So verkommt die Presse – auch in der Schweiz!
In der Ausgabe vom 5. Oktober 2024 meldet die «Schweiz am Wochenende», dass sie aufgrund der neusten Erhebung einmal mehr die meistgelesene Zeitung der Schweiz ist: mit mehr als einer Million Lesern und Leserinnen. In der gleichen Ausgabe, auf der gleichen Seite 2 und in der gleichen linken Spalte schreibt der Chefredakteur dieser Zeitung – und eben auch Chefredakteur des ganzen Regionalzeitungssystems des Medien-Konzerns CH-Media – einen Kommentar zum Krieg in Israel. Und man erstarrt …
Wer Patrik Müller, eben diesen Chefredakteur, aus seinen Berichten und Kommentaren kennt, muss jeweils überlegen, ob es Sinn macht, seine Kommentare zu lesen. Zu oft hat er schon verraten, dass er zwar ein talentierter Schreiber ist, aber eben auch über Dinge schreibt, von denen er keine Ahnung hat. Eines seiner Beispiele für die Abwesenheit von historischem und politischem Wissen – oder eben auch bewusster Verzerrung – ist seine These, die Landung in der Normandie, der sogenannte D-Day am 6.6.1944, sei „die Wende“ im Zweiten Weltkrieg gewesen. Hat er schon mal ein ordentliches Geschichtsbuch gelesen, oder stinkt es ihm einfach, zu erwähnen, dass es die Rote Armee war, die Hitlers Wehrmacht in gigantischen Schlachten in Stalingrad im Winter 1942/43 und Kursk im Juli 1943 besiegt und zum Rückmarsch gezwungen hat?
Diesmal ging es, an diesem 5. Oktober vor dem 7. Oktober, dem Jahrestag des Hamas-Überfalls, zum Thema Israel. Und erneut merkt man, dass Patrik Müller keine Ahnung von der Geschichte Israels hat. Die Headline seines Kommentars:
Israel kämpft
ohne uns
für uns
Aha, Israel kämpft für uns! Und Patrik Müller schließt seinen Kommentar – ich habe ihn dann eben doch gelesen – mit diesem Satz:
«Wie die Ukraine kämpft Israel, die einzige Demokratie in Nahost, nicht nur für sich selbst – sondern auch für uns, für die westlichen Werte. Dafür sollten wir dankbar sein.»
Israel vertreibt und mordet in Gaza, in Westjordanland und nun auch im Libanon Hunderttausende von Palästinensern, und dies seit vielen Jahrzehnten. Für die Verteidigung „westlicher Werte“? Für uns? Und dafür sollen wir Israel dankbar sein? Es ist einfach unglaublich, was wir da lesen müssen!
«Das wenige, das ich lese, schreib ich mir selbst», pflegte Jürgen Frohner, der ehemalige Leiter der Münchner Journalistenschule, über gewisse Kollegen in den Medien zu spotten. Sein Bonmot hätte auch auf Patrik Müller bestens gepasst.
Hier ein paar Bücher, in der Schnelle aus meinem eigenen Büchergestell genommen, mit persönlichen Anstreichungen, dem Beleg, dass ich sie auch tatsächlich gelesen habe, alphabetisch nach deren Verfasser, also nicht aufgereiht nach Relevanz:
Peter Beinart: «The Crisis of Zionism»; 276 Seiten (Times Books)
Avraham Burg: «Hitler besiegen»; Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss; 280 Seiten (Verlag Campus)
Norman G. Finkelstein: «Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern»; Mythos und Realität; 396 Seiten (Verlag Diederichs)
Evelyn Hecht-Galinski: «Das Elfte Gebot: Israel darf Alles»; Klartexte über Antisemitismus und Israel-Kritik; 218 Seiten (Verlag Palmyra)
John J. Mearsheimer/Stephen M. Walt: «Die Israel-Lobby»; Wie die amerikanische Aussenpolitik beeinflusst wird; 490 Seiten (Verlag Campus)
Israel Shahak: «Jüdische Geschichte, Jüdische Religion»; 212 Seiten (Verlag Lühe)
Shlomo Sand: «Die Erfindung des jüdischen Volkes»; Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand; 498 Seiten (Verlag Propyläen)
Karin Wenger: «Checkpoint Huwara»; Israelische Elitesoldaten und palästinensische Widerstandskämpfer brechen das Schweigen; 270 Seiten (Verlag NZZ)
Moshe Zuckermann: «Der allgegenwärtige Antisemit»; Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit; 255 Seiten (Verlag Westend)
– und weil ich gerade nur im Ferienhaus bin, sind das auch nur die Bücher, die hier im Büchergestell stehen. Und man beachte: Außer der Schweizerin Karin Wenger sind alle Autoren der hier aufgeführten Bücher selber Juden! Es ist keine Sammlung von Büchern aus dem Feindesland.
Wäre schön, wenn der Chefredakteur der meistgelesenen Schweizer Zeitung, Patrik Müller, auch mal ein Buch über Israel lesen würde. Oder ist sein irrwitziger Kommentar, wonach wir Israel für seine völkerrechtswidrige Besatzungspolitik und für seine Vertreibungen und Tötungen von Palästinensern dankbar sein müssen, kein Zeichen von mangelnder Bildung, sondern schlicht und einfach gewollte politische Meinungsmache? Auch das ist möglich. Aber auch das wäre kein Gütesiegel für die meistgelesene Zeitung in der Schweiz.
Vielleicht liest Patrik Müller wenigstens einmal das Interview, das Karin Leukefeld mit dem heute 86-jährigen Salman Abut Sitta geführt hat, der schon die Palästinenser-Vertreibungen durch die Israelis im Jahr 1948 als Kind persönlich miterlebt hat. Und weil er, Patrik Müller, ja mal in den USA war und auch ein bisschen Englisch kann, könnte er sich auch mal dieses neue Video anschauen, das Ausschnitte aus Filmen zeigt, die von israelischen Militär-Angehörigen selbst aufgenommen wurden – von diesen IDF-Soldaten und Soldatinnen, denen wir, gemäß Patrik Müller, für ihr rücksichtsloses Morden dankbar sein sollen.