
Syrien am Rande eines neuen Bürgerkriegs
(Red.) Der – selbsternannte – syrische Präsident al-Sharaa lobt die Wahlen als Meilenstein im politischen Wandel des Landes. Diese seine Aussage ist allerdings mit äußerster Vorsicht zu genießen. (cm)
Für den syrischen Interimspräsidenten Ahmed al-Sharaa begann diese Woche unter einem augenscheinlich guten Stern: Einen Tag zuvor hatten in seinem Land die ersten Parlamentswahlen seit dem Sturz des ehemaligen Machthabers Baschar al-Assad ohne nennenswerte sicherheitspolitische Zwischenfälle stattgefunden. Diese Abstimmung sei ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung, sagte er strahlend der Presse. Sie symbolisiere einen Meilenstein im politischen Wandel seines Landes.
Wahlen weder frei noch repräsentativ
Dabei waren diese Wahlen weder frei noch repräsentativ. Ein recht kompliziertes Wahlsystem erlaubte aus den Millionen Syrern lediglich 6.000 dem Präsidenten loyalen Personen, 140 Parlamentarier aus 1.578 von der Regierung ausgewählten Kandidaten zu wählen. 70 weitere Abgeordnete werden direkt vom Präsidenten ernannt. Das gerade gewählte Parlament mit insgesamt 210 Mitgliedern garantiert, dass der Präsident für die nächsten drei Jahre wie jeder andere Autokrat auch faktisch ohne Widerspruch oder Opposition nach Belieben regieren darf.
Zu den großen Verlierern gehören die verschiedenen religiösen und ethnischen Minderheiten, die immerhin 35 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Alawiten, die mit rund 15 Prozent die größte religiöse Minderheit in Syrien bilden, und die Christen unterschiedlicher Konfessionen wurden zu der Abstimmung nicht einmal konsultiert. Die Kurden im Nordosten des Landes und die Drusen im Süden waren laut der offiziellen Verlautbarung aufgrund der «ungewissen Sicherheitslage in ihrem Gebiet» vom komplizierten Wahlsystem ausdrücklich ausgeschlossen.
Zu den großen Verlierern dieser Wahlen gehören schließlich auch die Frauen. Im 210 Mitglieder zählenden Parlament werden nur sechs Frauen sitzen, was gerade einmal 4 Prozent der Sitze entspricht.
Ist die Chance auf Frieden vertan?
Ist mit dieser Abstimmung in Syrien eine einmalige Chance vertan, das vom Bürgerkrieg und von Zerstörung geschundene Land zu einen?
Für die USA wäre es in Wirklichkeit ein Leichtes, die Regierung vor einer Wahlmanipulation in diesem großen Stil zu warnen. Nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad sind die USA der einzige große ausländische Akteur in Syrien. Die USA haben dies jedoch nicht getan.
Statt Damaskus vor Wahlfälschungen zu mahnen, habe die US-Politik gemeinsam mit der syrischen Regierung versucht, die Minderheiten «durch ständigen Druck zu zermürben», sagte Salih Muslim, ein einflussreicher kurdische Politiker aus Nordsyrien, am Mittwoch gegenüber der kurdischen Internetplattform anf. «Sie forderten von uns, unsere Autonomie aufzugeben, unsere Waffen abzugeben und bedingungslos Teil des syrischen Staates zu werden». Ihr Ziel war es laut Salih Muslim, bei der 80. Tagung der Vereinten Nationen Ahmed al-Sharaa als alternativen Staatsmann für ein einheitliches Syrien zu legitimieren».
Ein Gewinner; kein Verlierer wie Assad
Es sei «absolut wichtig, dass Syrien ein einheitlicher, friedlicher Staat im Zentrum des Nahen Ostens ist», bestätigte gegenüber der nordirakischen kurdischen Nachrichtenagentur rudaw auch James Jeffrey. Washington arbeite daran, sicherzustellen, dass Ahmed al-Sharaa ein «Gewinner und kein Verlierer wird, kein zweiter Assad». Denn: «Wir haben wirklich keine Alternative. Das ist unsere Politik», so Jeffrey. Jeffrey diente von 2019 bis 2020 als Sondergesandter Washingtons für die von den USA geführte globale Koalition gegen den Islamischen Staat (ISIS). Seine Stimme hat Gewicht. Wie so oft nach der Machtübernahme Donald Trumps fügten sich die EU und Großbritannien ohne Widerrede dem Willen Washingtons, auch in der Frage Syrien.
Tatsache ist, dass Ahmed al-Sharaa bei der 80. Tagung der Vereinten Nationen von der Weltgemeinschaft fast wie ein Popstar gefeiert wurde. In zahlreichen Fernsehsendungen war zu sehen, wie sich dieser Al-Qaida-Kämpfer, der im Westen einst gefürchtet war, in einem durchaus freundlichen Gespräch mit General David Petraeus, dem berühmtesten Kommandeur der USA im Irakkrieg, austauschte. Surreal? Man könnte meinen: Ja. Schließlich hatten die USA Al-Sharaa bis 2018 mit einem Kopfgeld von 10.000 US-Dollar zur Fahndung ausgeschrieben.
Auch die Szene, in der Donald Trump Seite an Seite mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan am Kopf eines großen Tisches sitzt und mit einflussreichen arabischen Politikern über die Zukunft Gazas diskutiert, wurde immer wieder gerne ausgestrahlt. Donald Trump bewundert starke Männer wie Ahmed al-Sharaa und scheint den türkischen Präsidenten geradezu zu verehren. Während der gemeinsamen Treffen überschüttete Trump seinen Gast aus der Türkei fortwährend mit Lob, nannte ihn einen «harten Kerl», einen «großen Führer» und jemanden, den er «respektiere». Erdogan verstehe sich bestens mit «Wahlmanipulationen», sagte Trump, und ließ allerdings offen, ob er dies aus Bewunderung oder als Kritik meinte.
Carte Blanche
Ahmed al-Sharaa und Recep Tayyip Erdoğan kehrten von der 80. Tagung der Vereinten Nationen jedenfalls mit der Gewissheit zurück, von der internationalen Gemeinschaft eine Art Carte Blanche für ihre Politik erhalten zu haben.
Hochmut ist jedoch oft ein schlechter Ratgeber. Gerade als al-Sharaa der Öffentlichkeit in Damaskus versicherte, die Wahlen würden für Syrien ein bedeutender Schritt in die richtige Richtung und eine Zäsur sein, stand sein Land bereits am Rande eines neuen Bürgerkriegs. Hatte der syrische Präsident von den gewaltsamen Entwicklungen in der zweitgrößten Stadt Syriens, Aleppo, gewusst und sie bewusst verschwiegen? Oder hatte er nicht alle mit seiner Regierung verbündeten Sicherheitskräfte unter Kontrolle?
Laut übereinstimmenden Presseberichten haben am vergangenen Montag-Nachmittag mit seiner Regierung verbündete Truppen in Aleppo alle Zugangsstraßen zu den zwei von Kurden bewohnten und von Kurden kontrollierten Viertel Sheikh Maqsoud und Ashrafiyyeh gesperrt. Es war zwar nicht das erste Mal, dass solche Truppen Hilfs- und medizinische Lieferungen nicht zuließen und den Zugang zu diesen Vierteln blockierten. Als vergangenen Montag aber alle sieben Zugangsstraßen gesperrt wurden, entstand Panik. Eine Demonstration in den belagerten Vierteln endete tödlich. Laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden «mehr als ein Dutzend Demonstranten bei einem gewaltsamen Vorgehen der mit der Regierung in Damaskus verbündeten Sicherheitskräfte verletzt».
Die von Damaskus unterstützten Syrischen Weißhelme gaben hingegen an, dass eine Person getötet und fünf weitere durch «Raketenbeschuss», die aus den Vierteln kam, verletzt worden seien.
Ein Déjà-vu für die Minderheiten
Was auch stimmen mag – für die Minderheiten mutete das Vorgehen wie ein Déjà-vu an. Im März dieses Jahres wurden in der alawitischen Hochburg der Provinz Latakia über 1700 Menschen brutal ermordet und Abertausende in die Flucht getrieben. Laut einem Bericht, den Amnesty International Ende Juli veröffentlichte, waren 298 regierungsnahe Soldaten direkt an den Massakern beteiligt.
Ein Bombenanschlag auf die griechisch-orthodoxe Mar-Elias-Kirche in Damaskus Mitte Juni hatte mindestens 25 Menschen getötet und über 60 weitere verletzt. Das Attentat, zu dem sich eine Splittergruppe von Dschihadisten bekannt hatte, sorgte für Verunsicherung unter den christlichen Minderheiten. Die neue Migrationswelle der Christen aus Syrien will seither jedenfalls nicht nachlassen.
Nur einen Monat später brachen in Suweida, einer Stadt im Süden des Landes, Unruhen aus. Suweida ist die Heimat der drusischen Minderheit und arabischer Stämme. Auch das Blutvergießen in Suweida hatte weit über 1000 Menschen das Leben gekostet und Abertausende in die Flucht gezwungen. Als am vergangenen Montag die Gefechte in den kurdischen Vierteln Aleppos begannen, glaubte die kurdische Minderheit, dass nun auch sie an der Reihe sind.
Amerikaner in Alarmstimmung
Im Gegensatz zu Christen, Alawiten und Drusen ist die kurdische SDF-Miliz von den USA ausgebildet und im Kampf gegen die Dschihadisten des IS mit modernsten Waffen ausgerüstet. Sie ist den mit der Regierung verbündeten Truppen ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen.
Am späten Montagabend transportierten US-Militärhubschrauber eine hochrangige Delegation aus der sogenannten Demokratischen Autonomen Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) heimlich nach Damaskus. Bei diesem Flug wurden der oberste Kommandeur der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Mazlum Kobane, die als Außenministerin fungierende Elham Ahmed und Rohilat Afrin, Kommandantin der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), vom US-Botschafter Tom Barrack und dem obersten Befehlshaber aller amerikanischen Streitkräfte im Nahen Osten, US-Admiral Brad Cooper, begleitet. Offensichtlich waren sich der amerikanische Diplomat und der Offizier einig, dass Syrien ihnen um die Ohren fliegen würde.
Nach einem außerordentlichen Treffen mit Ahmed al-Sharaa wurde am Dienstagmorgen eine «sofortige» Waffenruhe an allen Fronten im Norden und Nordosten erklärt.
Am Mittwoch meldete die im Nahen Osten meist gut informierte Internetplattform al-Monitor jedoch, dass die Belagerung der kurdischen Stadtteile in Aleppo trotz der Waffenruhe nach wie vor anhalte. Demnach würden syrische Regierungstruppen die Zufuhr von Lebensmitteln und Treibstoff in die überwiegend kurdischen Stadtteile Sheikh Maqsud und al-Ashrafiyeh blockieren, die Wasser- und Stromversorgung unterbrechen und Zivilisten daran hindern, das Gebiet zu betreten oder zu verlassen.
Am Donnerstagmorgen meldeten sowohl das syrische Verteidigungsministerium als auch die von Kurden geführte SDF den Ausbruch neuer Gefechte in der Nähe des Tishreen-Staudamms. Dabei beschuldigten sie sich gegenseitig, den gerade abgeschlossenen Waffenstillstand gebrochen zu haben.