausteine der EU-Politiker seit dem 24. Februar. Der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell redet, als befände sich die EU im Krieg mit Russland aus Gründen der Moral: «Die Welt kann es sich nicht leisten, dass ein starkes Land ein schwaches Land unterdrückt. (…) Das ist eine wesentliche Bedrohung für die EU und wir tun alles, um das aufzuhalten.»

Stets werden hehre Moralprinzipien verkündet, Solidarität mit den Schwachen. Der Westen muss einem kleinen, unterdrückten Land zu Hilfe kommen. Über den weiteren Kontext herrscht Stillschweigen. Kein Wort darüber, dass die USA seit Jahrzehnten die Strategie verfolgen, einen funktionierenden Wirtschaftsraum Russland-EU zu verhindern. Kein Wort zu den bekannten US-Strategiepapieren für eine Destabilisierung Russlands. Kein Wort über die Verteidigung des Dollar als Weltwährung und über den erklärten Willen der USA, ihre Rolle als Weltordnungsmacht zu sichern. Kein Wort über die Interessen der gigantischen westlichen Rüstungsindustrien und ihrer Shareholder.

Der deutsche Dramatiker Rolf Hochhuth hat versucht, die Vorgänge, die unausweichlich in den Ersten Weltkrieg führten, in einem Theaterstück darzustellen: «Sommer 1914. Ein Totentanz». Als Prolog steht dort ein Zitat aus den Memoiren des britischen Aussenministers Lord Grey:

«Es mag manche Wahrheit über die Kriegsursachen gesagt werden, aber die Behauptung, die am meisten Wahrheit in sich hat, ist die, dass der Militarismus und die unzertrennbar damit verbundenen Rüstungen den Krieg unvermeidbar gemacht haben. Die Rechtfertigung, die man zur Verteidigung der Rüstung vorzubringen pflegte, lautete, sie geschähe in der Absicht, den Nationen ein Gefühl der Sicherheit zu geben. In Wirklichkeit hat sie bei allen nur Angst erregt. Angst aber gebiert Misstrauen und Hass.»

Alexander und Margarete Mitscherlich schrieben 1967, der Widerspruch zwischen den Geboten «Du sollst nicht töten» (im Zivilleben) und «Du sollst töten» (im Krieg) sei nicht auflösbar. Er werde akzeptabel gemacht durch moralische Normen, die als Herrschaftsinstrument funktionierten: «Wer Moral durchsetzt, übt erst einmal Macht aus. Dem Sittengesetz ist Gehorsam zu leisten. Am Lebensanfang verlangt das eine äussere Autorität, schliesslich das Gewissen in uns. Kritische Einwände gegen moralische Gebote können uns mit den uns nächsten Menschen entzweien. Angst hält uns häufig genug stärker dazu an, die Gebote zu befolgen. Denn zum Erwerb einer Überzeugung – was sich in einem unbefangenen Abwägen der Alternativen abspielen müsste – ist meist kein Spielraum gelassen.» (Die Unfähigkeit zu trauern S.166) 

Die genannten Widersprüche versucht unsere Gesellschaft – wie so viele andere Widersprüche – mit Medikamenten zu lindern. Aus dem Krieg heimkehrende Soldaten müssen immer öfter therapiert werden. Man hat auch schon einen Namen für die Komplikation gefunden: Posttraumatische Belastungsstörung. 

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Siehe dazu auch: Jetzt machen die Transatlantiker auf «du» (auf Globalbridge.ch)

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