Sumud – Standhaftigkeit im Heiligen Land
(Red.) Die Weihnachtsgeschichte ist keine europäische Erfindung. Alle drei monotheistischen Religionen, das Judentum, der Islam und das Christentum, sind im heutigen Nahen Osten entstanden. Es gibt keinen Grund, warum Palästina allein den Juden gehören sollte. Ein Blick zurück in die Geschichte – und ein aktueller Blick, wie Israel immer mehr von Palästina für sich allein beansprucht. (cm)
Ein „Weihnachten voller Licht nach zwei Jahren der Dunkelheit“ sollte am 24. Dezember 2025 in Bethlehem gefeiert werden. Aufgerufen hatte Kardinal Pierbattista Pizzaballa, der Lateinische Patriarch von Jerusalem. Der Franziskanermönch ist der ranghöchste katholische Vertreter im Heiligen Land, wo heute verschiedene Länder liegen. Pizzaballa ist offiziell im Auftrag des Vatikans zuständig für Palästina, Israel, Jordanien und Zypern.
Die Christen der anderen Länder der Region gehören verschiedenen Kirchen an, die sich als „Ostkirchen“ zumeist im „Middle East Council of Churches“ (MECC) zusammengeschlossen haben und dem Vatikan eher distanziert gegenüberstehen. Diese christlichen Gemeinden sind armenisch, orthodox, katholisch, lateinisch und einige sind auch miteinander verbunden. Besonders groß ist die Vielfalt der christlichen Kirchen im Irak und in Syrien. Letzteres gilt als „Wiege des Christentums“, wo man in Maalula noch aramäisch spricht, die Sprache von Jesus Christus. Wo in Damaskus aus Saulus, dem jüdischen Pharisäer und römischen Bürger, der Jagd auf Christen machte, Paulus wurde, einer der ersten, der Jesus als Jünger folgte. Ihm soll in Damaskus Jesus erschienen sein, woraufhin er sein Leben änderte.
Das so genannte „Damaskus-Erlebnis“ ist in der Altstadt von Damaskus wohl bekannt. Eine kleine Kapelle, benannt nach Ananias, der Saulus in dessen Versteck aufsuchte, taufte und segnete und ihm vor den Verfolgern Zuflucht gewährte, und das Kissan Tor, Bab Kissan in der alten Stadtmauer, wo Paulus angeblich in einem Korb vor seinen Verfolgern herabgelassen wurde, gehören zu den wichtigen Stationen von Rundgängen für alle, die die Altstadt von Damaskus besuchen.
Ein Kunstreiseführer aus dem Jahr 2011 räumt ein, dass es sich um eine Legende handeln muss, zumal das Kissan Tor erst Hunderte Jahre später erbaut wurde. Dieses „Damaskus-Erlebnis“ jedoch ist zu einem christlich geprägten geflügelten Wort geworden. Es beschreibt ein Schlüsselerlebnis, das Personen dazu bringt, bisheriges, verwerfliches Handeln von einem Tag auf den anderen ins Gegenteil, also zum Guten hin zu verändern. In der Neuzeit kommt es so gut wie nie vor.
Das Heilige Land
Die Bezeichnung „Heiliges Land“ markiert das Land, in dem die drei großen Religionen Judentum, Christentum, Islam entstanden waren. In der arabischen und muslimischen Welt gelten sie als „die Religionen mit einem Buch“, womit die Thora, die Bibel und der Koran gemeint ist. Historisch gesehen entwickelten sich diese „Buch-Religionen“ aus religiösen Strömungen verschiedener Stämme, Reiche und Herrscher des Zweistromlandes nicht zuletzt unter dem Einfluss ausländischer Kulturen und Herrscher, die die Region durchzogen oder kontrollieren und wirtschaftlich nutzen oder ausbeuten wollten.
Ausgrabungen zeigen, dass jüdische Tempel auf religiösen Stätten polytheistischer Naturreligionen entstanden, darauf wurden christliche Basiliken errichtet, auf oder neben denen schließlich Moscheen entstanden. In den ältesten Städten der Region, die lange vor jüdischer, christlicher oder islamischer Zeitrechnung entstanden waren – Bagdad, Aleppo, Damaskus, Jerusalem, Kairo – finden sich die unterschiedlichsten religiösen Zeugnisse. Je nach gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten und Sprachen, je nach Drohungen und Gewaltverhältnissen, wechselte die Bevölkerung von einer Religion zu der eines neuen Herrschers. Vorhandene Religionen entwickelten sich versteckt – weil sie verfolgt wurden – mit diesem oder jenem besonderen Merkmal. Besonders viele Zeugnisse dieser Übergänge finden sich in Syrien, im nördlichen und zentralen Irak und im westlichen und südwestlichen Iran, dem klassischen Zweistromland. In der antiken Wüstenstadt Hatra im heutigen nördlichen Irak finden sich Torbögen mit Reliefs, die zahlreiche Tiere und Naturgottheiten darstellten. Diese religiöse Kultstätte zeigt, wie in der damaligen Handelsstadt Hatra neue religiöse Strömungen in das gesellschaftliche Leben aufgenommen wurden.
Nur wer seine Geschichte kennt, hat eine Zukunft
Der heute bestehende Konflikt im so genannten „Nahen Osten“ – das ist eine europäische, westliche Perspektive – ist auf die Verbindung von Religion und politischer Herrschaft zurückzuführen, was sich besonders im 19./20. Jahrhundert entwickelte. Westliche „Entdecker“ und Missionare suchten seit den „Kreuzzügen“ zwischen dem 11. – 13. Jahrhundert Verbündete unter Stämmen und Religionen, um sich Einfluß in der ressourcenreichen und geostrategisch wichtigen Region zu verschaffen.
Allen voran sind europäische Kolonialmächte für die verheerende heutige Lage verantwortlich: die Briten, Franzosen und auch die Deutschen. Die europäisch geprägte Zionistische Nationalbewegung stieg in den Wettlauf um die Region ein, der zum Ende des Osmanischen Reiches um die Jahrhundertwende und im Ersten Weltkrieg seinen Höhepunkt fand. Die Zionisten instrumentalisierten die jüdische Religion als nationales Judentum, das in Europa seit Jahrhunderten unter Druck war, um einen „Judenstaat“ in Palästina zu errichten, das sie als ihr angestammtes Reich propagierten. Sie wurden von Europäern unterstützt und nach dem Ersten Weltkrieg segnete der Völkerbund das Vorhaben ab.
Im Mandatstext für das Britische Mandatsgebiet Palästina, der am 22.Juli 1922 in Kraft trat, heißt es in der Präambel, der Mandatar (Großbritannien) „ist verantwortlich für die Umsetzung der Balfour Erklärung (17.11.1917), mit der Großbritannien die Errichtung einer nationalen Heimstatt in Palästina für das jüdische Volk unterstützt.“ Der Völkerbund erkenne zudem „den historischen Bezug des jüdischen Volkes zu Palästina“ an sowie „die Gründe für die Wiederherstellung ihrer nationalen Heimat in diesem Land“. Der Mandatar (Großbritannien) solle die Errichtung dieser jüdischen Heimstätte in Palästina „sichern“, heißt es in Artikel 2 und die (britische) „Verwaltung Palästinas soll die jüdische Einwanderung erleichtern“ (Artikel 6).
Die Palästinenser und die in der Region lebende arabische Bevölkerung – egal welcher Religion – wurden vom Völkerbund nicht gefragt. Gefragt worden waren sie von der „King-Crane-Kommission“ 1919, eine Kommission, die auf einen Vorschlag der USA zurückging. Dabei sprach sich die deutliche Mehrheit gegen die Gründung eines jüdischen Staates aus. Der Völkerbund ignorierte mehr als 1800 schriftliche Eingaben, die der Kommission von der Bevölkerung in zahlreichen Städten der Levante übergeben worden waren. Der Abschlussbericht verschwand in US-Archiven.
Ein Frieden, der jeden Frieden beendet
Diese Aussage des britischen Offiziers Archibald Wavell, der im Palästina-Krieg 1917 gekämpft hatte, war prophetisch. Die Balfour-Erklärung, die 1917 die Ansiedlung eines „Judenstaates“ in Palästina durch die britische Krone unterstützte und mit dem Mandat des Völkerbundes 1922 bekräftigt wurde, mißachtete den Willen der arabischen Bevölkerung im historischen Palästina und in den ehemaligen arabischen Provinzen des zerfallenen Osmanischen Reiches. Darüber hinaus war die Erklärung ein Verrat der Briten an Zusagen, die sie der Arabischen Unabhängigkeitsbewegung zuvor gemacht hatten. Die Folge war die deutliche Zunahme der von Zionisten seit 1882 organisierten jüdischen Einwanderung. Zionistische Organisationen kauften Land von arabischen Großgrundbesitzern, die palästinensische Landbevölkerung verlor ihre Arbeit und bisherige Rechte. Der Bau von Siedlungen nahm zu, die rasch zu Städten anwuchsen. 1921 wurde beispielsweise direkt neben der arabischen Hafenstadt Jaffa die Siedlung Tel Aviv gebaut, um dort 3600 jüdische Einwanderer unterzubringen. Nur vier Jahre später, 1925, wohnten in Tel Aviv 40.000 jüdische Einwanderer.
Zwischen 1932 und 1939 nahm die jüdische Zuwanderung erneut zu, die palästinensische Bevölkerung reagierte mit Protesten und 1936 mit einem Streik, der von der jüdischen Siedlerpolizei, den Briten und zionistischen Milizen blutig niedergeschlagen wurde. 1944/45 kamen erneut tausende jüdische Zuwanderer ins Land, die Briten übergaben ihr Mandat an die neu gegründeten Vereinten Nationen. Die entschieden 1947 eine Teilung des britischen Mandatsgebietes Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat, die so genannte „Zwei-Staaten-Lösung“.
Es folgte 1947/48 die militärische Vertreibung von mehr als 700.000 Palästinensern durch zionistische Milizen. Dörfer wurden geplündert und zerstört, Menschen getötet. Die Überlebenden flohen zumeist zu Fuß in den Libanon, nach Syrien, Jordanien oder sie wurden zu Inlandsvertriebenen in ihrer palästinensischen Heimat. Die Palästinenser sprechen von der Nakba, der Katastrophe. Nach der Gründung des Staates Israel (1948) folgte ein Krieg zwischen Israel und den arabischen Nachbarländern, die die Staatsgründung Israels nicht anerkannten und Palästina schützen wollten. Der Krieg endete im Juli 1949 damit, dass Israels Truppen 78% des gesamten britischen Mandatsgebietes besetzt hatten. Rund 500.000 Palästinensern blieben nur 22% des Landes: Ostjerusalem, Westjordanland und der Gaza-Streifen.
Standhaftigkeit im Heiligen Land
Der jüngste Krieg gegen Gaza, der am 7. Oktober 2023 nach einem palästinensischen Überfall aus Gaza begann und mehr als 2 Jahre anhielt, sollte den „jüdischen Staat“ „verteidigen“, wie es hieß. Es war aber nur die Rache auf den Widerstand der Nachfahren von denjenigen, die schon 1919 gegen die Gründung eines „jüdischen Staates in Palästina“ gestimmt hatten. Ihre Vorfahren hatten in den Dörfern gelebt, die heute von Israel beansprucht werden.
Seit Generationen beharren die Palästinenser auf ihrer Heimat, auf ihrem Land, das sie bebaut, bewirtschaftet, besungen, beschrieben, das sie auf Hochzeitskleider gestickt haben. Wo sie Fremde seit Jahrhunderten willkommen geheißen, manchmal vertrieben, sie immer mit Wasser versorgt haben. Sie leben standhaft auf trockenem Boden, weil die Besatzer ihr Wasser stehlen. Sie leben standhaft in Trümmern, um nah an den Gräbern ihrer Vorfahren zu sein. Sie trotzen standhaft einer Besatzungsmacht, deren extremste und brutalste Vertreter sich als „auserwähltes Volk“ auf angebliche heilige Texte berufen, die ihnen das Land Palästina zu eigen gemacht haben sollen.
In mehr als 100 Jahren Krieg gegen Palästina ist der Krieg dieser „Auserwählten“ immer blutiger und brutaler geworden und hat sich über die palästinensischen Gebiete hinaus auf den Libanon, Syrien, auf Irak, Iran und Jemen ausgeweitet. Der jüngste Gaza-Krieg mündete in einem Rachefeldzug gegen ein wehrloses Volk, dessen Lebensgrundlagen zerstört wurden. Das internationale Recht spricht von Kriegsverbrechen und einem Völkermord, der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, einer UN-Einrichtung, untersucht wird.
Weniger als ein Stall und eine Krippe.
„Das Licht von Bethlehem“, das am Weihnachtstag 2025 die ganze Welt erleuchten sollte, prallt an den Mauern und Zäunen ab, mit denen Israel sich umgibt. Das Licht von Bethlehem prallt ab an der Arroganz und Überheblichkeit derjenigen, die – wie Israel und dessen Partner – mit anderen nicht verhandeln, nicht reden, andere nicht respektieren, sondern Panzer, Drohnen, Kampfjets und Waffen künstlicher Intelligenz entwickeln, um sich nicht nur das historische Palästina, sondern „die Erde untertan machen wollen.“ Den Palästinensern bleibt heute weniger als ein Stall und eine Krippe.
Am Heiligen Abend, während in Bethlehem die Lichter erstrahlten, erklärte Benjamin Netanyahu, Israel werde rund 93 Milliarden Euro in den nächsten zehn Jahren in die landeseigene Rüstungsindustrie investieren. Israel wolle sich von anderen Staaten unabhängig machen, die – wie die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien – das Land mit allem, was die Rüstungsindustrie zu bieten hat, versorgen. Die USA und Deutschland stehen dabei an erster Stelle. Deutschland unterstützt Israel und seine Rüstungsindustrie auch, indem es Rüstungsgüter von Israel kauft.
In der Woche vor Weihnachten unterschrieben Deutschland und Israel den Vertrag zur Erweiterung des an die Bundeswehr gelieferten israelischen Raketenabwehrsystems Arrow 3. Israelischen Angaben zufolge beläuft sich der Gesamtwert – inklusive der Anschaffung des Grundsystems – auf umgerechnet rund 5,7 Milliarden Euro. Es handelt sich um das größte Rüstungsgeschäft in der Geschichte des jüdischen Staats. Umgekehrt liefert Deutschland schon seit Jahrzehnten auch größere Waffensysteme nach Israel.
Kriegsgegner, die in Deutschland (Ulm) und Großbritannien gegen die israelische Rüstungsfirma Elbit protestiert haben, die in zahlreichen europäischen und NATO-Ländern Produktionswerke unterhält, werden inhaftiert und in Einzelhaft gequält.
Auch diese britischen und deutschen Haftzellen erstrahlten an Heilig Abend vermutlich nicht im Licht von Bethlehem. Es strahlte vor allem für die Fernsehkameras, die mit der Hoffnung der Menschen nach dem zweijährigen Vernichtungskrieg gegen die Menschen im Gaza-Streifen eine „gute Botschaft“ verkünden wollten. Kardinal Pizzaballa weiß das, denn er hatte am Wochenende vor Weihnachten Gaza und die dortige katholische Gemeinde besucht und bei den Menschen weniger Hoffnung als vor allem Fragen, Probleme und Zweifel vorgefunden. Die Menschen befänden sich „in einer Art Überlebensmodus“, so der Kardinal. Sicherlich käme auch die Erschöpfung zum Vorschein und die Frage, wie soll es weitergehen? Auf dem Gelände der Pfarrei in Gaza leben rund 400 Christen, die – wie alle Bewohner von Gaza – alles verloren haben. Vor dem Krieg lebten in Gaza mehr als doppelt so viele Christen, 1017 Personen. Die Zahl der Christen in Gaza drohe nun weiter zu sinken, so Pizzaballa. Die Versuchung, abzuwandern, bleibe bestehen.
Keine Sorge, meint der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, der sich und die israelische Armee in einem Wiederauferstehungskrieg sieht. In einer Weihnachtsbotschaft „an die Christen in aller Welt“ erklärte er, Israel sei das einzige Land im Mittleren Osten, wo die Zahl der Christen ansteige. In Irak, Syrien, Libanon, Türkei und in dem Gebiet unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde gehe die Zahl der Christen drastisch zurück. Israel stehe in der ganzen Region an ihrer Seite, so der israelische Premierminister. „Ihr, Christen, sollt wissen, dass wir immer an Eurer Seite stehen werden“, so Netanyahu.
Doch ob für Christen oder Muslime, so wenig wie in Gaza, gibt es in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten in Ostjerusalem und im Westjordanland Sicherheit für die Menschen. Weder in Gaza, nicht im Westjordanland, nicht im Libanon und auch nicht in Syrien werden die von Israel getöteten Menschen nach Religionen unterschieden. Die wohl bekannteste palästinensische Journalistin, die 2022 von einem israelischen Scharfschützen im Flüchtlingslager Jenin ermordet wurde, war Shireen Abu Akleh,Palästinenserin mit US-Staatsangehörigkeit, die für Al Jazeera aus dem Westjordanland berichtet hatte. Auf ihrem Sarg, der von der Kirche zum Friedhof getragen werden sollte, lag die palästinensische Fahne. Die Trauernden, die den Sarg trugen, wurden rücksichtslos von israelischen „Sicherheitskräften“ attackiert. Christliche Pilger in Ostjerusalem werden von extremistischen Siedlern bespuckt und drangsaliert, ebenso wie die muslimischen Gläubigen angegriffen werden, wenn sie in der Al Aksa Moschee beten wollen. Christliche Palästinenser, die am Ostersamstag 2025 die Grabeskirche in Ostjerusalem besuchen wollten, wurden von israelischen Polizeikräften abgedrängt.
Im Sommer 2025 wurde das Dorf Taybeh im Westjordanland von extremen Siedlern wiederholt angegriffen: Felder wurden angezündet, Häuser überfallen, Bewohner mit Waffen bedroht. Die überwiegend christliche Bevölkerung wird daran gehindert, die Olivenhaine zu betreten, die ihre Familien seit Generationen bewirtschaften. In der unmittelbaren Nähe der St. Georgskirche, einem historischen und archäologischen Monument aus dem 5. Jahrhundert nachchristlicher Zeitrechnung, wurde Feuer gelegt, das von den Bewohnern von Taybeh gelöscht werden konnte. Die Angriffe richteten sich gegen die Bewohner des Landes, so Pfarrer Bashar Fawazieh im Gespräch mit dem türkischen Sender TRT. Alle palästinensischen Dörfer würden angegriffen. „Wir sind Nachbarn, wir sind Brüder und Schwestern und wir alle sind mit der gleichen Aggression und den Angriffen konfrontiert. Weil wir Palästinenser sind, nicht weil wir Christen oder Muslime sind.“
Israelische Besatzungsgewalt trifft alle
Im Deutschlandfunk wurde am 28.12.2025 über einen massiven Militäreinsatz der israelischen Armee gegen den Ort Kabatija berichtet. Der Ort sei Heimat eines Palästinensers, „der am Tag zuvor einen Mann mit seinem Auto überfahren und eine 18-Jährige erstochen“ haben solle. Er wurde anschließend angeschossen und in ein Krankenhaus gebracht. Der israelische Verteidigungsminister Katz erklärte, das Militär gehe „mit aller Härte gegen terroristische Zellen“ vor. Die Stadt sei vollständig abgeriegelt und umzingelt. Armeechef Eyal Samir kündigte Truppenverstärkung an. Hinzugefügt wurde vom Sender, „der Angriff erfolgte einen Tag nachdem ein israelischer Reservist in Zivil einen Palästinenser im Westjordanland mit seinem Fahrzeug gerammt hatte.“
Nicht berichtet wurde über die Umstände dieses Angriffs des Zivilisten, der in einem Video der Nachrichtenagentur Reuters verbreitet wurde. Demnach kniet ein Mann betend am Straßenrand, als ein Siedler mit einer Art Geländewagen direkt auf den Mann zurast und ihn umfährt. Der Mann bleibt unverletzt und geht über die Straße zu einem Fahrzeug. Der Siedler ist an dem Fahrzeug bereits angekommen und sprüht Pfeffergas in das Gesicht des Fahrers. Der Fahrer, der angegriffen wird, ist der Vater des Mannes, der am Straßenrand gebetet hatte. Er berichtet der Nachrichtenagentur später, sie hätten Stunden an einem israelischen Checkpoint gewartet, um nach Deir Jareer hineinfahren zu können, wo sie lebten. Es sei die Zeit des Gebets gewesen und sein Sohn sei ausgestiegen, um am Straßenrand zu beten. Dann habe er den Siedler in dem Geländefahrzeug gesehen, der seinen Sohn angefahren habe. Im Krankenhaus habe man glücklicherweise keine Verletzungen bei seinem Sohn festgestellt.
Reuters kontaktierte die israelische Armee, die den Fall bestätigte. Der Fahrer des Geländefahrzeugs sei Reservist in zivil gewesen und habe „seine Befugnisse schwer verletzt“, er sei unter Hausarrest gestellt worden. Der Reutersbericht schließt ab mit dem Hinweis, dass das zurückliegende Jahr 2025 eines der Jahre mit den meisten Angriffen von Israelis gegen die palästinensische Zivilbevölkerung gewesen sei. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden 750 verletzte Palästinenser im Westjordanland gemeldet. Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 17. Oktober 2025 seien mehr als 1000 Palästinenser im Westjordanland getötet worden.
Liest man die Tagesmeldungen der palästinensischen Nachrichtenagentur WAFA wundert man sich nicht, dass die Menschen Angst haben.
Allein die Meldungen vom 26.12. sprechen Bände: „Israelische Besatzungskräfte haben den militärischen Kontrollpunkt Jaba, nördlich von Jerusalem, geschlossen“, hieß es in einer Meldung. Niemand komme nach Jerusalem, niemand komme heraus, die Lage dort sei chaotisch und unübersichtlich.
Israelische Luftangriffe bombardieren Khan Younis, Angriffe und Zerstörungen halten über dem Gaza-Streifen an. Diese Überschrift der palästinensischen Nachrichtenagentur WAFA wurde durch eine Luftaufnahme bekräftigt. Sie zeigte ein zerbombtes Haus und Menschen, die in den Trümmern nach Überlebenden und nach Dingen suchten, die nicht zerstört wurden. Es war Freitag, der zweite Weihnachtsfeiertag in Europa, als die israelische Armee mindestens vier Mal im Süden und Osten von Khan Younis bombardierte. Gleichzeitig sei von israelischen Hubschraubern und von israelischen Kampffahrzeugen auf das Gebiet geschossen worden. In Gaza Stadt seien Häuser zerstört worden, auch hier bombardierten Kampfjets der israelischen Luftwaffe Stadtteile. In Rafah feuerten israelische Kampfhubschrauber auf Wohngebiete, israelische Kriegsschiffe beschossen Khan Younis, das im Süden des Gaza-Streifens liegt. Seit Beginn dessen, was offiziell als „Waffenruhe“ am 10. Oktober bezeichnet wird, kamen mindestens 406 Personen ums Leben, berichtete WAFA am 26.Dezember. Mehr als 1.118 wurden verletzt.
Siedler verprügelten zwei palästinensische Viehhirten und stahlen 150 Schafe, die in der Obhut der beiden Arbeiter östlich von Ramallah waren. Ziel des Angriffs war ein Bauernhof östlich von Ramallah, bei Deir Dibwan, berichtete WAFA. Die Höfe dort würden seit Monaten von gewalttätigen Siedlern überfallen, das Weideland und ziviles Eigentum würden zerstört, Viehherden gestohlen. Ziel sei, die Landeigentümer von ihren Höfen zu zwingen, die israelischen Besatzungstruppen schützten die Siedler und seien deren Komplizen.
Am gleichen Tag, am 26. Dezember, wies der israelische Außenminister Gideon Sa’ar internationale Kritik an der Entscheidung, 19 neue Siedlungen im Westjordanland zu bauen, mit scharfen Worten zurück. Ausländische Regierungen könnten nicht das Recht der Juden einschränken, im Land Israel zu leben, so Sa’ar. Schon so eine Kritik sei „moralisch falsch“ und „diskriminiert Juden“. Die Ausweitung (der Siedlungen) sei beabsichtigt und werde, neben anderen Maßnahmen, dazu beitragen, die bedrohte Sicherheit Israels zu schützen. Es stimme mit dem internationalen Recht überein.
Bereits einen Tag zuvor, am 25. Dezember, erklärte der israelische Verteidigungsminister Israel Katz, Israel werde niemals die Truppen aus dem Gaza-Streifen abziehen. „Innerhalb des Gaza-Streifens wird es eine beträchtliche Sicherheitszone“ geben, so Israel Katz bei einer Veranstaltung der Zeitung «Makor Rischon», die der Siedlerbewegung nahesteht. Im nördlichen Teil des Küstengebiets könnten in Zukunft israelische Siedlungskerne errichtet werden, die die Sicherheitszone dann auch schützen würde, sagte er weiter. Solche Maßnahmen sind in der Geschichte der Siedlerbewegung auch als „Wehrdörfer“ bekannt.
Im Juli 2024 hatte der Internationale UN-Gerichtshof in Den Haag erklärt, die israelische Besatzung in den palästinensischen Gebieten sei illegal und müsse so schnell es geht beendet werden. Der Siedlungsbau müsse eingestellt werden, die Besatzungsmacht müsse das besetzte Gebiet verlassen.
Weihnachten ist keine westliche Geschichte
So meldete sich der evangelische Pfarrer Munther Isaac aus Ramallah am Heiligen Abend zu Wort. In einem Kommentar für Al Jazeera Englisch wurde er deutlich: Gerade zu Weihnachten sei „in den Vereinigten Staaten und Europa (…) oft von „westlichen christlichen Werten“ oder sogar von dem vagen Begriff der „jüdisch-christlichen Zivilisation“ die Rede. Die Ausdrücke seien so geläufig geworden, dass viele meinten, das Christentum sei eine westliche Religion und ein Ausdruck europäischer Kultur, Geschichte, Identität. „Das ist jedoch nicht der Fall“, so der Pastor weiter.
Das Christentum sei heute und immer eine Religion des Mittleren Ostens, Westasiens gewesen. Es stamme von Völkern, Sprachen und sozialen Strukturen ab, die mehr mit Palästina, Syrien, Libanon, Irak und Jordanien zu tun habe, „als alles, was man sich in Europa so vorstellt“. Selbst das Judentum sei ein Phänomen, das durch und durch aus dem Mittleren Osten stamme. Der Westen habe das Christentum bekommen, sei aber mit Sicherheit nicht dessen Ursprung.
Das bekannte Weihnachtslied „Stille Nacht“ verschleiere die wahre Geschichte, denn Jesus sei nicht in Ruhe geboren worden, sondern inmitten von Unruhen. „Er wurde unter militärischer Besatzung geboren, in eine Familie, die durch einen kaiserlichen Erlass vertrieben worden war, in einer Region, die unter dem Schatten der Gewalt lebte. Die heilige Familie war gezwungen, als Flüchtlinge zu fliehen, weil die Kinder von Bethlehem laut der Erzählung im Evangelium von einem furchterregenden Tyrannen massakriert wurden, der entschlossen war, seine Herrschaft zu erhalten. Kommt Ihnen das bekannt vor?“
Weihnachten sei eine Geschichte von Herrschaft, Ungerechtigkeit und von dem Leid und der Verletzlichkeit einfacher Menschen, die darin gefangen seien, so Pastor Isaac weiter. Bethlehem sei heute von Mauern und Kontrollpunkten umgeben, die von einer Besatzungsmacht errichtet worden seien. Seine Bewohner lebten unter einem System der Apartheid und Spaltung. Die Menschen im Westen feierten Weihnachten, ohne sich um die Christen in Bethlehem zu kümmern. Und schlimmer noch, so der Pastor aus Ramallah: „Viele vertreten theologische und politische Ansichten, die unsere Präsenz völlig ausblenden oder ablehnen, um Israel, das Imperium von heute, zu unterstützen.“
In den letzten zwei Jahren habe man Weihnachten nicht feiern können, weil sich in Gaza ein Völkermord ereignet habe, so Pastor Isaac. Man habe nicht die Geburt von Jesus feiern können, „während Kinder seines Alters tot aus den Trümmern geborgen wurden“. Dass in diesem Jahr wieder gefeiert werde, bedeute nicht, dass der Krieg, der Völkermord oder die Apartheid-Strukturen ein Ende gefunden hätten. Menschen würden weiter getötet und belagert. Die Weihnachtsfeiern seien ein Akt der Standhaftigkeit, arabisch „Sumud“. Man sei da und werde bleiben.
Bethlehem sei keine Legende, sondern eine lebendige Stadt, wo die Menschen sich nach Gerechtigkeit sehnten, nach Würde und Frieden. „Sich an Bethlehem zu erinnern, bedeutet sich daran zu erinnern, dass Gott an der Seite der Unterdrückten steht – und diejenigen, die Jesus folgen, sind aufgerufen, dasselbe zu tun.“