Prag, nördlich der Alpen vielleicht die schönste Stadt Europas und touristisch hoch attraktiv, ist politisch nicht auf gutem Weg. Eben wurde ein ehemaliger kommunistischer Politiker und dann ranghöchster NATO-General zum neuen Staatspräsidenten gewählt – ohne sachliche Diskussionen. (Foto Christian Müller)

Tschechiens neues Polit-System: «gut» oder «böse» – und nichts dazwischen!

(Red.) Die das Altertum und das Mittelalter erforschenden Historiker bezeichnen das Phänomen als «Manichäismus»: das Gesellschaftssystem, in dem es nicht mehrere verschiedene Gruppierungen mit verschiedenen Bedürfnissen und Programmen gibt, sondern einfach eine zweigeteilte Gesellschaft, die «Guten» und die «Bösen». Die tschechische Politologin Ilona Švihlíková hat nach den Präsidentschaftswahlen am Wochenende, die vom ehemaligen Kommunisten und später höchstrangigen NATO-General Petr Pavel gegen den Milliarden-schweren Geschäftsmann Andrej Babiš gewonnen wurden, jetzt eine Analyse des Wahlkampfes verfasst. Sie kommt zum – traurigen – Schluss, dass es mitnichten um verschiedene Polit-Programme ging, sondern nur noch um «Gut» oder «Böse» – um Manichäismus. In der hier folgenden Übersetzung ihrer Analyse haben wir einige ihrer Verweise auf geschichtliche Ereignisse Tschechiens, die wir in Deutschland und der Schweiz nicht präsent haben, an den [ ]-Stellen weggekürzt. (cm)

Die Präsidentschaftswahlen könnten ein Vorbote des Regimewechsels in der Tschechischen Republik sein, einschließlich einer ähnlichen Spaltung, wie sie aus den USA bekannt ist. Das Niveau der gesteigerten Emotionen, des Hasses in der Gesellschaft hat einen Höhepunkt erreicht. Es wurde aber auch hart gearbeitet, denn nur hohe Emotionen konnten einen ehemaligen kommunistischen Geheimdienstoffizier auf die Prager Burg bringen. Es muss hinzugefügt werden, dass seine Kampagne gut geführt wurde, seine ausländischen Berater haben gute Arbeit geleistet. (Bezeichnenderweise wird Petr Pavels kommunistische Vergangenheit auf Wikipedia oder auch in der aktuellen Berichterstattung der «ZEIT» mit keinem Wort erwähnt. Politische Chamäleons zugunsten der NATO sind in den westlichen Medien hochwillkommen. Red.)

Andererseits war Andrej Babiš noch nie „präsidiales Material“ und er ist auch psychologisch nicht für dieses Amt geeignet, da er ein Choleriker und Mikromanager ist. Die Partei von General Pavel (oder besser gesagt, die Partei der ausländischen Militärinteressen, die diesen Offizier gewählt hat) hatte die Wahl schon lange im Voraus gewonnen, weil es ihr mit der tatkräftigen Hilfe der meisten Medien gelungen ist, die Wahl in ein Referendum über Babiš umzuwandeln.

Ein Sieg von Babiš hätte höchstwahrscheinlich nicht so schnell zu anderen realpolitischen Ergebnissen geführt. Andrej Babiš war nicht in der Lage und vielleicht auch nicht gewillt, größere Schritte zu unternehmen, auch nicht beim tschechischen Fernsehen, dessen miserable Berichterstattung über den Wahlkampf hier nicht kommentiert zu werden braucht, und sicher auch nicht auf europäischer Ebene. Babiš griff im zweiten Wahlgang das Thema Frieden zwar auf, als seine Propagandisten ihm sagten, dass „seine“ Wähler keinen Krieg wollten. Vorher hatte er zu diesem Thema aber keinen Finger gerührt.

Der tschechische Volkshumor – lassen Sie uns ihn genießen, vielleicht gab es ihn jetzt für eine lange Zeit zum letzten Mal – kommentierte die Wahlkampf-Situation (der beiden Kandidaten, die beide vor 1989 zum Kader der Kommunistischen Partei angehörten) als ein Duell zwischen (bei Babiš) zivilem und (bei Pavel) militärischem Geheimdienst, wobei natürlich die großartige Kaderarbeit der Kommunistischen Partei gewürdigt wurde. Während Babiš ein Geschäftsmann ist, der in der Tschechischen Republik verankert ist (er hat hier pragmatisch seine wirtschaftlichen Interessen, was nicht unbedingt immer etwas Schlechtes ist) und sein ganzes Leben lang nach dem Modus „was für wieviel“ gehandelt hat, hat Petr Pavel nach dem Modus „ich gebe Befehle, ich befolge Befehle“ gehandelt. Nur die Parteien, in denen diese Handlungsweisen angewandt wurden, haben sich geändert. Der Slogan „Ruhe und Ordnung“ lässt mich erschaudern, denn ich denke dabei entweder an das deutsche „Maul halten und arbeiten“, das berüchtigte „calm to work“, oder an die Methoden von Pinochet in Chile. Warum fanden jetzt in Tschechien so viele Menschen den Slogan „Ruhe und Ordnung“ und damit den Kandidaten General Pavel so sympathisch?

Zum einen ist es der bereits erwähnte, fleißig und lange genährte Hass gegen Babiš. Den Medien ist es gelungen, Babiš als eine inakzeptable Figur, als das Böse schlechthin darzustellen (wir werden noch auf den Manichäismus in der tschechischen Politik zu sprechen kommen). Ich möchte den Einfluss der Medien nicht unterschätzen, aber das ist nur ein Teil der Erklärung. [ ] Der Westen verursacht eine Krise nach der anderen und ist nicht in der Lage, sie zu lösen (in Davos am WEF war sogar von einer Krise der Demokratie die Rede! ), die Bürger ahnen, dass es ihren Kindern schlechter gehen wird als ihnen, alte Muster brechen auf, es gibt neue Supermächte … Das ist alles zu viel und entspricht überhaupt nicht dem westlichen Ideal, dem wir uns lautstark anschließen müssen (der peinliche Slogan „wir gehören zum Westen“ ist nur Ausdruck des Wunsches, uns in etwas zu verankern, das nicht mehr existiert, ein verzweifelter Schrei nach einem sicheren Punkt in einer zunehmend chaotischen Welt). Aber die meisten Menschen wollen das nicht und können es nicht akzeptieren, es ist für sie psychologisch unerträglich. Sie brauchen eine klare Welt, ohne Ambivalenzen [ ]. Wer sonst sollte ihnen diese Gewissheit, diese Klarheit geben, wenn nicht der Herr General mit dem Versprechen auf «Ruhe und Ordnung»? Der Wunsch, zu verbieten, und mehr noch, den Gegner in den Boden zu stampfen, ihn zum Schweigen zu bringen, ihn zu erschießen, ist ein so notwendiges psychologisches Bedürfnis – nur dann wird die Welt wieder Sinn machen, wenn sie frei ist von diesen störenden Elementen, die „Kinder und unsere Jugend verderben“. Schwarz und weiß, gut und böse, und die Welt ist klar und durchschaubar, man muss nur auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, dann geht alles von selbst …

Wo sind die Zeiten, in denen noch echt diskutiert wurde?

Der (von Václav Havel  betriebene, Red.) Havloid-Manichäismus ist in die tschechische Politik eingedrungen. Wo sind die Zeiten, in denen es in der Politik um die Interessen einzelner Gruppen ging? Über die Höhe der Steuern, die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen oder den Arbeitsmarkt? Sobald „Gut und Böse“ in der Politik Einzug halten, gehen wir zu der Operation „bedingungslose Unterstützung gegen bedingungslosen Hass“ über [ ]. Es geht nicht darum, zu feilschen, Kompromisse zu schließen und zu verhandeln, es geht darum, zu kämpfen, zu zerstören, überwältigend zu gewinnen. Die andere Seite muss nicht nur kurzfristig zerstört werden, sie muss vollständig delegitimiert werden, diejenigen, die sie unterstützen, sind keine Menschen, sie sind Verlierer, Scheißkerle, Russen, Abschaum, sie müssen vom Angesicht der Erde getilgt werden. Nur dann kann das Gute siegen.

Mit dem Sieg von Petr Pavel wird sich die politische Situation also stark ändern. Sein Sieg ist auch ein Beweis dafür, dass sich die tschechische Gesellschaft in puncto Hysterie, Hass und Gewaltbereitschaft ihrem großen Vorbild – den USA – immer mehr annähert. In den USA greifen die politischen Gräben bereits auf die familiären Beziehungen über, nach dem Motto: „Wenn du es wagst, einen Republikaner mit nach Hause zu bringen oder, auf der anderen Seite, mit einem Demokraten befreundet zu sein, werfe ich dich aus dem Haus“. In der Tschechischen Republik hat der Konflikt eine starke Generationendimension und manifestiert sich in der Form „wenn Oma Babiš wählt, wird sie ihre Enkel nie wieder sehen“. Es ist nicht verwunderlich, dass in einem solchen gesellschaftlichen Klima in den USA die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkriegs zunimmt, der zudem durch den weit verbreiteten Gebrauch von Schusswaffen in der Bevölkerung begünstigt wird.

In Tschechiens Landen gibt es nicht so viele Waffen im Volk, aber die seit Jahrhunderten geschulte Fähigkeit, zu denunzieren, zu lynchen und zu ächten, gewinnt ein neues, breites Betätigungsfeld. Das zeigt sich nicht nur in „Diskussionen“, z. B. auf der Plattform «Novinky» (ich empfehle sie nicht, sie zu lesen ist wie durch Fäkalien zu waten), sondern auch im Bildungswesen, wo die Denunziation durch Schüler oder deren Eltern zunimmt. Die Geschichte der Tschechischen Republik bietet eine breite Palette von Erfahrungen mit der Beseitigung von Gegnern, angefangen bei der Vertreibung aus dem Land, der Hinrichtung auf dem Altstädter Ring bis hin zum Bobliga-Amoklauf, dem Bach-Absolutismus oder der Aufforderung der Gestapo an die Tschechen, nicht so viel zu verraten, weil sie es nicht verarbeiten können. Nun werden wir also die nächste Phase dieses ewigen Prozesses erproben, wenn, in den Worten des Politkommissars [ ] aus dem heute hochaktuellen Buch „Sie nannten ihn Terazky“ unsere neuen Verantwortlichen „eine neue, gerechte Ordnung aufbauen, und wer sie nicht versteht, wird verhaftet“.

In einer solchen Atmosphäre, die von den regimetreuen Medien gefördert wird, ist es für einen Kandidaten unmöglich, mit seinen Wählern (den Verzweifelten) zusammenzukommen; er muss daran gehindert werden, dies zu tun. Gewalt ist nicht nur möglich, sondern sogar angebracht, um dem Bösen Einhalt zu gebieten. Wenn ein „böser“ Kandidat bedroht wird, ist er selbst schuld. Hätte er Ansichten und Haltungen wie wir, nämlich die richtigen, dann wäre ihm das nicht passiert!  In einer solchen Atmosphäre müssen „böse“ Menschen entlassen werden, und es ist notwendig, Informationen zu „korrigieren“ und diejenigen zu bekämpfen, die sich – historisch gesehen – auf die Seite der Ketzer stellen und sich weigern, „korrigiert“ zu werden.

Derzeit ist die politische Fünfer-Koalition stärker denn je, denn sie kontrolliert alle Gewalten (die Burg, also den Präsidenten, beide Kammern des Parlaments und auch die Regierung), den größten Teil der Medien (das kommende Zensurgesetz wird für den Rest sorgen) und das Verfassungsgericht (für das bald neue Richter ernannt werden). Hinzu kommen die Straßentruppen der Aktivisten «Millionen von Momenten», die in Scharmützeln oder als „Training“ eingesetzt werden können, begleitet von der Anwesenheit ausländischer Truppen im Rahmen der „selektiven Mobilisierung“.

Darüber hinaus ist die tschechische politische Situation insofern spezifisch, als die Strukturen, die vielleicht ein Gegengewicht zur Fünfer-Koalition bilden könnten, völlig zerfallen sind. Es ist peinlich, heute über die Sozialdemokratie zu schreiben. Die ANO-Bewegung (die Partei von Babiš, Red.) steht höchstwahrscheinlich vor dem Zerfall, weil ihre Mitglieder ihr nicht beigetreten sind, um Wahlen zu verlieren. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die ideologische Ausrichtung der meisten ihrer sichtbaren Mitglieder schon immer à la ODS (einer rechts-konservativen Partei, Red.) war und die ANO-Bewegung nur dank der politischen Sensibilität ihres Besitzers ein gewisses soziales Gespür gezeigt hat (Babiš hat in seiner Zeit als Premierminister zum Beispiel die Altersrenten erhöht, Red.). Leer, leer, nichts da, so sieht die „Opposition“ auf Tschechisch aus. Etwas Neues aufzubauen wird eine äußerst schwierige Aufgabe sein, und einige mögen denken, dass die Auswanderung die bessere Option ist. Aber, machen wir uns nichts vor, Prozesse wie in der Tschechischen Republik – unterschiedliche Grade von Hysterie, Gewaltbereitschaft usw. – finden in den meisten sogenannten westlichen Ländern statt.

Jede Opposition, die sich bilden wird, hat eine ungeheuer schwierige Aufgabe vor sich, die auch dadurch erschwert wird, dass viele ihrer potenziellen Führer im Gefängnis landen werden.

Diese Nacht wird nicht kurz sein… (nach den Wahlen, ein Zitat aus einem populären tschechischen Lied, Red.).
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Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Original-Artikel von Ilona Švihlíková in tschechischer Sprache, hier anklicken. Die Übersetzung besorgten Anna Wetlinska und Christian Müller.

PS: «Pavel was a member of the Communist Party of Czechoslovakia in the 1980s and began a rapid rise through army ranks until communism fell in 1989.» Wenigstens die «Kyiv Post» hat Petr Pavels Vergangenheit erwähnt. Und warum wohl? Auch in der Ukraine gibt es diese politischen Chamäleons zu Tausenden. Hauptsache man macht Polit-Karriere, ob für die Kommunisten oder für den Westen spielt doch keine Rolle. (cm)