
Essay | Über Belarus schreiben – über Journalismus und den Blick aus Europa
(Red.) Stefano di Lorenzo, der für Globalbridge.ch üblicherweise aus Russland berichtet, ist eben auf einer mehrwöchigen Reise in Belarus. Doch wo sind die Sensationen in Belarus, die es braucht, dass ein Artikel interessant genug ist, gelesen zu werden? Warum interessieren sich die Menschen vor allem für das Außergewöhnliche, für das besondere Ereignis, für die Ausnahme, und nicht für das normale Leben in einem anderen Land, das ja der Realität näher ist als alles Außerordentliche? Genau darüber hat sich Stefano di Lorenzo einige interessante Gedanken gemacht. (cm)
Vor einigen Jahren, als ich versuchte, meine ersten Schritte im Journalismus zu machen, sagte ich einem damals jungen Journalisten, den ich kannte, dass ich eine Reise unternehmen und anschließend eine Reportage schreiben wollte — ich weiß jetzt auch nicht mehr, aus welchem Land. Nennen wir diesen Bekannten Jens. Jens hatte eine der besten Journalistenschulen Deutschlands absolviert und schrieb bereits als Freier für Zeitschriften, die ich damals als sehr vertrauenswürdig und hochwertig betrachtete, etwa DIE ZEIT und DER SPIEGEL. Ich hingegen hatte für ein kleines studentisches Heft geschrieben, von dem nur drei Ausgaben erschienen waren, hatte ein zweimonatiges Praktikum bei der Münsterschen Zeitung gemacht, das enttäuschend, wenn nicht sogar katastrophal verlaufen war (lange Geschichte), sprach Deutsch mit dem Wortschatz und dem Akzent eines Einwanderers aus irgendeinem südländischen Land und war wiederholt bei Bewerbungen für ein Traineeprogramm bei einer britischen Zeitung gescheitert. Ich schrieb nun unbezahlt für eine kleine russischsprachige Lokalzeitung, die niemand kannte. Offensichtlich war Jens im Journalismus weitaus erfolgreicher als ich.
„Du kannst ja keine allgemeine Reportage machen“, sagte Jens, der anscheinend in der Stimmung war, mir Ratschläge zu geben. Ich hatte fast alle Bücher des berühmten polnischen Journalisten Ryszard Kapuściński gelesen und glaubte zu wissen, was eine Reportage ist. Einige Tage zuvor war bekannt geworden, dass Aserbaidschan in einigen Jahren ein großes internationales Sportereignis austragen würde – ich glaube, es handelte sich um die Europaspiele 2015. „Wenn du eine Reportage machst“, sagte mir Jens mit der Autorität seiner Erfahrung, „dann musst du zum Beispiel jemanden finden, dem die Regierung in Aserbaidschan das Haus weggenommen hat, um ein Stadion zu bauen“. Mein Plan war gewesen: Erstmal hinreisen, sich umschauen, viele Eindrücke bekommen, dann eventuell etwas Interessantes finden und darüber schreiben. Aber laut Jens war das kein guter Plan. Ich hätte schon von Anfang an die Idee für eine Geschichte haben sollen. Am Ende machte ich die Reise nicht. Die Ratschläge von Jens hatten mich komplett entmutigt.
Natürlich verstand ich, wie wichtig es ist, eine eindrucksvolle Geschichte zu erzählen, und wie zentral das für den Journalismus ist. Aber ich verstand nicht, warum man sich, wenn ein Land ein großes Ereignis veranstaltet, unbedingt auf eine negative Geschichte konzentrieren muss. Warum sollte man unter Millionen von Einwohnern Aserbaidschans gerade die Familie suchen, der man das Haus weggenommen hat? Ist ihre Geschichte relevanter als etwa die eines Vaters einer jungen Athletin aus Baku, die eine Medaille gewinnt? Oder die eines jungen Liebespaares, das sich anlässlich der Sportveranstaltung kennengelernt hat? Würde die Geschichte der enteigneten Familie – der man, wie anzunehmen ist, eine neue Wohnung zur Verfügung gestellt hat – die Realität des Lebens in Aserbaidschan oder in einem anderen Land besser widerspiegeln als die Geschichte einer Durchschnittsfamilie, die langweilige Geschichte der sogenannten schweigenden Mehrheit?
Ich glaube nicht, dass Jens unbedingt schlecht über Aserbaidschan oder ein anderes Land sprechen wollte. Vielmehr lag es daran, dass das Genre der Horrorgeschichten aus fernen Ländern eines der erfolgreichsten im Journalismus zu sein scheint. Ein fernes, halb unbekanntes Land bietet viele Möglichkeiten, ein zugleich erschreckendes und verführerisches Bild zu zeichnen. Die Normalität zu erzählen ist deutlich langweiliger – und schwieriger. Die Aufgabe, Normalität zu schildern, wirkt nicht besonders spannend. Heute ist es ein Gemeinplatz geworden, dass wir in einer Welt leben, in der Millionen, ja Milliarden von Menschen um Aufmerksamkeit konkurrieren. In einem Kampf um wenige Sekunden, bestenfalls Minuten Aufmerksamkeit geht das Normale schnell unter. Und doch liegt das wahre Wesen der Dinge oft genau in ihrer Banalität. Wenn man heute in Europa über Belarus schreibt oder davon hört, dann nur, wenn es Proteste gegen die Regierung gibt. Über den Alltag in Belarus schreibt niemand. Es ist, als existiere Belarus gar nicht. Und doch ist ein ruhiges Land nicht notwendigerweise ein schlechtes Land. No news is good news, wie man im Englischen sagt.
Laut den Daten des Internationalen Währungsfonds beträgt das kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf in Belarus 33.000 US-Dollar jährlich, womit das Land auf Platz 63 der Welt liegt. Zum Vergleich: Bulgarien, das gemeinhin als das ärmste Land der EU gilt, liegt bei 41.000, Russland bei 45.000, Polen bei 50.000. Natürlich ist es ein wenig traurig, sofort über Geld zu sprechen, wenn man über das Leben in einem Land spricht. Aber wir leben im Zeitalter des homo economicus, in dem die Wirtschaftszahlen über allem stehen. Wenn wir über Lebensqualität sprechen, sprechen wir heute fast ausschließlich über wirtschaftliche Faktoren. Belarus ist eindeutig nicht das reichste Land der Welt, und die meisten europäischen Länder verfügen über mehr finanzielle Mittel. Aber ist das ein Grund, alles über den Haufen zu werfen? Lohnt es sich wirklich, alles im Namen einer abstrakten „demokratischen Alternanz“ zu zerstören? Belarus ist jedenfalls reicher als die EU-Beitrittskandidaten Ukraine und Moldau.
Viele Belarusen scheinen heute – besonders mit Blick auf die Ukraine – verstanden zu haben, dass ihr Land vielleicht doch nicht so schlecht dasteht. Noch vor ein paar Jahren blickten einige junge Belarusen mit Begeisterung und Neid auf die Ukraine, wo Wandel und Revolution möglich schienen. Aber Wandel – wohin? Wandel nur um des Wandels willen? Andere sprachen im Zusammenhang mit den Protesten von 2020 sogar von einem „Bürgerkrieg“. Viele Europäer zeigten sich sehr willig, auf solche Stimmen zu hören und nur auf solche Stimmen zu hören. Doch heute, nur wenige Jahre später, hört man solche Äußerungen in Belarus nicht.
Die belarusische Diaspora, die weiterhin aus dem Exil in Litauen oder Polen gegen das „Regime“ wettert, wirkt – trotz regelmäßiger Treffen mit europäischen Spitzenpolitikern und Einladungen in europäische Institutionen – zunehmend entfernt vom Alltag in Belarus. Natürlich können internationale PR-Agenturen fast jeden in einen charismatischen und unwiderstehlichen Kandidaten verwandeln, aber es muss dennoch ein Bezug zur Lebensrealität der Menschen bestehen. In der virtuellen Welt des Wahlkampfs kann ein gut inszenierter Kandidat vielleicht sogar großen Zuspruch erhalten, aber eine rein künstlich geschaffene politische Karriere zerfällt meist schnell angesichts der realen Probleme des Alltags. Der Kandidat, der am schönsten lächelt und am häufigsten die Worte „Demokratie“ und „Freiheit“ aussprechen kann, ist nicht zwangsläufig der beste Regierungschef.
Aber letztlich bleibt Belarus ein Land an Europas Rand, ein Land wie viele andere. Warum sollte man sich gerade für Belarus interessieren? Noch vor wenigen Jahren hätte kaum jemand geglaubt, dass Europas Zukunft in der Ukraine entschieden würde. Auch viele Ukrainer selbst hielten ihr Land lange nicht in besonderer Achtung, und für viele schien der einzige Traum darin zu bestehen, das Land zu verlassen und sich ein neues Leben in Europa aufzubauen. Aber was, wenn eines Tages Europas Zukunft in Belarus entschieden wird? In dem Fall würde es sich lohnen, ein bisschen mehr über Belarus zu wissen.