Der Überfall der Dschihadisten auf Aleppo, die zweitgrößte Stadt in Syrien, erfolgte völlig überraschend und ausgerechnet nach einer Reform der syrischen Armee, durch die viele syrische Militärs ins zivile Leben zurückkehren konnten. Die Leidtragenden der seit 2011 instabilen Situation sind wie immer die Menschen in der Region, die in dieser Jahreszeit in der Landwirtschaft die Ernten einfahren können sollten. (Foto Tagesschau)

Syrien wird erneut zum Schlachtfeld ausländischer Interessen

(Red.) In den USA werden Präsidenten, die nicht wiedergewählt wurden, in der Zeit bis zur Amtsübernahme des neuen Präsidenten „lame duck” genannt – lahme Ente –, weil sie nicht mehr über die gleiche Macht verfügen wie zu normaler Amtszeit. In so einer Phase leben wir gerade jetzt. Und weil niemand weiß, was der neue Präsident, Donald Trump, nach der formellen Amtsübernahme in Szene zu setzen vorhat, versuchen verschiedene Mächte noch in aller Schnelle neue Fakten zu schaffen – so insbesondere jetzt auch in Syrien. Unsere Nahost-Spezialistin Karin Leukefeld versucht die verschiedenen Akteure zu identifizieren und ihre Interessen zu erklären. (cm)

Am 27. November, als im Libanon eine 60tägige Waffenruhe in Kraft trat, stürmten Zehntausende Dschihadisten unter Führung des syrischen Al Qaida-Ablegers Hay’at Tahrir asch-Scham (HTS) aus Idlib auf die nordsyrische Metropole Aleppo vor. Unterstützt wurden sie von Kampfverbänden aus Tschetschenien, aus dem Kaukasus und von Uiguren, die schon zwischen 2013 und 2016 Aleppo belagerten und erobern wollten. Mit dabei waren Kämpfer einer Fremden-Legion aus der Ukraine, die den Angriff mit Drohnen forcierten. Die syrische Armee – geschwächt nach dem langen Krieg (seit 2011) und ausgedünnt nach einer Armeereform, die im Oktober Hunderte Soldaten und Offiziere nach Hause entlassen hatte – war dem Ansturm nicht gewachsen. 

Nach einer Woche sind Fronten in verschiedenen Provinzen entstanden, die syrische Armee wird gebunden, die syrische Luftwaffe bombardiert Ansammlungen der Kämpfer und wird dabei von der russischen Luftwaffe unterstützt. Erneut fliehen Tausende, der Krieg in Syrien ist neu entflammt. 

Die Drahtzieher sehen zu. Die Trommler ihrer Kriegsmedien produzieren eine Kulisse von Berichten, Analysen, Spekulationen, Wunschvorstellungen und angeblichen Geschehnissen, die international wiederholt werden: Die Rede ist von einem „Wiederaufflammen des Bürgerkrieges“. Aleppo sei „gefallen“, die „Stunde Null“ sei angebrochen, die „bewaffnete Opposition“ sei zurückgekehrt, der „Sturz des Regimes“ stehe bevor. Fahnen werden gehisst, andere zerrissen. Gewehre werden geschwungen, einem syrischen Soldaten wird der Hals zerschnitten. Neue Herrscher werden gepriesen, Bilder des bisherigen syrischen Präsidenten Assad werden zerstört. 

Nur langsam wird hinter dem medialen Geflimmer schemenhaft ein Bild deutlich, das zeigt, was in Syrien vor sich geht und mit welcher Absicht. Die Stunde der Geopolitik hat geschlagen, die Akteure betreten das Schlachtfeld. Einige zerren und ziehen seit 2011 an Syrien, andere nutzen die Gelegenheit, um eigene territoriale Machtinteressen gegen die Länder und Gesellschaften der Region zu erzwingen. Wieder andere greifen an, weil sie dafür ausgebildet wurden und bezahlt werden.

Der Ausgang ist ungewiß, doch eines ist klar: der Krieg, den die Dschihadisten und ihre Auftraggeber entfachen, ist kein „Bürgerkrieg“ und er ist nicht im Interesse Syriens und seiner Bevölkerung. Er ist schon gar nicht im Interesse eines gerechten Friedens in der Region. Denn der Krieg und die Zerstörung im Gazastreifen dauern an und im Libanon ermächtigt sich Israel, eine Waffenruhe nach ihren Interessen mit Bomben und Raketen durchzusetzen.

Diejenigen, die den Krieg in Gaza und Libanon führen, und diejenigen, die den Krieg in Syrien neu anfachen, sind Partner und Konkurrenten zugleich. Sie nutzen das Machtvakuum im Weißen Haus in Washington – Joe Biden tritt ab und Donald Trump ist noch nicht eingezogen – um ihre eigenen oder auch die Machtansprüche anderer Akteure auf Kosten Syriens und seiner Bevölkerung gewaltsam zu erzwingen. Das Land wird erneut zum Schlachtfeld fremder Interessen. 

Es ist Erntezeit, aber es herrscht Krieg

Die Olivenernte geht zu Ende. Im Libanon und in Palästina verhindert der Krieg von Israel, dass die Bauern ihre Ernte einholen. In Syrien werden die Nachrichten über die Oliven- oder Baumwollernte von nahezu täglichen Angriffen Israels, von Angriffen der Türkei im Nordosten und von Angriffen der US-Luftwaffe im Osten, entlang des Euphrat-Tals und der Grenze zum Irak, überdeckt. Baumwolle und Pistazien wurden eingebracht, die letzten Oliven auf großen Plastikplanen gesammelt, um sie auf dem Markt zu verkaufen, einzulegen oder zu Öl zu pressen. Die Menschen versuchen, ihre Lebensgrundlagen zu retten.

Kein vernünftiger syrischer Bauer hätte in dieser Zeit einen Angriff auf Aleppo, Khan Sheikhoun oder Hama gestartet, wie es die Dschihadisten aus Idlib tun. Aleppo, Idlib und Khan Scheikhoun gehören wie Hama zu den fruchtbarsten Gebieten des Landes, die vor dem Winter in Ordnung gebracht werden müssen. Syrien ist ein Agrarland. Der syrische Boden hat alles, was für gute Landwirtschaft gebraucht wird. Die Bauern sind fest mit ihrem Land verbunden und arbeiten hart, um die Märkte mit dem zu versorgen, was gebraucht wird. Vor dem Krieg, der 2011 begann, galt Syrien als Brotkorb für die Nachbarländer und exportierte frisches und verarbeitetes Obst und Gemüse sogar in die arabischen Golfstaaten. Seit Schneefall im Winter ausbleibt und die unterirdischen Wasserspeicher nicht mehr ausreichend gefüllt werden, fehlt es an Wasser. 

Die Landwirtschaft leidet nicht nur unter dem derzeitigen Angriff, sie leidet an den Folgen der vorherigen Kriegsjahre. Sie leidet unter der Besatzung der Türkei, durch die USA und anhaltende Interventionen Israels. Die Landwirtschaft leidet unter der Zerteilung Syriens in sichere und unsichere Gebiete, die von verschiedenen Akteuren besetzt gehalten werden. Die meisten Gebiete Syriens standen bis zu dem Angriff der Dschihadisten am 27. November unter der Kontrolle der Regierung. Die war allerdings politisch isoliert und wegen der einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen (Sanktionen) von EU und USA von internationalen Märkten weitgehend abgeschnitten. Die Bauern konnten nicht mehr wie vor dem Krieg von der Regierung mit Düngemitteln versorgt werden. Es fehlte an Werkzeug und Maschinen und es fehlte an Öl, um Erntemaschinen zu betreiben und auch, um die Pumpen zu bedienen, die Wasser aus Brunnen auf die Felder pumpen sollten.  

Obwohl Syrien im Nordosten des Landes über ausreichende Ölvorkommen verfügt, hat das Land seit zehn Jahren keinen Zugriff auf die eigenen Ressourcen, mit denen Elektrizitätswerke betrieben, die Haushalte und Fabriken mit Strom versorgt und der landesweite Transport gewährleistet werden konnte. Auf Hausdächern und auf Feldern sieht man heute große Solaranlagen, die von der Bevölkerung und von den Bauern aufgestellt und auch selber finanziert werden. Kompostanlagen und Klärschlammgruben werden angelegt, um natürlichen Dünger zu erzeugen. Doch im Vergleich zu der Zeit vor dem Krieg liegen viele Felder brach, weil es an Mitteln für die Landwirtschaft fehlt. Inflation und Teuerung machen das Leben schwer. In wessen Interesse also greifen Söldner – wie schon 2011 – erneut die Zentren der syrischen Landwirtschaft an?

Idlib, Hama und Aleppo verband seit 2020 eine Deeskalationszone, die von der Türkei, Russland, Iran und Syrien im Rahmen der Astanagespräche ausgehandelt worden war. Inhalt der Vereinbarung war die Freigabe der Autobahnen M4 (Latakia-Aleppo) und M5 (Damaskus-Aleppo) durch die Dschihadisten der Nusra Front. Die sollten sich in Richtung Idlib Stadt zurückziehen, was aber nicht geschah und von der Türkei, die diese Aufgabe übernommen hatte, nicht durchgesetzt wurde. 

Vorgesehen war, die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung auf beiden Seiten der innersyrischen Frontlinie zu ermöglichen. Seit Ende 2022 gab es in Khan Sheikhoun durch die Vermittlung des russischen „Zentrums für die nationale Versöhnung der verfeindeten Seiten in Syrien“ ein Zentrum, das die Rückkehr von Inlandsvertriebenen aus dem HTS-kontrollierten Idlib ermöglichte. Seit Anfang 2024 waren zahlreiche Familien aus dem von HTS kontrollierten Teil Idlibs in die von der syrischen Regierung kontrollierten Gebiete Idlibs und in den Landkreis Hama und Aleppo zurückgekehrt, um ihre landwirtschaftlichen Betriebe – u.a. Obst- und Pistazienanbau – und ihre Häuser wieder aufzubauen. Im Sommer 2024 kamen Schüler aus Idlib durch das Zentrum in Khan Sheikhoun nach Aleppo, um an den jährlichen Abschlussprüfungen teilzunehmen. 

Der Angriff der Dschihadisten ist ein Bruch jeder vorherigen innersyrischen Vereinbarung.

Die Schwächung Syriens

Grund für den wirtschaftlichen Stillstand, der das Land über Jahre hin geschwächt hat, sind einerseits die anhaltenden einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen, die von der EU und den USA verhängt und seit Jahren verlängert wurden. Die Maßnahmen sind völkerrechtswidrig und werden von einer deutlichen Mehrheit der Staaten in der UN-Vollversammlung abgelehnt. Die reichen Länder, die diese „Strafmaßnahmen“ (nicht nur) gegen Syrien verhängt haben, machen weiter. 

Andererseits wird Syrien daran gehindert, die Grenzen des Landes selber zu kontrollieren. Die Grenzübergänge im Norden werden von der Türkei kontrolliert, im Osten und Süden von der US-Armee. Nur ein Grenzübergang nach Jordanien wird nach vielen Jahren der Sperrung wieder von Syrien kontrolliert, ebenso die Grenzübergänge zum Libanon. Die allerdings wurden in den letzten Kriegsmonaten (Israel-Libanon/Hisbollah) wiederholt von Israel bombardiert, um angebliche Waffentransporte des Iran an die Hisbollah zu verhindern. Belege für diese angeblichen Lieferungen hat Israel der Öffentlichkeit nie vorgelegt. De facto wurden die Grenzübergänge zu einer Zeit zerstört, als viele Menschen vor dem israelischen Krieg nach Syrien flohen. Obwohl Syrien Probleme genug hat, hatte das Land seine Grenzen für die Fliehenden nicht geschlossen. Den Kindern wurde zugesagt, die syrischen Schulen besuchen zu können. Nach Angaben des UN-Hilfswerks für Flüchtlinge, UNHCR, wurden seit dem 27. September 562.000 Personen registriert, die aus dem Libanon über die Grenze nach Syrien kamen. 63 Prozent der Fliehenden waren Syrer, 37 Prozent waren Libanesen.

Einmischung und Besatzung im Nordwesten, Nordosten

Die anhaltende Zerteilung des Landes beeinträchtigt die wirtschaftliche Entwicklung und den nationalen Zusammenhalt. Syrien ist in den Nordwesten, den Nordosten und in unruhige Gebiete in Sweida und Deraa zerteilt. Verantwortlich dafür sind US-Truppen, die im Nordosten und Osten die syrischen Ölquellen Rumeilan und Omari und andere Ölfelder besetzt halten. Verantwortlich ist eine kurdische Selbstverwaltung, die mit den US-Truppen kooperiert und – durch zumeist kurdische Geschäftsleute – das syrische Öl zum eigenen Vorteil verkaufen kann. Innersyrischer Handel und die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung wird von kurdischen Grenzposten und von türkischen Besatzungstruppen blockiert, die mit regierungsfeindlichen Milizen kooperieren. 

Im Nordosten kämpfen die von der Türkei finanzierten Truppen und die türkische Luftwaffe gegen kurdische Einheiten, die mit Unterstützung der US-Armee ein eigenes Territorium beanspruchen. Im Nordwesten kooperieren die von der Türkei unterstützten Truppen mit den islamistischen Kampfverbänden der HTS, die Idlib kontrollieren und nun einen Angriff auf Syrien gestartet haben. Die Oliven- und Obsternte aus dem Nordwesten um Afrin und Azaz wird auf türkische Märkte gelenkt und für den Handel innerhalb Syriens und vor allem mit Aleppo blockiert. Verantwortlich dafür ist neben der Türkei HTS und die von diesem installierte „Heilsregierung“, die ihre eigenen Geschäfte in der nordwestsyrischen Provinz Idlib verfolgt. Der „Islamische Staat“ dieser „Heilsregierung“ wird von internationalen Hilfsprogrammen und Material unterstützt, das über den türkisch-syrischen Grenzübergang Bab al-Hawa nach Idlib gelangen. Es ist der gleiche Weg, über den 2011/12 und in den folgenden Jahren Waffen, Geld und Ausbilder im Rahmen der CIA-Operation „Timber Sycamore“ an die syrischen „Rebellen“ geliefert wurden. Die US-Geheimoperation wurde von Großbritannien, der Türkei und Geheimdiensten verschiedener arabischer Golfstaaten unterstützt. Letztere finanzierten das Programm wesentlich. Die Nusra Front, Vorläufer von HTS, profitierte direkt davon.

Einmischung und Besatzung im Süden

Die südlichen Provinzen von Deraa und Sweida und von Damaskus Landkreis bleiben unruhig durch Schmuggler und regierungsfeindliche Milizen. Deraa und Sweida grenzen an Jordanien und an von Israel besetzte Gebiete auf den syrischen Golanhöhen, beide Provinzen verfügen über gute landwirtschaftliche Produkte. Wegen anhaltender israelischer Interventionen oder wegen Angriffen von Milizen unklarer Herkunft kommen allerdings beide Gebiete nicht zur Ruhe. Dafür sorgt auch die völkerrechtswidrig errichtete US-Militärbasis Al Tanf in Damaskus Landkreis im Dreiländereck von Irak, Jordanien und Syrien. Auf syrischem Territorium blockiert die US-Basis den wichtigen Grenzübergang für Handel und für den Personenverkehr Al Tanf/Al Walid zwischen Irak und Syrien. Die US-Truppen bilden auf dieser Militärbasis eine neue Armee aus, die offiziell gegen den Islamischen Staat kämpfen soll, der allerdings seit Jahren weitgehend zerschlagen ist. Vermutet wird daher, dass die Truppe eines Tages gegen die syrischen Streitkräfte zum Einsatz kommen soll.

Wenige Tage vor dem Beginn des Überfalls der Dschihadisten meldete das syrische Militär am 20. November israelische Luftangriffe auf die zentrale Provinz Homs. Ziel der Angriffe war die Wüstenstadt Palmyra. Dabei wurden 36 Personen getötet und mehr als 50 weitere verletzt, zahlreiche Häuser in dem Ort, die erst in den letzten Jahren wiederaufgebaut worden waren, wurden wieder zerstört. Im August 2015 und erneut im Januar 2017 war die Stadt, deren antiker Teil zum Weltkulturerbe zählt, vom Islamischen Staat überfallen und teilweise zerstört worden. Der Leiter des weltweit bekannten Museums in Palmyra Khaled al-Asaad wurde ermordet.

Der Angriff

Bei dem Angriff der Dschihadisten handelte sich eher um einen Überfall. Nach UN-Angaben wurden am 27. November rund 50 Dörfer und Gemeinden von den vorrückenden Milizen und durch das Gegenfeuer der syrischen Streitkräfte Schauplatz von Kämpfen. UN-Beobachter in Syrien sprachen von 125 Angriffen seitens der Kämpfer, die von dem Al Qaida-Ableger in Syrien, Hay’at Tahrir al-Scham (HTS) angeführt wurden. 14.000 Menschen, etwa die Hälfte von ihnen Kinder, seien innerhalb von drei Tagen vertrieben worden. Die von der Türkei unterstützten Kämpfer rückten nach Angaben von Beobachtern in der Region von drei Seiten auf Aleppo vor. Westlich der Stadt im Umland von Afrin, das zum Landkreis Aleppo gehört, nahmen sie die von der syrischen Armee kontrollierten Orte Nubl und Zahra ein. Die Autobahnen M4 und M5, die ursprünglich zu einer von der Türkei und Russland ausgehandelten De-Eskalationszone gehört hatten, wurden für den Aufmarsch benutzt. Posten der syrischen Armee wurden überrannt. Soldaten, die sich nicht in Sicherheit bringen konnten, wurden getötet oder verletzt. 

Erst im Herbst hatte die syrische Regierung eine Reform der syrischen Streitkräfte eingeleitet. Ab Oktober waren Hunderte Soldaten und Offiziere, die in den letzten zehn Jahren während des Krieges gedient hatten, nach Hause entlassen worden. Die Erschöpfung der syrischen Armee ist im Land ein offenes Geheimnis. Junge Männer haben ihre besten Jahre im Krieg verbracht und konnten weder einen Beruf erlernen noch ausreichend Geld verdienen, um eine Familie gründen zu können. Ab dem Frühjahr 2025 sollte die von allen Seiten begrüßte Armeereform beginnen. Tägliche Übungen, Ausbildung und Wachsamkeit der Armee waren offenbar nicht auf dem notwendigen Stand. Unklar ist, ob die syrische Armee von ihrem Verbündeten Russland – das Syrien weiträumig von Satelliten überwacht – über den Aufmarsch der Dschihadisten informiert worden war. Unklar ist, ob der erfolgte Rückzug der syrischen Soldaten in Absprache mit Russland und Iran erfolgt war.

In Idlib arbeitende Nicht-Regierungsorganisationen stellten ihre Arbeit aufgrund der Kämpfe ein. Gesundheitszentren und Schulen wurden aus Sicherheitsgründen geschlossen. Organisationen, die Nahrungsmittel verteilten, stellten ihre Arbeit zunächst in 13 Bezirken ein. Das Krankenhaus Bab Al-Hawa schloss seine Außenkliniken. Zahlreiche Einrichtungen, die im sozialen, medizinischen und Entwicklungsbereich in dem von HTS kontrollierten Gebiet arbeiteten – mit finanzieller Unterstützung auch der EU – stellten ihre Arbeit ebenfalls bis auf weiteres ein. Der Grenzübergang Bab Al-Hawa, der Idlib mit der Türkei verbindet, sei weiter geöffnet, so das UN-Büro für Nothilfe (OCHA).

Ausländische Drahtzieher

Die Kämpfer, die von westlichen Medien als „Rebellen“ oder „syrische Opposition“ bezeichnet werden, werden von ausländischen Drahtziehern finanziert. Diese wiederum nutzen das Vakuum des US-amerikanischen Machtwechsels im Weißen Haus. Die Türkei kontrolliert HTS in Idlib und die am Angriff beteiligte „Syrische Nationale Armee“ und hat – trotz offizieller Dementi – dem Angriff zugestimmt. Ankara will den syrischen Präsidenten Assad zu Zugeständnissen zwingen, Damaskus soll die türkischen Interessen und militärische Präsenz auf syrischem Territorium akzeptieren. Die Türkei will eine 30 km breite Pufferzone im Norden des Landes gegen die kurdische Autonomieregierung (KASAD) und sie will Syrer, die als Flüchtlinge in der Türkei aufgenommen worden waren, entlang der syrisch-türkischen Grenze auf syrischer Seite ansiedeln. Die Türkei will zudem Druck auf die USA machen, ihre Unterstützung für die Kurden im Nordwesten Syriens aufzugeben und dafür zu sorgen, dass sie sich aus der von der Türkei beanspruchten Pufferzone zurückziehen und ihre Waffen abgeben.

Die Kurdischen Kräfte weigern sich dem Druck Ankaras nachzugeben; zu Verhandlungen mit der syrischen Regierung über Lösungsansätze – beispielsweise die Eingliederung kurdischer Verbände in die syrische Armee – verhalten sie sich vage bis ablehnend. Aktuell weiten sie – mit Zustimmung der US-Armee – ihren Kampfradius sowohl in der Stadt Aleppo als auch im Umland von Aleppo aus. Im Westen der Stadt liefern sie sich Kämpfe mit den Dschihadisten. Im Osten Syriens hat die US-Armee mit den kurdisch geführten Selbstverteidigungskräften (SDF) eine Verteidigungslinie gegen die syrische Armee und gegen syrische und irakische Widerstandskräfte (Achse des Widerstandes) aufgebaut. Diese wiederum haben ihre Angriffe gegen die US-Truppen, die die syrischen Ölfelder Omari und Konoco besetzt halten, verstärkt.

Das Pentagon hat in den letzten Tagen Berichten zufolge Flugzeuge mit Truppen, Waffen und Munition auf den US-kontrollierten Flughafen beim Ölfeld Rumeilan (Provinz Hasakeh) eingeflogen. Auch die US-Truppenstärke auf der US-Militärbasis Al Tanf (Dreiländereck Syrien, Irak, Jordanien) wurde aufgestockt.

Der Irak hat Truppen entlang der gemeinsamen Grenze mit Syrien verstärkt und Syrien offiziell nicht näher beschriebene Unterstützung zugesagt. Der Iran hat der syrischen Regierung Unterstützung mit Waffen und Kämpfern der „Achse des Widerstandes“ zugesagt. Nach einem Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Hakan Fidan in Ankara sagte der iranische Außenminister Abbas Araghchi, auch die Entsendung iranischer Truppen zur Stärkung Syriens sei nicht ausgeschlossen. Am Rande des Doha Forums, das am 7./8. Dezember in Doha im Golfemirat Katar stattfindet, ist ein Treffen der Außenminister aus der Türkei, Iran und Russland im Astana-Format vorgesehen, um die Lage und Entwicklung in Syrien zu beraten.

Israel sieht sich in einer sicheren Position und will die Region nach eigenen Interessen neu formen. Israel meint, dem Iran und der libanesischen Hisbollah vernichtende Schläge zugefügt zu haben. Beobachter wie der ehemalige britische Diplomat Alastair Crooke, äußern daran Zweifel.

Sowohl der Iran als auch die Hisbollah gelten als wichtige Unterstützer der syrischen Armee und Regierung und haben ihre Unterstützung in der aktuellen, schwierigen Situation zugesagt. Seit Beginn des Krieges in Syrien (2011) hat Israel Hunderte von Syrien nicht provozierte Angriffe auf syrische Armeestellungen geflogen und immer damit begründet, iranische Waffen und solche der Hisbollah zerstört zu haben. Proteste der syrischen Regierung im UN-Sicherheitsrat blieben ohne Folgen.

Das Ziel der Kämpfer aus der Ukraine, die ukrainischen Medienberichten zufolge mindestens seit Juni 2024 an der Seite der Dschihadisten in Syrien kämpfen, ist es, Russland in Syrien zu schwächen

Dieses Ziel verbindet die Türkei und Israel ebenso, wie die USA und die NATO-Staaten. Die USA wollen Russland zwingen, im Krieg in der Ukraine Zugeständnisse zu machen und die Kampfhandlungen zumindest „einzufrieren“. Dass das allerdings keine Lösung ist, zeigt der aktuelle Überfall der Dschihadisten auf weite Gebiete im Nordwesten Syriens. Der Krieg um Syrien und der „Sturz des Regimes“ wurden nach acht Jahren Zwischenlagerung im Eisfach der internationalen Politik erneut wieder entfacht. 

Das politische Nichthandeln in all den Jahren ist Absicht. Den regionalen und internationalen Drahtziehern der Destabilisierung Syriens geht es nicht um das Land und schon gar nicht um das Wohlergehen der syrischen Bevölkerung. Es geht um die Kontrolle des Gebiets zwischen dem östlichen Mittelmeer und der Persischen Golfregion. Es geht um die Rohstoffe, um die Transportwege, um drei der weltweit wichtigsten Meerengen für den Handel zwischen Asien und dem Atlantik, um die Straße von Hormuz, Bab al-Mandab und den Suez-Kanal.

Es geht um Geopolitik, es geht um die Entstehung einer multipolaren Weltordnung, die zwischen dem östlichen Mittelmeer und der Persischen Golfregion entsteht.  Die USA, EU/Nato, Israel und Partner kämpfen – mit und ohne Waffen – auf dem syrischen Schlachtfeld gegen Russland, Iran und China. Wurde die Zerteilung der Region nach dem Ersten Weltkrieg noch von den europäischen imperialen Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich, Italien und den USA bestimmt, gibt es heute viele regionale und internationale Akteure mit eigenen Interessen. Keineswegs alle folgen noch dem US-amerikanischen Hegemon und seinem Gefolge, sondern sie kämpfen für ihre eigenen Interessen. Iran, Irak, Syrien, Libanon, Jemen und Gaza kämpfen um ihr Recht auf staatliche Souveränität und Unabhängigkeit. Damit ihre Länder sich frei und ohne Einmischung entwickeln können, wie es in der UN-Charta für alle Staaten „ob groß oder klein“ vorgesehen ist.

Die politische Übergangszeit im US-Präsidentenamt sei die gefährlichste Zeit, so ein lokaler Beobachter im Gespräch mit der Autorin: „Jeder versucht mit Gewalt, seine territorialen Interessen durchzusetzen und neue Tatsachen zu schaffen, mit denen der neue US-Präsident dann umgehen muss.“