Türkisch-israelische Beziehungen knapp vor dem Aus
Anfang Mai hat die Türkei ihre Handelsbeziehungen mit Israel wegen des Gaza-Kriegs ausgesetzt – mit ungeahnten Folgen für die Wirtschaft auf beiden Seiten.
«Alle Export- und Importgeschäfte mit Israel wurden eingestellt. Und zwar für alle Produkte», hiess es in einer Erklärung des türkischen Handelsministeriums am 2. Mai. Dabei veröffentlichte die Regierung in Ankara eine Liste von 54 Produkten, die fortan nicht mehr nach Israel exportiert werden dürften – so beispielsweise Zement, Stahl und Eisen. Die Türkei werde die Massnahmen «strikt und entschlossen umsetzen, bis die israelische Regierung einen ununterbrochenen und ausreichenden Fluss humanitärer Hilfe nach Gaza» zulasse, begründete das türkische Handelsministerium seinen unerwarteten Schritt.
Ungewöhnlich harsche Rhetorik
Der israelische Aussenminister Israel Katz bestätigte kurz darauf, dass die türkische Regierung damit begonnen hatte, israelische Importe und Exporte in türkischen Häfen zu blockieren. Er war über den vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğans initiierten Handelsstopp mehr als empört. «So verhält sich ein Diktator, der die Interessen des türkischen Volks missachtet und internationale Handelsabkommen ignoriert», schrieb Katz auf der Social-Media-Plattform X.
Auch der israelische Wirtschaftsminister Nir Barkat machte keinen Hehl aus seinem Unmut. Israel habe bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Beschwerde gegen die Türkei eingelegt, erklärte Barkat. Und: sein Land erwarte, dass die OECD gegen die Türkei vorgehe. Erdoğans «wahnsinnige Entscheidung» verletze schliesslich das internationale Seerecht, störe die globalen Lieferketten und schade der gesamten europäischen Wirtschaft, so Barkat.
Gaza-Krieg droht die israelisch-türkischen Beziehungen zu zerstören
Der Tonfall zwischen Ankara und Tel Aviv wird umso schriller, je länger der Gaza-Krieg anhält. Die Sprache der Politiker verroht und scheint jedes Mass an Respekt und Anstand zu verlieren. Während israelische Amtsträger den türkischen Präsidenten als «antisemitischen Diktator» verschreien, vergleicht dieser den israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu in aller Öffentlichkeit mit Adolf Hitler und bezeichnet die Hamas als eine «Befreiungsbewegung». Kann der Gaza-Krieg dem aussergewöhnlichen Lauf der türkisch-israelischen Beziehungen den Garaus machen?
Das bilaterale Verhältnis zwischen Israel und der Türkei hatte Mitte der 1990er Jahre ein einmaliges Hoch erreicht. Auf Ermunterung der USA wagten die zwei kulturell und politisch so unterschiedlichen Staaten am östlichen Mittelmeer damals eine «strategische Allianz», die engste Zusammenarbeit im politischen, wirtschaftlichen und militärischen Bereich vorsah. Dank dieser strategischen Allianz gelang es Israel, seine bis dahin eiserne Isolation in der islamischen Welt erstmals zu durchbrechen. Dafür ermöglichte ein Freihandelsvertrag der Türkei den Zugang zum Markt Israels und der USA. Die Allianz im militärischen Bereich erlaubte schliesslich den Transfer von Hightech-Produkten aus Israel für die damals noch unbedeutende türkische Rüstungsindustrie.
Krisen nach dem Wahlsieg der Islamisten
Die ersten tiefen Risse machten sich gleich nach dem Wahlsieg Erdoğans zu Beginn der 2000er Jahre bemerkbar. Erdoğan und seine regierende AKP-Partei sind Kinder des politischen Islam in der Türkei. Das traurige Schicksal der Palästinenser bewegt die Menschen dieser Bewegung seit je tief. Dass Israel die Zwei-Staaten-Lösung sowie jeden Vermittlungsversuch der ersten Erdoğan-Regierungen ablehnte, sorgte in Ankara für Missgunst. Dass die Führungsriege in Erdoğans AKP-Partei der palästinensischen Hamas unverhohlen nahestand, nagte wiederum am Vertrauen der Israelis. Trotz allen politischen Krisen der letzten 25 Jahre blieb allerdings der türkisch-israelische Freihandelsvertrag unangetastet. Das bilaterale Handelsvolumen belief sich letztes Jahr laut offiziellen Angaben auf 6.8 Milliarden Dollar.
Sollte der von Ankara angekündigte Handelsstopp in der Tat jetzt umgesetzt werden und zeitlich länger anhalten, würde dies die Wirtschaft beider Staaten arg treffen: Die türkischen Exporte nach Israel umfassten letztes Jahr 5.4 Milliarden Dollar und die israelischen Exporte in die Türkei 1.6 Milliarden Dollar. Israel hat rund 70 % seiner Baumaterialien aus der Türkei importiert. Die Verbraucher in Israel müssten mit plötzlichen Preiserhöhungen rechnen, kommentierte die regierungsnahe türkische Zeitung «Hürriyet» am Montag. Israel habe jede Warnung aus Ankara von einem Warenverbot als «leer» abgetan und keine alternativen Importmöglichkeiten entwickelt, zitiert Hürriyet den Bericht der israelischen Nachrichtenseite «Calcalist» schadenfreudig. Dass die Einnahmen von diesen Exporten auch der eigenen Kasse fehlen werden, wird in der regierungsnahen türkischen Presse nicht erwähnt.
Noch ist unklar, ob Ankara den Handel mit Drittländern ebenfalls einstellen will – beispielsweise die Öllieferungen aus Aserbaidschan nach Israel. Die in Fragen des Nahen Osten meist gut informierte internet-Plattform «al monitor» schätzt, dass rund 60% der israelischen Öleinfuhren aus Aserbaidschan und Kasachstan stammen. Das Öl erreicht Israel über eine Pipeline, die zum südlichen Mittelmeerhafen der Türkei Ceyhan führt, und von dort aus wird es per Schiff nach Israel transportiert.
Erdoğan unter Druck seiner Parteibasis
Warum Erdoğan ausgerechnet jetzt die Krise mit Israel auf die Spitze treibt, bleibt umstritten. Viele politische Beobachter führen seine verhärtete Position in erster Linie auf den Druck seiner eigenen Parteibasis zurück. Bilder aus dem Gaza-Streifen von hungernden und ermordeten Kindern sowie von der unfassbaren Zerstörung der palästinensischen Städte und Dörfer lösen in der Türkei dieselben Emotionen aus wie in der westlichen Welt die Bilder aus dem Ukraine-Krieg. Solange der Handel mit Israel unangetastet blieb, warfen vor allem fromme Anhänger Erdoğan Versagen in der Palästina-Frage vor. Bei den letzten Kommunalwahlen sollen sie selbst in den traditionellen Hochburgen AKP für kleinere Parteien des politischen Islam gestimmt haben.
Erdoğan steht unter Druck. Als eine emotionell explosive Persönlichkeit reagiert er dabei unberechenbar. Just zum Zeitpunkt, als das türkische Handelsministerium den Handelsstopp mit Israel verkündete, teilte das türkische Aussenministerium in Ankara mit, die Türkei werde sich der von Südafrika angestrengten Völkermord-Klage gegen Israel anschliessen.
«Was wir jetzt tun, ist das Richtige»
Nur eine knappe Woche vor dem Handelsstopp mit Israel liess Erdoğan einen auf dem 9. Mai geplanten Besuch beim US-Präsidenten Joe Biden kurzfristig einfach fallen. Dabei handelte es sich um das erste Treffen beider Präsidenten in Washington. Dort sollten sie ein seit Jahren von Ankara angestrebtes Abkommen zum Kauf von F-16-Kampfjets und zur Modernisierung der türkischen Flotte unterzeichnen und Einigkeit der zwei grössten NATO-Partner vordemonstrieren. Stattdessen vertieft die plötzliche Streichung des Besuchs die alte Krise zwischen den USA und der Türkei. Die Sicherheitslage in «unserer Nachbarschaft am östlichen Mittelmeer» sei genauso wie Erdoğan «noch unberechenbarer, noch volatiler geworden als zuvor», beklagt die griechische Tageszeitung «Kathimerini» besorgt.
«Wir sind uns bewusst, dass das, was wir jetzt tun, das Richtige ist», sagte Erdoğan vor einer Versammlung des Verbands unabhängiger Industrieller und Geschäftsleute (MÜSIAD) in Istanbul letzten Freitag. MÜSIAD ist der Verband von Geschäftsleuten, die dem politischen Islam der Türkei nahestehen. Der Westen werde es nicht unterlassen, die Türkei wegen des Handelsstopps mit Israel anzugreifen, setzte Erdoğan seinen Gedanken fort. Aber «wir lassen uns nicht einschüchtern». «Wir werden aufrecht stehen».