Tibet – politisch entzauberter Sehnsuchtsort
Tibet fasziniert mit buddhistischer Kultur und eindrücklichen Landschaften. Doch das Hochland im Himalaya ist kein Shangri-La mehr, kein paradiesischer Sehnsuchtsort, wie in James Hiltons Roman «Lost Horizon» (1933) beschrieben. Die chinesische Provinz durchlebt einen augenfälligen Wirtschaftsaufbruch, mit zielbewussten Interessen der autokratischen Volksrepublik. Die wichtigsten Treiber sind lukrativer Bergbau und militärische Dominanz. Aber auch der Tourismus wächst – auf staatlich verordneten Pfaden, wie eine Gruppenreise kürzlich zeigte.
Tibet war zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert ein starkes, kriegerisches Königreich, stand danach lange unter mongolischer Herrschaft, bevor es 1912 nach kurzer britischer Okkupation ein unabhängiger Staat wurde. 1950 erhob jedoch China Anspruch auf das Hochplateau im Himalaya, dies unter dem Motto „Friedliche Befreiung“. Neun Jahre später schlug Maos Volksbefreiungsarmee den tibetischen Volksaufstand blutig nieder – mit Zehntausenden von Toten – und trieb den Dalai Lama sowie dessen Landsleute zu Hunderttausenden ins Exil. Auch wurden mehrere tausend Klöster und andere Kulturdenkmäler mutwillig zerstört. Seit 1965 ist Tibet eine „Autonome Region“ innerhalb der Volksrepublik. Die von der Zentralregierung befohlene Polizei- und Militärpräsenz ist hoch, und die Bevölkerung wie auch die Touristen werden streng kontrolliert. Die spürbar starke Hand von Peking hat neben sicherheitspolitischen auch wirtschaftliche und geostrategische Gründe.
Was China unserer Gruppe bot beziehungsweise verordnete, war denn auch ein überwachter Kultur-, Souvenir- und Panoramatourismus, begleitet von politisch überkorrekten, einheimischen Reiseführern. Dabei stachen folgende Beobachtungen heraus:
>> Tibet als Freilichtmuseum. Viele traditionelle Gebäude in den Altstädten von Lhasa, Shigatse und Gyantse wurden aufwendig restauriert und manche (während der Kulturrevolution) zerstörten Klöster und Tempel wieder hergerichtet und teilweise neu aufgebaut. Die Religion funktioniert, das tibetisch-buddhistische Pilgergeschäft (ein wahres Finanzimperium) läuft wie geschmiert, wird aber jetzt enger vom Staat kontrolliert. Die rotgewandeten Mönche in den öffentlich zugänglichen Klosterräumen zählen pausenlos die gespendeten Renminbi.
>> Tibet als Einkaufszentrum im Heimatwerk-Stil. Herausgeputzte, kleinere Konsumtempel mit aufgepfropftem tibetischem Design sind in den letzten Jahren in den Alt- und Innenstädten entstanden, adrette Souvenirläden und Verpflegungsstrassen (mit heimischem Fastfood und gepflegten Restaurants) erwarten die (noch vorwiegend) chinesischen Touristen. Die aromatischen Gerichte, meist aus der chinesischen Küche, sind stets frisch zubereitet.
>> Tibet als imposantes Naturpanorama. Das Auge erfreuen reissende Flüsse, tiefe Schluchten, steinige Hochgebirgstäler, zottelige Yak-Herden auf grünen Weiden, Zelte von Nomaden, mächtige Gletscher, 5’000 m hohe Pässe in dünner Luft, wo Horden chinesischer Touristen an der Sauerstoffdose hängen.
>> Tibet als bewachter Begegnungsort. Möglich sind oberflächliche, kontrollierte Kontakte (überall Videokameras) mit der Bevölkerung in Geschäften und Restaurants oder mit Mönchen in Klöstern (Konversation via Übersetzungs-App auf Handy). Aber auch der demonstrative Besuch in einem Dorf bei einer „Bauernfamilie“, die in einem stattlichen Haus wohnt (auf den Fahnen am Eingang prangen aktuelle und ehemalige chinesische Machthaber) und uns „fürstlich“ bewirtet. Üblich sind häufige Passkontrollen in Hotels, an Checkpoints unterwegs und in den Städten.
>> Tibet als boomende Entwicklungsregion. Wer mit offenen Augen durch die Autonome Region reist, beobachtet eine rege Bautätigkeit sowohl im Hochbau als auch bei der Verkehrsinfrastruktur. Zahlreiche Grosssiedlungen entstehen, in den Tälern werden mehrere parallele Fernverkehrsstrassen (über unzählige Brücken) und mehrgleisige Eisenbahnstrecken (durch lange Tunnels) aufs Hochplateau gezogen. China investiert massiv in die Region und verspricht sich eine prosperierende Wirtschaftsentwicklung (im Bergbau und im Tourismus). Der Verkehr in den Städten rollt quasi vollständig elektrisch (Busse, Autos, Motorroller, Fahrräder), die Luft ist entsprechend sauber. Die Abgase entstehen entfernt in den vorwiegend fossilbefeuerten Kraftwerken.
Worüber wir hingegen nichts Genaues zu hören bekamen (auch nach hartnäckigem Nachfragen nicht), waren andere wichtige Themen und Schauplätze:
>> Tibet als wachsende Einwanderungsregion. Nach offiziellen Angaben leben derzeit 3,7 Millionen Menschen in der Autonomen Region (auf einem Achtel der Fläche Chinas), davon 86 Prozent Tibeter und 12 Prozent Han-Chinesen, der kleine Rest sind weitere ethnische Gruppen. Andere Quellen (z.B. die tibetische Exilregierung im indischen Dharamsala) sprechen von einer deutlich höheren (dreimal so hohen), stark wachsenden Einwohnerzahl und bereits einer Mehrheit von Han-Chinesen, vor allem in den Städten. Verlässliche Bevölkerungsstatistiken fehlen, doch im Strassenbild sind Han-Chinesen ebenso präsent wie Tibeter.
Der zentralchinesische Einfluss (aus dem fernen Peking) ist allgegenwärtig. Überall hängen Fahnen und grossflächige Paneele mit dem roten Wappen der Volksrepublik. Die Beschriftungen der Geschäfte und Wegweiser sind überwiegend auf Mandarin verfasst, falls zusätzlich auf Tibetisch, dann kleiner und zweitrangig.
>> Tibet als ökologisch problematische Goldgrube. Neben dem Edelmetall Gold gibt es weitere wichtige Bodenschätze in grossen Mengen: Uran, Kupfer, Eisenerz, Blei, Kobalt, Zink, Chrom, Lithium und Seltene Erden. Viele davon sind unersetzlich für die weltweit postulierte Energiewende und die unaufhaltsame Digitalisierung (u.a. für Handys, Tablets, PCs). Der Abbau erfolgt in der Regel ohne wirksame ökologische Massnahmen und mit erheblichen menschlichen Opfern (jährlich Hunderte von Toten). Riesige Mengen schädlicher Chemikalien sowie giftiger und radioaktiver Abfälle (z.B. aus der Uranaufbereitung) werden oftmals unkontrolliert und ohne Sicherheitsvorkehrungen ober- oder unterirdisch gelagert. Eine Übersicht über die Umweltschäden (aus Bergbau, Abholzung, Stauseen) liefert z.B. die Gesellschaft schweizerisch-tibetische Freundschaft (GSTF-Infoblatt https://gstf.org/wp-content/uploads/2017/02/Factsheet_Umwelt.pdf). Die chinesische Botschaft in Deutschland hingegen beschwichtigt und listet Verbesserungen auf http://de.china-embassy.gov.cn/det/zt/sjwj/202103/t20210311_10162109.htm
>> Tibet als geostrategischer Feldherrenhügel. Die Autonome Region grenzt an das mächtige Indien, an Myanmar (Burma), Nepal und Bhutan. Für die Volksrepublik ist das „Dach der Welt“ (mit dem Himalaya und dem weltweit höchsten Berg, dem Mount Everest, 8’848 m ü.M.) militärisch entscheidend wichtig und wird wohl in absehbarer Zeit nicht wieder unabhängig werden.
>> Tibet mit vielen Tabus. Das derzeitige politische und geistliche Oberhaupt Tibets, der 14. Dalai Lama (im indischen Exil), existiert nicht (weder auf Bildern noch Fotos) und wird konsequent totgeschwiegen (quasi ein Schweigegebot). Ebenso wie die jüngere Geschichte mit dem niedergeschlagenen Volksaufstand und den Zerstörungen während der Kulturrevolution. Über die scharfe Überwachung der tibetischen Bevölkerung und mögliche Repressionen gegen politisch „unangepasste“ Bürger wird im Westen immer wieder berichtet (u.a. von Flüchtlingen), sind aber in China ein striktes Tabu.
Letztlich bleibt die vielleicht rhetorische Frage: Wo stünde Tibet heute ohne die chinesische Besetzung? Ein autonomes, aber wirtschaftlich schwach entwickeltes Land von vorwiegend Bauern, Nomaden und Mönchen? Eine abgeschottete Theokratie unter dem Dalai Lama? Ein hochgebirgiges Disneyland für Touristen? Mit völlig intakt gebliebener Natur? Die Antwort ist hypothetisch und heikel, für einen Europäer mit anderen Vorstellungen von individueller Freiheit und politischen Volksrechten vermessen.
Tibet bleibt ein unvergleichlicher, fantastischer Fleck Erde, der trotz starker chinesischer Einflussnahme seine urtümliche Anziehungskraft bewahrt hat. Als Westler mit anderen Werten blickt man in der kurzen, zehntägigen Reisezeit politisch und kulturell kaum durch. Auch die bei uns zirkulierenden Informationen über die vorherrschende Unterdrückung lassen sich vor Ort nicht verifizieren, weil man isoliert wird – was nicht heisst, dass es sie nicht gibt!
Als ausländischer Tourist lebt man völlig abgeschottet: tagsüber beim eng geführten Sightseeing, verköstigt in ausgesuchten Lokalen und nachts untergebracht in komfortablen Hotelghettos. Kurzum: Tibet wird dem Fremden als chinesisches Ballenberg*, tibetisches Heimatwerk** und himalayisches Jungfraujoch*** verordnet. Der grosse Rest bleibt rigoros gehütetes Staatsgeheimnis.
* Ballenberg: Schweizer Freilichtmuseum bei Brienz (historische Gebäude und traditionelles Handwerk)
** Schweizer Heimatwerk: Ladenkette mit heimischen Geschenken und Souvenirs
*** Jungfraujoch: Beliebtes touristisches Ausflugsziel (Top of Europe) im Berner Oberland (3‘454 m.ü.M.) mit Panoramablick auf Schneeberge und Gletscher