Der neue, selbsternannte syrische Präsident Ahmed Al-Sharaa gibt sich gewollt als zivilisierte Persönlichkeit. Seine Politik allerdings verspricht nichts Gutes.

Syrien ist noch alles Andere als stabil

Die Kurden fordern einen föderalen Staat Syrien, im Drusengebiet bricht konfessionelle Gewalt aus, auch Israel mischt sich ein. Das Land scheint fragiler denn je. Aber der selbsternannte neue syrische Präsident Ahmed al-Sharaa entpuppt sich mehr und mehr als Alleinherrscher.

Noch am letzten Wochenende feierten die Kurden eine Konferenz im Nordosten Syriens als seltenen Lichtblick im Kriegsgrauen des Nahen Ostens. Über 400 Vertreter der wichtigsten kurdischen Parteien und Institutionen aus Syrien, der Türkei, dem Irak und dem Iran, aber auch unabhängige Persönlichkeiten aus der weltweiten kurdischen Diaspora, hatten sich im Städtchen Qamişlo versammelt, um gemeinsam über die Zukunft der kurdischen Nationalbewegung zu beraten. In ihrer Abschlusserklärung stachen zwei Botschaften heraus: «Die Zeit für die kurdische Einheit ist jetzt», lautete die erste. Und: «Syrien muss ein dezentralisierter, demokratischer Staat sein, in dem die Rechte aller anderen Minderheiten in der Verfassung verankert sind».

Einmaliges Treffen

Die Anwesenden in Qamişlo hatten allen Grund zum Feiern. Seit das kurdische Siedlungsgebiet nach dem Ersten Weltkrieg durch willkürlich gezogene Grenzen in vier Teile zerstückelt wurde, machten die kurdischen Führer vor allem durch eine legendäre Zerstrittenheit von sich reden. Oft aus dem tiefen Wunsch nach Autonomie in «ihrem» Gebiet heraus ließen sie sich für die Interessen anderer Mächte missbrauchen und auch in den Kampf gegen die Kurden der Nachbarländer einspannen. Verrat und diese Zerstrittenheit zogen sich wie ein roter Faden durch die kurdische Geschichte der letzten hundert Jahre. Aber in Qamişlo kamen erstmals 400 Kurdinnen und Kurden aus verschiedenen Ländern und Bewegungen zusammen, und das machte dieses Treffen einzigartig in der kurdischen Geschichte.

Zwei Männer haben die erste pan-kurdische Konferenz möglich gemacht: Massud Barzani, der den kurdischen Teilstaat des Nordiraks wie ein traditioneller Stammesführer regiert und das Idol für konservative Kurden ist. Mazlum Kobani ferner, der im kurdisch dominierten Nordostsyrien, auch Rojava genannt, das Gesicht der ideologisch der PKK-nahestehenden, säkulären, linken Bewegung verkörpert. Beide stehen für die zwei grossen Teile der kurdischen Nationalbewegung. Ermöglicht wurde die Konferenz schliesslich, weil in der Türkei die Friedensgespräche zwischen der Regierung Erdogan und dem PKK-Gründer Abdullah Öcalan fortsetzt werden. Die Hoffnung auf Frieden in der Türkei hatte vorübergehend auch zu einer Entspannung in der Grenzregion mit dem kurdischen Nordosten geführt. 

Unverhandelbare Positionen

Das einstimmig verabschiedete Abschlussdokument der Konferenz ging ausführlich auf die Staatsform des «neuen Syriens» ein. Syrien sollte demnach

  1. ein demokratisch regierter Staat sein, in dem die Gewaltenteilung und die Religionsfreiheit garantiert sind,
  2. die Rechte aller seiner religiösen und ethnischen  Komponenten (Alawiten, Drusen, Kurden und christliche Minderheiten) in der Verfassung verankert sind,
  3. die Gleichstellung der Geschlechter gewährleistet ist,
  4. das Recht auf Bildung in der Muttersprache für alle Minderheiten garantiert wird,
  5. In diesem «dezentralen Staat» sollen schließlich die kurdischen Regionen unter einem föderalen syrischen Dach als integrierte politische administrative Einheit zusammengefasst sein.

Dieses Dokument, als «gemeinsame politische Vision» der Kurden bezeichnet, sollte die Grundlage für den Dialog mit Damaskus bilden. Kulturelle und sprachliche Rechte aller Bevölkerungsgruppen, Religionsfreiheit, die Gleichberechtigung der Geschlechter sowie ein dezentrales Regierungssystem seien allerdings «unverhandelbare Prinzipien», erklärte Ilham Ehmed, die faktische «Außenministerin» Rojavas. Sie seien die unverhandelbaren «roten Linien» der Kurden.

Rote Linien von Damaskus 

Die syrische Präsidentschaft verurteilte die «Föderalismusforderungen» aus Rojava prompt. «Wir lehnen jeden Versuch ab, eine Teilung zu erzwingen oder separatistische Kantone unter den Bedingungen des Föderalismus oder der Selbstautonomie, ohne einen nationalen Konsens zu schaffen», hiess es in einer Erklärung. 

Noch schärfer fiel die Reaktion aus Ankara aus. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nannte die in Qamişlo geforderte föderale Struktur ein «Hirngespinst, das in der syrischen Realität keinen Platz hat». Die Kurden sollten besser «Entscheidungen treffen, die der Stabilität der Region dienen, anstatt Träumen nachzuhängen, die eine Bedrohung für die Region darstellen», sagte er weiter und drohte unverhohlen, die territoriale Integrität Syriens sei für die Türkei «nicht verhandelbar». 

Die Türkei steht den neuen Machthabern in Syrien besonders nah. Ohne die militärische Unterstützung der Türkei wäre die Blitzoffensive der dschihadistischen Bewegung Hay’at Tahrir al-Sham (HTS), die Anfang Dezember zum Sturz des langjährigen Regimes der Familie al-Assad führte, nicht möglich gewesen. Schon aus diesem Grund ist die Regierung in Ankara davon überzeugt, die Politik in Damaskus massgeblich mitbestimmen zu können. 

Immer wieder enttäuschte Hoffnungen

Eine lange Kette neu geweckter Hoffnungen, die aber immer wieder bitter enttäuscht wurden, haben das Land verunsichert. Ahmed al-Sharaa, der die Blitzoffensive Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) nach Damaskus geführt hatte, wurde letzten Januar zum Übergangspräsidenten Syriens ernannt. Sein Versprechen damals, eine «inklusive Übergangsregierung zu bilden, die die Vielfalt Syriens widerspiegelt», löste große Hoffnungen aus. Syrien ist ein vielfältiges, gesellschaftliches Mosaik. Bis zu zwanzig verschiedene ethnische und religiöse Gemeinschaften leben dort. Obwohl es keine verlässlichen Zahlen gibt, schätzt man, dass etwa 60 bis 65 Prozent der syrischen Bevölkerung sunnitische Araber sind. Die restlichen 35 bis 40 Prozent sind Kurden, Alawiten, Drusen und Christen. 70 Jahre lang herrschte die Familie al-Assad über dieses bunte Völkergemisch mit nackter Repression, die sich ausnahmslos gegen alle Volksgruppen richtete. Die Aussicht, künftig ohne Angst vor Folter und Verfolgung leben zu können, versetzte das Land im vergangenen Dezember in eine Art Euphorie.

Es sollte anders kommen: Anfang März verübte ein wütender Mob dschihadistischer Extremisten Massaker an der alawitischen Minderheit in der Küstenregion von Latakia. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) fielen dem unkontrollierten Gemetzel mehr als 1.500 Menschen zum Opfer, andere Organisationen sprechen sogar von 5.000 Opfern. Die meisten von ihnen waren Frauen, Kinder und ältere Menschen. Über 100.000 Alawiten sollen inzwischen nach Libanon geflüchtet sein. Die Forderung nach Aufklärung der Massaker wurde bislang nicht erfüllt.

Rezept für Ein-Mann-Herrschaft

Am 10. März unterzeichneten der syrische Präsident al-Sharaa und der kurdische Oberkommandierende Mazlum Kobane ein bahnbrechendes Abkommen. Dieses sieht einen Waffenstillstand zwischen ihren Streitkräften, die Entmilitarisierung der Städte und das Recht der Vertriebenen auf Rückkehr in ihre Heimat vor. Das Abkommen garantiert gleiche kulturelle und politische Rechte für alle. Bis Ende des Jahres sollten die Streitkräfte von Rojava in die syrische Armee integriert werden.

Mitte März legte al-Sharaa einen Verfassungsentwurf vor, der dem Präsidenten nahezu uneingeschränkte Exekutivrechte einräumt. Gemäss dem aus 53 Artikeln bestehende Dokument darf er faktisch alle Mitglieder der Legislative sowie alle sieben Mitglieder des Obersten Verfassungsgerichts ohne parlamentarische oder sonstige Kontrolle ernennen. Der Verfassungsentwurf erklärte die islamische Rechtsprechung zur Hauptquelle der Gesetzgebung und legte die Dauer der Übergangsregierung auf fünf Jahre fest. 

Al-Sharaas Versprechen, eine inklusive Regierung zu bilden, die die Vielfalt Syriens widerspiegelt, schien bereits in Vergessenheit geraten zu sein. Al-Sharaa hat die Minderheiten weder in Bezug auf die Verfassung konsultiert noch sie um ihre Meinung gefragt, als er Ende März sein neues Kabinett vorstellte. Enttäuscht lehnten Kurden, Drusen, Alawiten und Christen nacheinander das Diktat aus Damaskus ab. In der Verfassung von 2012 unter Bashar al-Assad komme das Wort «Demokratie» vier oder fünfmal vor, in der aktuellen hingegen kein einziges Mal, mockierte sich Mohammed A. Salih, Analyst für regionale und kurdische Angelegenheiten, gegenüber dem unabhängigen türkischen Internetportal BIANET. Das Vertrauen zwischen der sunnitischen Mehrheit des Landes und den Minderheiten war innert vier Monaten offenbar ganz verspielt.

Neuer Gewaltausbruch

Am Dienstag kam es dann in Jaramana und Sahnaja, beide hauptsächlich von Drusen besiedelte Vororte von Damaskus, zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den sunnitischen Truppen von al-Sharaa und lokalen drusischen Kämpfern. Eine kurzzeitig im Internet aufgetauchte Tonaufnahme, die angeblich Beleidigungen des Propheten Mohammed enthielt, wurde dem prominenten drusischen Geistlichen Scheich Marwan Kiwan zugeschrieben, was dieser jedoch «kategorisch und entschieden» zurückwies. Dennoch mobilisierte der Clip regierungsnahe Kräfte, die sich am späten Abend in Jaramana und Sahnaja heftige Gefechte mit drusischen Kämpfern lieferten. Mindestens 18 Menschen kamen ums Leben und Dutzende wurden verletzt. 

Israel hat am Mittwoch erneut mehrere Luftangriffe gegen Syrien geflogen, diesmal angeblich zum Schutz der Drusen. Denn seit dem Machtwechsel in Damaskus hat sich der israelische Ministerpräsident eigenmächtig zum Schutzpatron der Drusen in Syrien erklärt.

Als «inakzeptable Provokation» hat der türkische Präsident Erdoğan die Luftanschläge Israels bezeichnet. Denn auch er sieht sich seit dem Machtwechsel in Damaskus in der selbstauferlegten Rolle des Schutzherrn der Regierung al-Sharaa. «Wir werden auf unterschiedliche Weise auf jeden Versuch reagieren, unser Nachbarland in einen neuen Sumpf der Instabilität zu ziehen», fügte Erdoğan noch hinzu. Was Ankara in diesem Fall genau tun könnte, liess der türkische Präsident offen. Sicher ist nur, dass die Stabilität Syriens heute noch fragiler ist denn je.

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