Syrien: Wunsch und Wirklichkeit
(Red.) Wenn aus Gründen des Datums „8. Dezember“ die vor einem Jahr erfolgte Vertreibung Assads aus Syrien gefeiert und die neue Herrschaft unter Al Sharaa gefeiert wird, so ist das nur die eine Hälfte der Realität. Karin Leukefeld, die über Jahre in Syrien gelebt hat, kennt auch die andere Seite der Realität. Noch immer gehören Armut und Hunger zur syrischen Realität. (cm)
Es kommt auf die Perspektive an, wie sich der erste Jahrestag nach dem gewaltsamen Machtwechsel in Syrien darstellt. Das staatliche Motto – auch für die Syrer im Ausland – ist, einen „Jahrestag des Sieges und der Befreiung“ zu feiern. Der 8. Dezember ist Feiertag, die Festkomitees haben kein Geld und keine Mühen gescheut, um das Land als eine große Feier darzustellen.
In einem Sicherheitsbericht, der seit vielen Jahren für private Nichtregierungsorganisationen im Land erstellt wird, heißt es am 8. Dezember 2025: „Dies ist eine Warnung: bitte seien Sie vorsichtig, wenn die Feiern beginnen, werden sie in die Luft schießen. Aber jede Kugel wird wieder herunterkommen, also passen Sie auf!“
Der Blick der neuen syrischen Medien
Sieht man die zahlreichen Video-Berichte der syrischen Nachrichtenagentur SANA, herrscht im Land Frieden und Freude und Feiern finden aller Orten statt. Da gibt es ein Fest in Azaz unweit der Grenze zur Türkei, wo die Menschen Fahnen schwenken, zum Rhythmus der Musik aus den Lautsprechern klatschen und ihre Kinder in die Luft heben. Über der Promenade der Hafenstadt Banias kreist eine Drohne, die mit ihrer Kamera große Menschenmengen am Ufer überquert, um dann in einem furiosen Auf und Ab über Booten zu kreisen, die Menschengruppen in einer „Bootszeremonie“ durch die Bucht transportieren. An den Masten wehen die neuen syrischen Fahnen. In der nahe gelegenen Hafenstadt Tartus werden im Kulturzentrum die Weihnachtsfeierlichkeiten eröffnet. Ein Kinderchor singt vor der versammelten Familienschar, zu der sich – in der ersten Reihe – auch eine Gruppe örtlicher Geistlicher gesellt hat. Ein weiterer Film zeigt den Start einer Freiheitstour von Radfahrern, die von Hama nach Homs fahren. Und ein Triathlon Athlet fährt mit dem Fahrrad von Beirut nach Damaskus, um den „Tag des Sieges und der Befreiung“ am 8. Dezember zu würdigen. Dem erschöpften Mann werden Girlanden mit Rosen um den Hals gelegt.
Die syrische Interimsregierung – die sich als „Befreier“ von der „Assad-Diktatur selbst in das Amt erhoben hat – läßt sich feiern. Zu ihren ersten Amtshandlungen gehörten neben einer neuen Verfassung und der Einsetzung eines Parlaments auch die Ernennung des 8. Dezember als neuem Feiertag. Bisherige Feiertage wurden abgeschafft. So der „Tag der Märtyrer“, an dem der syrischen Oppositionellen gegen die osmanische Herrschaft gedacht wurde. 21 von ihnen waren am 6. Mai 1916 vom osmanischen Gouverneur Djemal Pascha in Damaskus und Beirut gehängt worden. Auch ein weiterer Feiertag wurde abgeschafft, der 6. Oktober. An diesem Tag war der Soldaten gedacht worden, die im Tishreen-Krieg gegen Israel 1973 zur Rückeroberung der 1967 besetzten Golanhöhen gefallen waren. In Israel spricht man vom Jom Kippur-Krieg.
Vor dem 1. Jahrestag des neuen Syriens ist die Interimsregierung in Katar unterwegs. Im Rahmen des Doha Forums führen Interimspräsident Al Sharaa und Außenminister Sheibani viele Gespräche. Al Sharaa im Gespräch mit der CNN-Journalistin Christine Amanpour erhält eine große Bühne und Live-Übertragung. Der Außenminister kündigt ebenfalls auf einer Bühne für das Jahr 2026 einen wirtschaftlichen Wendepunkt an, der von Investitionen aus den USA, Katar, Saudi-Arabien und der Türkei getragen werden soll. Shaibani trifft sich mit einer norwegischen Delegation sowie mit den Außenministern der Türkei und Jordaniens, berichtet SANA. Mit Norwegen habe man darüber beraten, wie „die bilateralen Beziehungen entwickelt und ausgebaut“ werden könnten. Zudem habe man über die jüngsten „regionalen und internationalen Entwicklungen im gegenseitigen Interesse“ gesprochen.
Interimspräsident Al Sharaa scheint im vergangenen Jahr „nach der Befreiung“ an vielen Orten gleichzeitig gewesen zu sein und habe „die syrischen Türen für die Welt“ geöffnet, so SANA. Die beigefügten Fotos zeigen Al Sharaa händeschüttelnd mit Tom Barrack, dem US-Botschafter der Türkei, der auch als Sonderbeauftragter von US-Präsident Donald Trump für Syrien und Libanon fungiert. Händeschütteln mit dem Emir von Katar, im Gespräch mit dem türkischen Außenminister mit begleitender Delegation. Al Sharaa mit Mahmud Abbas, Chef der Palästinensischen Autonomiebehörde und Al Sharaa mit dem saudischen Außenminister. Weitere Fotos zeigen Al Sharaa mit dem libanesischen Ministerpräsidenten Nawaf Salam und schließlich mit den Außenministern Deutschlands und Frankreichs, das war im Januar 2025.
Die internationale Unterstützung für den langjährigen Al Qaida-Chef in Syrien ist folgerichtig, angesichts des „Regime-Changes“, der für Syrien seit 2011 angestrebt wurde. Der Mann war seit 2012 unter dem Namen Abu Mohamed Al Jolani mit der Nusra Front und später mit Hay’at Tahrir al Sham für zahlreiche blutige Anschläge verantwortlich. Doch nach der „Ehrenmedaille“, die Al Sharaa vom UN-Sicherheitsrat erhielt, der alle gegen ihn und seinen amtierenden Geheimdienstchef und Innenminister Anas Khattab verhängten Sanktionen aufhob, wurde Al Sharaa auch im Weißen Haus vom US-Präsidenten empfangen und als neues Mitglied in die US-geführte Anti-IS-Allianz aufgenommen. Nun – da aus dem „Terroristen“ ein Partner und „Befreier“ geworden ist – steht der Kampf gegen die verbliebenen „Terrororganisationen“ auf dem Plan, frohlockt der US-Sonderbeauftragte Barrack: Syrien soll nun mit der Anti-IS-Allianz gegen die Hamas, die Hisbollah, gegen die iranischen Revolutionsgarden und gegen die Houthi Bewegung im Jemen vorgehen. Regime-Change in Westasien.
Der Blick von der Regierungsbank
Syrien trete „in eine neue Phase, in der es um Wiederaufbau, Entwicklung und die Stärkung der staatlichen Institutionen geht“, erklärte Informationsminister Hamza Al Moustafa in einem Gespräch mit der Anatolischen Nachrichtenagentur. Es gebe keine Gefangenen mehr in Syrien, die wegen ihrer Meinung inhaftiert seien. Syrien stelle seine inneren Möglichkeiten wieder her und bedrohe niemanden, so Al Moustafa.
Der Mediensektor dehne sich aus, fuhr der Informationsminister fort. Mehr als 500 Medien arbeiteten heute in Syrien und Tausende ausländischer Medienteams und Delegationen hätten Syrien seit Beginn des Jahres 2025 besucht. Er verwies auf die Entwicklung der Syrischen Nachrichtenagentur SANA, die Neuauflage der Tageszeitung Al Thawra (Die Revolution) und des Radios von Damaskus.
Kritik übte Al Moustafa an den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften, SDF, die ihren Verpflichtungen nicht nachkämen. Seit der Vereinbarung vom 10. März 2025 habe es keine weiteren Fortschritte gegeben. Der syrische Staat lehne weiter jegliche Föderation oder politische Dezentralisierung ab. Kritik gab es auch an Israel, das seit Oktober 2023 eine Politik der Eskalation verfolge, wie Al Moustafa sagte. Israel versuche die Region in eine offene Konfrontation zu treiben. Damaskus fordere weiterhin den Abzug Israels aus allen syrischen Gebieten, die es nach dem 8. Dezember 2024 besetzt habe. Washington unterstütze die syrische Position und übe Druck auf Israel aus.
Was bei den offiziellen Feiertagsreden nicht gesagt wird, ist der Druck, den die USA auf Syrien ausübt, seine politischen Beziehungen mit Israel zu „normalisieren“. Dafür zuständig ist der bereits erwähnte Sonderbeauftragte von Donald Trump, Tom Barrack, der israelisch-syrische Treffen in Aserbeidschan und wiederholt in Frankreich organisiert hat.
Der Blick von Analysten
Aus Sicht verschiedenster Analysten droht Syrien zum neuen Schlachtfeld der Region zu werden. Israel und die Türkei stehen sich bereits gegenüber, Israel hat sich vehement gegen die internationale Anerkennung von Al Sharaa und gegen die Aufhebung der Sanktionen ausgesprochen. Um seine Position zu bekräftigen werden – wie in Gaza, im Westjordanlang und im Libanon – immer neue Gebiete im Süden Syriens besetzt und Dörfer angegriffen, ohne dass der UN-Sicherheitsrat Strafmaßnahmen gegen Israel diskutiert.
Der Interimspräsident Ahmed al Sharaa hat keine stabile Hausmacht. Nicht alle seiner Kämpfer folgen ihm und weigern sich nach wie vor, ihre Waffen dem neuen Verteidigungsministerium zu unterstellen. Etliche dieser Gruppen sind zwar pro forma Teile der neuen Armee, gleichzeitig aber sind sie verantwortlich für Massaker an Alawiten in der Küstenregion (März 2025) und an Drusen (Juli 2025).
Al Sharaa bemüht sich, es allen, denen er die Türen Syriens geöffnet hat, Recht zu machen. Briten und Saudis gehören zu den einflußreichsten Beratern der Interimsregierung. Die Amerikaner bekommen eine Militärbasis in Damaskus und ihre bisher illegalen Basen in Syrien werden legalisiert. Die Türkei erhält Einfluss in Aleppo, die Europäer dürfen ihre Nichtregierungsorganisationen schicken, damit diese die Zivilbevölkerung betreuen und mit ihnen Projekte in Sachen Kunst, Kultur und Menschenrechte umsetzen können.
Israel darf seine Truppen auf den Golanhöhen und rund um die südliche Stadt Sweida stationieren, es darf bomben, wenn es meint, bedroht zu werden, und auf dem Berg Hermon, dem Jbeil Scheich, darf Israel auch Manöver absolvieren und von dort sämtliche Kommunikation zwischen Beirut und Damaskus überwachen. Israelische Medien, Touristen und Unternehmen reihen sich in die zahlreichen Späher aus anderen Ländern ein, die herausfinden wollen, ob, wann und wo es sich lohnt, in den Wiederaufbau des Landes zu investieren. Die einen sollen sich die Sulfatvorkommen im Umland von Tadmor gesichert haben, andere den Zugang zu seltenen Erden und wieder andere die Nutzung der syrischen Ölfelder im Osten des Landes.
Die Vereinigten Arabischen Emirate sollen den Zuschlag für die Organisation des Hafens von Latakia erhalten haben, Katar baut die Energieversorgung wieder auf, Deutschland spannt ein Netz über Kliniken und medizintechnische Betriebe und plant – wie schon zu Assad Seniors Zeiten – die Rekonstruktion der Wasserversorgung. Und wie schon zuvor, schwingt Deutschland sich auf, Rechtsprechung über Syrien mit weiteren Prozessen gegen Syrer anzustrengen, die angeblich oder auch tatsächlich für Folter in Gefängnissen verantwortlich gewesen sein sollen. Das lasse das „Weltrechtsprinzip“ zu, so die Begründung. Die Opfer der Al Qaida-Anschläge aber, für die die amtierende Interimsregierung mindestens nach 2012 verantwortlich war, werden nicht von Deutschland und auch nicht vom UN-Sicherheitsrat verteidigt. Es wird nicht einmal über sie gesprochen.
Die Kurden arbeiten derweil weiter unter dem Schutz der Amerikaner an ihrem föderativen Modell für Syrien, zusammen mit den Drusen und – ganz versteckt im Hintergrund – Israel. Das ist an einer möglichst großen Zersplitterung und Zerteilung Syriens interessiert, um im Rücken der miteinander konkurrierenden syrischen Gruppen eines Tages wieder Iran – und ggf. auch Irak – angreifen zu können.
China hält sich zurück. Bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat lehnte China die Entlistung von Al Sharaa und Khattab ab, zumal unter deren Kämpfern sich weiterhin Uiguren der Islamischen Turkistan Partei, auch Islamische Ostturkistanische Bewegung befinden, die – so der chinesische UN-Vertreter – nach wie vor terroristische Ziele verfolgten und für Terrorakte verantwortlich seien.
Russland nimmt eine eher pragmatische Position ein und hat offizielle Gespräche mit der Al Sharaa-Interimsregierung geführt, vor allem um seine militärischen Interessen – die Luftwaffenbasis Hmeimin (Latakia) und den Hafen von Tartus für die Schwarzmeerflotte – zu sichern. Gleichzeitig haben hochrangige ehemalige Regierungsvertreter in Russland politisches Asyl und Zuflucht gefunden. Die neuen Machthaber in Damaskus haben wiederholt die Herausgabe von Bashar al-Assad gefordert, in Moskau heißt es dazu allerdings, dass es darüber nichts zu besprechen gäbe.
Präsident Bashar al Assad lebe weitgehend zurückgezogen mit seiner Familie, heißt es in einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters, der sich in weiten Passagen auf anonyme Quellen beruft. Sein Cousin Rami Makhlouf und der ehemalige militärische Geheimdienstchef Kamal Hassan sollen dem Bericht zufolge Millionen US-Dollar in den Aufbau einer alawitischen Widerstandsarmee stecken, mit dem die Interimsregierung von Al Sharaa gestürzt werden soll. Allerdings sollen die beiden nicht gemeinsam an einem Strang ziehen, sondern miteinander konkurrieren, so Reuters. Angeblich soll es mindestens 14 unterirdische Bunkeranlagen geben, von denen aus ein solcher Aufstand organisiert werden solle. Dutzende Waffenlager seien auch vorhanden, so der Reuters Bericht. Der Bericht wird weit verbreitet, ist aber nicht zu überprüfen.
Der Blick der Syrer
Die vielen Aktivitäten der Interimsregierung von Al Sharaa haben wenig Auswirkung auf den Alltag der Bevölkerung. Das Leben ist weiterhin von Armut, Arbeitslosigkeit und Unsicherheit geprägt. In einem Sicherheitsbericht, der seit Jahren für private Nichtregierungsorganisationen im Land erstellt wird, heißt es am Montagmorgen: „Dies ist eine Warnung: bitte seien Sie vorsichtig, wenn die Feiern beginnen, werden sie in die Luft schießen, aber jede Kugel wird wieder herunterkommen, also passen Sie auf!“
Jeder Bericht beginnt mit Hinweisen zum Nachdenken, „food for thought“, wie es heißt.
Auch nach einem Jahr sei Syrien ein Land im Wandel. Die Infrastruktur sei zerstört, der Preis für den Wiederaufbau werde auf mindestens 200 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das Land brauche dringend Gesetze und Institutionen, die in der Lage seien, einen Wiederaufbau umzusetzen, heißt es weiter. Kriegsverbrecher müßten zur Rechenschaft gezogen werden und zwar solche aus der Zeit vor und nach dem Wechsel der Regierung. Das sei erforderlich, damit die Bevölkerung sicher sein könne, dass die neue Regierung sich dafür verantwortlich fühle.
Das Land sei herausgefordert, zu funktionieren und sich gleichzeitig neu zu erfinden, so der Bericht. Um Syrien wieder aufbauen zu können, müssten die politischen Führer und deren internationale Unterstützer die Bedürfnisse der Syrer und ihre Nöte verstehen. Die Bevölkerung habe Hoffnung und unterstütze die Demokratie, sie sei offen für ausländische Unterstützung – auch aus den USA und Europa. Aber die Bevölkerung sei auch sehr besorgt über den Mangel an innerer Sicherheit, über das (nicht funktionierende) Bankensystem, öffentliche Dienste, über eine funktionierende Rechtsprechung. Die Beliebtheit der neuen Regierung werde von Region zu Region völlig anders gesehen. Die neue Regierung habe sich Zeit verschafft, um das Land zum Besseren zu verändern, aber die Flitterwochen gingen vorbei, die Regierung werde an ihren Taten gemessen werden. Sollte die Regierung nicht in der Lage sein, den Syrern in naher Zukunft zu einem besseren Leben zu verhelfen – und zwar allen -, dann würden die Umfragewerte in den Keller gehen und der innere Konflikt in Syrien könnte mit aller Macht zurückkehren.
Es folgt ein Aufruf an die „internationale Gemeinschaft“, endlich alle Sanktionen aufzuheben. Es reiche nicht, darüber zu sprechen, sondern es müsse gehandelt werden, um die wirtschaftlichen Strafmaßnahmen endlich zu stoppen. Im Übrigen müsse die internationale Staatengemeinschaft endlich auch alle israelischen Aggressionen stoppen: in Syrien, im Libanon, Gaza, Westjordanaland, Ostjerusalem und im Rest der Region!
Das Land sei nicht sicher, heißt es weiter. Extreme Individuen, Gruppen seien aktiv und könnten nicht kontrolliert werden. Man solle nie allein gehen oder mit dem Auto fahren, sondern immer mit einem oder zwei Freunden. Fahrräder, Motorräder, Autos würden täglich gestohlen. Man solle sein Fahrrad oder Auto fotografieren und es der Polizei zeigen, sofern das erforderlich sei. Entführungen, allgemeine Kriminalität sei hoch, auch weil die Armut der Bevölkerung so groß sei.
„Öffnen Sie nie die Haustür und speziell nicht für jemanden, den Sie nicht kennen“, so die Warnung. Stattdessen solle man den Mukhtar rufen – eine Art Bezirksbürgermeister – oder Freunde aus einem privaten Sicherheitskreis anrufen. Man solle weiter die Eingänge zu Kirchen, Moscheen, Universitäten und Schulen schützen, auch zu privaten Feiern, Ausstellungen und Museen. Die Lage sei noch immer nicht „normal“, so der Bericht. Es habe in den letzten Monaten viele Versprechungen gegeben, aber die Lage sei weit von Sicherheit entfernt.
Die Beschreibung der Lage in den einzelnen Provinzen fällt ernüchternd aus.
Anti-IS-Razzien werden aus Idlib berichtet, mit sieben Toten und zahlreichen Verhafteten. Das Kulturministerium meldet den Fund von 1234 archäologischen Tafeln und 198 weiteren Fundstücken, die ins Museum von Idlib zurückgebracht werden sollten.
In Hama halten die Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen an. Feierlichkeiten „für das neue Syrien“ werden für die Innenstadt von Hama angekündigt, doch die Lage im Tal der Christen, in Skalbieh und Maharde – Städte, in denen mehrheitlich Christen leben – sei „nicht stabil“. Die Stromversorgung sei schlecht, es gebe nur 1 Stunde Strom und 23 Stunden keinen Strom. Wasser sei vorhanden, aber nicht überall in den Vororten und im Umland. Und ohne Strom lasse sich auch das Wasser nicht in die oberen Stockwerke der Häuser pumpen.
In Latakia halten die Spannungen gegenüber den Alawiten, Schiiten und Christen an. Feierlichkeiten zum „Tag des Sieges und der Befreiung“ würden trotz der Spannungen vorbereitet. Die Internetverbindungen seien instabil, vor allem in den ländlichen Gebieten. Strom in der Stadt 1 Std. an/ 5 Std. aus, täglich. Trinkwasser gibt es demnach 14 Stunden pro Woche, in vielen Gebieten gar nicht.
In Homs halten die Spannungen an, besonders im Grenzgebiet zum Libanon. Die Innenstadt sei ruhig, Strom in der Stadt 1 Std an/7-12 Stunden aus, zusätzliche Unterbrechungen seien „normal“. Wasserversorgung „akzeptabel“, in einigen Stadtteilen 4 Std. Wasser an/20 Std aus. Ohne Strom kann das Wasser nur in den ersten Stock eines Hauses gepumpt werden.
Ähnlich sind die Berichte aus Tartous, wo zusätzlich von großer Armut und Lebensmittelmangel berichtet wird. Strom- und Wasserversorgung sind „sehr schlecht“.
In Aleppo (Land) haben demnach die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) einige administrative Aufgaben an die neuen Machthaber übergeben. Die Spannungen zwischen den Regierungstruppen und SDF/PKK seien hoch, es komme zu zahlreichen Schwierigkeiten. Aleppo Stadt sei angespannt, Stromleitungen würden repariert, ebenso die Wasserversorgung.
Das Al Hol-Lager in Hassakeh – bewacht von SDF-Kräften und den USA – sei weiterhin eine „tickende Zeitbombe“. Noch immer gäbe es mehr als 50.000 internationale, irakische, syrische Familien, die dem IS zugerechnet würden. Ihre Lage sei schlecht, unsicher, es fehle an Grundnahrungsmitteln. Die Lage in Hassakeh sei angespannt, weiter nördlich in Qamishly sei es unsicher. Es herrschten Strom- und Wasserknappheit.
Im Umland von Rakkah gebe es militärische Angriffe der USA gegen den IS, weiter nördlich gebe es Spannungen zwischen türkischen Truppen und den kurdisch geführten SDF. US-Luftangriffe in Mansoura und in Wüstengebieten.
Aus dem Umland von Deir Ez-Zor würden starke Spannungen und Kämpfe zwischen SDF und HTS (Hay’at Tahrir al Sham), zwischen arabischen Stämmen und IS-Gruppen gemeldet. Es gebe Festnahmen, Tote. Deir Ez-Zor Stadt sei unsicher, heißt es. Es gebe täglich nicht mehr als 2 Std Strom, 22 Std. keinen Strom, in manchen Stadtteilen überhaupt keinen Strom. Wasserversorgung dagegen sei „in Ordnung“.
Weitere Berichte folgen für Damaskus, Deraa und Sweida. Überall herrscht Mangel an Sicherheit, fehlt es an Strom und Wasser, an Arbeit, an Lebensmitteln für arme Familien, die weder Arbeit noch Einkommen haben. Viele Familien wüßten nicht, wie sie eine warme Mahlzeit auf den Tisch bekommen sollten. Deraa und das Gebiet um den Berg Hermon /Jbeil Scheich sei geprägt von israelischen Militäroperationen in Dörfern auf dem Golan, Errichtung von militärischen Sperren, Agrarland und Häuser würden zerstört. Ein Bericht über Landminen bezeichnet Syrien als einen der größten Krisenherde weltweit, wo die Minenräumung weit hinter der Notwendigkeit zurückliege. Es fehlt zudem an internationalen Geldzusagen, um die Arbeit zu gewährleisten.
In Damaskus findet derweil eine dreitägige Konferenz für „Humanitäre Aktion und die Erholung in Syrien“ statt. Veranstalter ist die deutsche Hilfsorganisation HELP, rund 170 Organisationen aus dem In- und Ausland sollen sich angemeldet haben. Eine Delegation des UN-Sicherheitsrates besuchte Damaskus und den weitgehend zerstörten Vorort Jobar. Von Syrien aus reiste die UNSR-Delegation dann in den Libanon. Interims-Außenminister Shaibani traf mit einer Delegation der EU-Anti-Terror-Einheit zusammen. Kanada hat Syrien von der Liste der Terror unterstützenden Staaten gestrichen, Al Sharaa ruft in Katar auf dem Doha Forum die Kataris auf, in Syrien zu investieren und weist die israelische Forderung nach einer entmilitarisierten Zone im südlichen Sweida zurück. Die kurdische Verwaltung verbietet Feiern anläßlich des Machtwechsels vor einem Jahr.
Rückkehr nach Syrien unzumutbar
Angesichts der Zustände in Syrien sei eine forcierte Rückkehr von Syrern in ihre Heimat nicht zumutbar, erklären zum Jahrestag des politischen Umbruchs die Organisationen «Brot für die Welt» und die «Diakonie Katastrophenhilfe», die sich seit langem für die Menschen in Syrien und für die von dort Geflüchteten engagieren. 7 Mio Menschen seien weiterhin im Land vertrieben, es mangele an Wohnraum und Unterstützung. Die Vision eines sicheren und wohlhabenden Syriens habe wenig mit der aktuellen Realität zu tun, so die Präsidentin von «Brot für die Welt», Dagmar Pruin. Bewaffnete Milizen seien eine ernste Bedrohung, die humanitäre und wirtschaftliche Lage sei katastrophal. Wer Syrien für sicher erkläre, um Abschiebungen zu rechtfertigen, ignoriere die Verhältnisse vor Ort.