So soll die Welt aussehen, für die sich Russland einsetzt
(Red.) Eben hat ein Artikel des prominenten russischen Politologen Sergej Karaganow in der russischen Zeitschrift «Russia in Global Affairs» im Westen – und auch in Russland! – zu vielen und berechtigen Kritiken geführt – man könnte es fast schon als «Shitstorm» bezeichnen. Wichtiger, verständlicher, konkreter und auch deutlich selbstkritischer sind Karaganows Ausführungen in einem Interview, das die russische Plattform «business-gazeta.ru» mit Karaganow geführt hat – bisher abrufbar aber nur in russischer Sprache. Globalbridge.ch hat das ganze ausführliche Interview ins Deutsche übersetzt, um seinen Leserinnen und Lesern besser verständlich zu machen, was die politischen Ziele des prominenten russischen Politologen – und es sind nicht nur seine persönlichen, eigenen Ziele – konkret sind und wie die Welt nach russischer Vorstellung künftig aussehen und politisch organisiert sein soll: „eine Welt mit einer großen Anzahl von Staaten, eine Welt mit großer Mobilität, eine Welt, die viel freier ist als heute und viel bunter, mit viel mehr Möglichkeiten. Es wird keine bipolare Welt geben. Man könnte sie multipolar nennen, aber ich würde sie vielfarbig und multidimensional nennen“. (cm)
Einführung ins Interview durch die Redaktion von «Business Online»: „Ich denke, diese Art von Konflikt ist ein Versagen meiner Generation, denn wir hätten einen offenen Krieg in Europa verhindern können, der sich wahrscheinlich erst in der Anfangsphase befindet. Wir hätten früher und entschlossener handeln müssen.“ In einem Interview mit «Business Online» erklärt Sergej Karaganow, ob ein Atomkrieg möglich ist, ob Russland Gefahr läuft, ein Satellit Chinas zu werden, und warum die Regierung gegen die Schaffung einer Ideologie ist.»
Sergej Alexandrowitsch: Die Sonderoperation läuft bereits seit über einem Jahr. Haben sich in dieser Zeit Ihrer Meinung nach dramatische Veränderungen in der Welt und in Russland ergeben?
Sergej Karaganow: In diesem Jahr hat sich eine ganze Reihe von Veränderungen ergeben, und zwar schrittweise. Die Sonderoperation ist für uns nur ein kleiner, wenn auch sehr wichtiger Teil dieser schnellen Veränderungen. Wir hören einfach auf, sie zu bemerken, weil das Kaleidoskop der Ereignisse uns daran hindert, darüber nachzudenken.
Dabei sah die Welt vor einem Jahr noch ganz anders aus. China zum Beispiel ist von einer großen Wirtschaftsmacht zu einer großen außenpolitischen Macht geworden und hat in diesem Bereich große Fortschritte gemacht. Europa ist auf dem Weg zum Scheitern noch einen Schritt weiter gegangen.
In diesem Jahr hat sich in unserem Land viel verändert. Zunächst einmal ist Russlands Reise nach Westen zu Ende gegangen. Jetzt hat die Russische Föderation begonnen, sich selbst zu suchen. Hoffen wir, dass sie ihn findet – ohne Verzögerung. Der Prozess der Nationalisierung der Elite hat sich beschleunigt, und der Teil der Wirtschaftselite, der für den Westen gearbeitet hat, ist weitgehend verschwunden. Im politikwissenschaftlichen Sprachgebrauch nennt man das die Kompradoren-Elite. (Die Kompradoren waren in der portugiesischen Kolonialzeit jene Geschäftsleute, die dafür sorgten, dass die ausländischen Kapitalgeber in den Kolonien die herrschende Elite blieb. Red.)
Frage: In unserem letzten Interview im November 2020 sagten Sie: „Heute haben Russland und Europa trotz aller Unterschiede eine Vielzahl von wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen. Aber in den Grundzügen driften wir auseinander“. Was haben wir jetzt? Ist alles endgültig zerrissen und wir haben uns so weit wie möglich voneinander entfernt, oder ist unsere Konfrontation nicht so ernst und tief, wie viele glauben, und ist es immer noch möglich, den Rückweg zu finden?
Karaganow: Unsere Divergenzen sind aus außenpolitischen Gründen groß. Die europäischen Eliten, denen der Boden unter den Füßen zittert, haben beschlossen, zu versuchen, ihre Positionen zu retten, indem sie Russland außenpolitisch, propagandistisch, wirtschaftlich und teilweise sogar militärisch herausfordern, so dass die Beziehungen ziemlich schlecht geworden sind.
Aber das vielleicht Wichtigste ist, dass sich Russland und Europa (natürlich nicht alle, auch Europa ist anders) in Bezug auf ihre Werte auseinanderentwickeln, und dieser Prozess schreitet immer schneller voran.
Wir werden zu alten Europäern und sie werden post-europäisch und bewegen sich sogar auf post-humane Werte zu.
Wenn die Europäische Union endlich zusammenbricht, sind Vereinbarungen mit einzelnen Ländern wahrscheinlich. Aber das ist keine kurzfristige Aussicht.
Frage: Die Stimme Afrikas, die wir wahrscheinlich seit dreißig Jahren nicht mehr gehört haben, wurde nun gehört. Mitte Mai verkündete der südafrikanische Präsident, dass Russland und die Ukraine sich bereit erklärt haben, eine afrikanische Friedensmission zu akzeptieren. Und Saudi-Arabien hat sich gegen seine traditionellen Freunde und gegen die USA gestellt. Was sagen Sie zu diesem Wandel? Was ist dort los?
Karaganow: Der Trend der letzten Jahre ist die Befreiung der Welt vom westlichen Joch. Die Länder werden immer freier. Auf der westlichen Seite kämpft man nun darum, die Überreste des Neokolonialismus zu bewahren, und im Rest der Welt befreit man sich davon. Zu unserem Stolz, aber auch zu unserem Bedauern, stehen wir wieder einmal an der Spitze dieses Kampfes und sind eine Art Eisbrecher, der das Resteis des neokolonialen Systems westlicher Vorherrschaft aufbricht. Folglich muss der Eisbrecher immer die zusätzliche Last und auch die Schläge einstecken.
Aber die Welt ist bereits eine viel freiere, vielfältigere, multipolare und bunte Welt. Die Saudis haben den Amerikanern offen die Stirn geboten und bereuen es nicht sonderlich; die Golfaraber fühlen sich viel sicherer. Und die Tatsache, dass die Afrikaner viel aktiver werden und sich offen gegen ihre früheren europäischen Herren auflehnen, ist Teil eines gewaltigen Prozesses, der im Gange ist. Wir befinden uns inmitten eines gewaltigen und wachsenden Erdbebens in der Welt. Es ist unangenehm, aber nach dem Erdbeben entstehen neue Kontinente, neue Länder, neue Phänomene, Berge erheben sich, Schluchten bilden sich. So wird eine neue Welt geschaffen.
Frage: In Ihrem Artikel 2021 schreiben Sie, dass sich ein neuer Kalter Krieg anbahnt, aus dem Russland die Chance hat, als Sieger hervorzugehen. „Dazu ist es notwendig, die richtige Wahl der innen- und außenpolitischen Ausrichtung zu treffen und vor allem nicht in einen großen Krieg verwickelt zu werden, der zu einem globalen thermonuklearen und Cyberspace-Armageddon eskalieren könnte“, schrieben Sie. Glauben Sie jetzt, im Jahr 2023, in der heißen Phase des Konflikts in der Ukraine, in der sich der gesamte kollektive Westen im Krieg gegen Russland befindet, dass wir immer noch eine Chance auf einen Sieg haben? Und warum glauben Sie, dass sich der Kalte Krieg in Wirklichkeit in einen heißen Krieg verwandelt hat?
Karaganow: Der Kalte Krieg hat sich tatsächlich in einen heißen Krieg verwandelt, weil wir zu lange gewartet haben. Wir hätten 2018-2019 zuschlagen sollen. Im Jahr 2021 gab es bereits die Covid-Pandemie, die den Krieg vorübergehend ersetzte.
Es ist schon seit geraumer Zeit klar, dass der Westen immer noch einen kalten Krieg gegen uns führt – und wir haben auf etwas gewartet. Vielleicht waren wir dabei, an Stärke zu gewinnen. Vielleicht haben wir die Tiefe unserer Differenzen nicht ganz verstanden. Vielleicht hofften wir, zu einer Einigung zu kommen. Einige wollten ihr Kapital oder ihre Position im Westen bewahren. Hätten wir früher gehandelt, hätte vielleicht ein bewaffneter Konflikt – offen und in großem Stil – vermieden werden können. Aber nun ist es so gekommen, wie es gekommen ist. Ich denke, diese Art von Konflikt ist ein Versagen meiner Generation, denn wir hätten einen offenen Krieg in Europa vermeiden können, der sich wahrscheinlich erst in der Anfangsphase befindet. Wir hätten früher und entschlossener handeln müssen. Wir haben zu lange beschwichtigt, gehofft und geglaubt.
Was unsere Chance auf einen Sieg angeht, so ist sie groß. Vor allem aber hat diese Militäroperation meiner Meinung nach das innere Potenzial unserer Gesellschaft stark vorangetrieben. Wir werden immer unabhängiger, entschlossener und souveräner. Ob wir diese Chance nutzen werden, hängt weitgehend von uns selbst ab. Aber die Chance ist da, und wir haben alle Möglichkeiten, sie zu nutzen. Auch wenn es ein sehr langer Kampf ist. Selbst wenn die akute Phase des militärischen Konflikts in der Ukraine vorbei ist, wird die Zeit dieses Erdbebens und der steigenden Flut der Transformation noch anderthalb Jahrzehnte dauern.
Daher ist es wahrscheinlich zu früh, um von einem Sieg zu sprechen, aber es besteht durchaus die Möglichkeit, dass wir auf operativer und taktischer Ebene gewinnen können. Das Wichtigste ist jedoch, dass wir den Willen des Westens zur Konfrontation brechen. Dies ist eine Aufgabe auf höherer Ebene. Und sie kann nicht gelöst werden, wenn wir nicht anfangen, den Einsatz deutlich zu erhöhen und uns darauf vorbereiten, die Konfrontation auf eine höhere Ebene zu bringen.
Frage: Welche Position vertrat Russland im Vergleich dazu zu Beginn der militärischen Spezialoperation und zum jetzigen Zeitpunkt? Wir sind uns einig, dass es nirgendwo eine bedingungslose Unterstützung für unser Land gibt. Wer sind also unsere Verbündeten? Warum unterstützt uns niemand offen, so wie der Westen die Ukraine unterstützt? Zum Beispiel China?
Karaganow: Wie ich schon sagte, sind wir der Eisbrecher der neuen Welt und viele Länder machen sich die Tatsache zunutze, dass wir das fünf Jahrhunderte alte Eis der westlichen Vorherrschaft und Beherrschung brechen. Wir kämpfen gegen eine sehr starke, aber schwächelnde und sich zurückziehende Zivilisation. Es ist ein gewaltiger und komplexer Prozess.
Was die Tatsache betrifft, dass wir keine Verbündeten haben, so werden wir, wenn nicht von den Staaten in der UNO, so doch von der Mehrheit der Menschheit unterstützt. Einer weltweiten Mehrheit! Und das ist ganz offensichtlich. Eine andere Sache ist, dass ein bedeutender Teil unserer Elite, die immer noch auf den Westen und auf einige Interessen im Westen fixiert ist, nicht verstehen will, dass wir auf absehbare Zeit mit ihm abgeschlossen haben, und dies Gott sei Dank! Wir haben dem Westen und Europa alles genommen, was wir konnten, und nun könnten wir von dort nur noch zusätzliche Probleme oder Infektionen in Form dieser neuen ideologischen Strömungen bekommen.
Wir haben auch Verluste erlitten. Vor allem in der Wirtschaft – sie liegen auf der Hand, obwohl sie zu unserem Vorteil genutzt werden können. Und auch außenpolitisch, denn unser Handlungsspielraum hat sich stark eingeengt. Als wir zumindest einige Beziehungen zum Westen hatten, hatten wir natürlich eine stärkere Position, zum Beispiel in der Zweier-Beziehung mit China. Jetzt sieht Peking in unserer Paarung natürlich viel stärker aus als noch vor drei Jahren, als wir gemeinsam noch stärker waren. Aber Sie müssen verstehen, dass Russland niemals von China so abhängig werden wird, wie es fast vom Westen abhängig wurde, und zwar aus einem einfachen Grund: Wir haben unterschiedliche kulturelle Codes. Außerdem ist der genetische Code unseres Volkes die absolute Bereitschaft, für die eigene Souveränität zu kämpfen. Und unsere chinesischen Freunde wissen und respektieren das.
Frage: Glauben Sie nicht, dass Peking seine Probleme auf unsere Kosten löst?
Karaganow: Auch wir lösen unsere Probleme auf Kosten Chinas. Im Übrigen verstecken wir uns auch hinter seinem wirtschaftlich starken Rücken. Können Sie sich vorstellen, was passiert wäre, wenn wir in eine Konfrontation geraten wären, die fast unvermeidlich war, wenn wir China nicht im Rücken gehabt hätten? Und auch China wäre qualitativ schwächer, wenn Russland nicht hinter ihm stünde.
Die Frage, wer wen wie benutzt, ist eine Frage der praktischen Politik und der Diplomatie. Jetzt benutzen wir uns gegenseitig. Eine andere Sache ist, dass in unserer Zweier-Beziehung, ich glaube, ich wiederhole mich, vor drei Jahren Russland eine stärkere Position hatte als China, weil China bereits in eine harte Konfrontation mit den USA verwickelt war, während Russland als deren Schutzschild fungierte. Jetzt befinden wir uns selbst in einer Konfrontation, so dass wir natürlich stärker von China abhängig sind und auf die militärischen und politischen Ressourcen des Westens zurückgreifen. China nutzt dies, um seine Kräfte für einen entscheidenden Kampf zu stärken.
«Es ist ein gewaltiger Umbruch, wie wir ihn bisher noch nicht gesehen haben.»
Frage: Im Oktober 2022 schrieben Sie: „Wir leben in einer gefährlichen Zeit, am Rande eines vollwertigen dritten Weltkriegs, der die Existenz der Menschheit beenden könnte. Aber wenn Russland gewinnt, was mehr als wahrscheinlich ist, und der Konflikt nicht zu einem ausgewachsenen Atomkrieg eskaliert, sollten wir dann die kommenden Jahrzehnte nicht als eine Zeit des gefährlichen Chaos betrachten (wie die meisten es im Westen sagen)? Glauben Sie das jetzt auch? Droht uns immer noch ein dritter Weltkrieg? Und ein Atomkrieg?
Karaganow: Wir sind immer noch davon bedroht, und zwar für eine sehr lange Zeit, denn wie ich schon sagte, bricht ein gewaltiges Erdbeben aus, ein riesiger Kontinent der westlichen Zivilisation geht unter. Es ist ein gewaltiger Umbruch, wie wir ihn bisher noch nicht gesehen haben, und diese Zivilisation ist immer noch eine der Grundlagen der heutigen Weltordnung.
Wir befinden uns in einer sehr gefährlichen Zeit. Die Hauptquelle der Gefahr ist sicherlich nicht so sehr der Westen selbst, und ich möchte mich nicht denen anschließen, die ihm ständig alles vorwerfen, sondern die Situation im Westen. Dort gibt es eine vielschichtige, tiefgreifende, moralische, wirtschaftliche und politische Krise.
Die Eliten verlieren an Macht. Es ist eine ziemlich beängstigende Situation, in der die Eliten auf eine Eskalation der Beziehungen und sogar auf Krieg gesetzt haben – in einem verzweifelten Versuch, die Geschichte anzuhalten.
Der Rubikon ist also noch lange nicht überschritten. Wenn es so weitergeht, schließe ich nicht aus, dass es nach einiger Zeit zu Verhandlungen oder einem Waffenstillstand kommt, aber es ist immer noch wahrscheinlich, dass die Konfrontation weiter zunimmt. Die Hauptaufgabe besteht darin, den Westen zum Rückzug zu zwingen und einen bescheideneren Platz im Weltsystem einzunehmen.
Frage: Sie haben den Waffenstillstand erwähnt. Es gibt immer mehr Menschen, die sich für eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts einsetzen wollen. Glauben Sie, dass Russland und die Ukraine zu einem Frieden gezwungen werden können? Zu welchen Bedingungen ist das möglich?
Karaganow: Wir befinden uns in einem Krieg, der als spezielle Militäroperation bezeichnet wird. Ich denke, das Ergebnis ist letztlich eine programmierte Sache: ein Sieg für Russland. Aber der Preis für dieses Ergebnis könnte sehr hoch sein – und der Zeitraum sehr lang.
In diesem Kampf zwischen Russland und dem Westen – in der Ukraine und nicht nur dort – wird es Friedensverhandlungen geben, man wird so tun, als ob man verhandelt. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es zu weiteren Konflikt-Verschärfungen kommen wird. Meine Befürchtung ist, dass die Konfrontation noch weiter eskalieren wird. Aber mir scheint, die einzig mögliche Lösung für das Problem, mit dem wir konfrontiert sind, besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Ukraine keine antirussische Einheit mehr ist und dass der Wille des Westens zur Konfrontation gebrochen wird. Dies ist ein sehr schwieriger Prozess.
Friedensverhandlungen sind möglich, und natürlich würde ich mir wünschen, dass die Ukraine die weiße Fahne hochhält und zu einem friedlichen, mit Russland befreundeten Staat wird. Obwohl ich das stark bezweifle, einfach aufgrund der Tatsache, dass es sich bereits um ein gescheitertes Staatsgebilde in einer akuten und tiefsten Krise handelt. Es ist eine Weimarer Republik, die sich ebenfalls im Krieg befindet. Die Weimarer Republik, aus der, wie wir wissen, der Hitlerismus hervorging.
Frage: Und was soll Russland tun, wenn es einen allgemeinen Plan zur Beilegung des Konflikts gibt, der in einem Übereinkommen zwischen den USA und China ausgearbeitet wurde? Wie schätzen Sie ganz allgemein die Chancen einer solchen Situation ein?
Karaganow: Im Allgemeinen möchte ich, wie jeder normale Mensch, keinen Krieg, da ich weiß, dass Krieg, selbst ein gerechter und unvermeidlicher Krieg, wie in unserem Fall, Leid, Zerstörung und Tod bringt. Das ist die erste Sache. Die zweite Sache ist: Wenn wir uns auf etwas einigen können, sollten wir versuchen, das Ausmaß der Konfrontation zu verringern, und zwar vor allem das Ausmaß des menschlichen Leids. Aber ich wiederhole, das Problem zwischen Russland und dem Westen kann nur auf zwei Arten gelöst werden: dadurch, dass die Ukraine aufhört, ein Anti-Russland-Land zu sein (die Ukraine oder ein Teil davon kann als russlandfreundliche Einheit durchaus bestehen bleiben); und zweitens durch das Brechen des Willens des Westens, sich verzweifelt zu wehren, den er in den letzten Jahren unter Beweis gestellt hat, und jetzt, da er erkennt, dass er seine Position der fünfhundertjährigen Hegemonie in der Welt verliert, die ihm die Möglichkeit zur kulturellen und politischen Vorherrschaft eröffnet hat und, was vielleicht am wichtigsten ist, die es ihm ermöglichte, die weltweite Wirtschaft zu seinen Gunsten wachsen zu lassen. Diese Zeit ist vorbei, und sie findet direkt vor unseren Augen statt. Natürlich sind die Ungleichheiten immer noch sehr groß und stark, aber die Ströme des globalen Reichtums haben begonnen, aus dem Westen abzufließen. Und das macht seine herrschende Klasse wütend.
Frage: Warum glauben Sie, dass Russland nach dem Besuch von Xi Jinping in Moskau im Februar 2023 nicht mit China über dessen Friedensplan einig geworden ist? Hat der von China vorgeschlagene Plan Russland nicht gefallen?
Karaganow: Sie müssen den Plan lesen. Er ist positiv, aber er enthält nichts Konkretes. Er ist für alles Gute und gegen alles Schlechte. Ich weiß nicht, was Wladimir Putin und Xi Jinping in privaten Gesprächen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit vereinbart haben, aber ich denke, sie haben es getan und es gibt jetzt ein langes Spiel mit der Diplomatie, in das ich nicht eingeweiht bin, das aber meiner Meinung nach viele interessante Wendungen haben wird. Natürlich wird der Besuch des chinesischen Sondergesandten, unseres großen Freundes Botschafter Li Hui, in Kiew oder in Moskau Aufmerksamkeit erregen, aber wir müssen viel tiefer gehende politische, diplomatische, intellektuelle und wirtschaftliche Prozesse betrachten.
Frage: Wie lautet Ihre allgemeine Prognose für den Ukraine-Konflikt? Die Amerikaner sagen, dass bis zum Spätherbst endlich alles klar und irgendwie gelöst werden sollte. Henry Kissinger hat sich mit seinen Prognosen dieser Ansicht angeschlossen. Wir unsererseits attackieren nicht, wir warten sozusagen auf eine ukrainische Gegenoffensive, wie man so schön sagt. Wir scheinen alle abzuwarten. Was wird das Ergebnis all dieser Erwartungen sein? Wird der Konflikt eingefroren und die Ukraine nach dem koreanischen Vorbild aufgeteilt? Oder werden wir bis zum Sieg kämpfen? Und wie würde der Sieg in diesem Fall aussehen?
Karaganow: Ich habe großen Respekt vor Henry Kissinger, ich halte ihn für den Besten in unserem Metier, aber ich bin sehr enttäuscht, dass er versucht, einen Aufstand zu machen. Er weiß nicht, wovon er spricht. Und ich weiß nicht, was wirklich passieren wird. Ich weiß, dass das, was ich gesagt habe, eintreten wird, wenn wir den Willen haben, zu kämpfen und zu gewinnen. Die Ukraine wird aufhören, ein antirussischer Staat zu sein, und der Westen wird sich zurückziehen.
Aber der Weg dorthin wird ein sehr langer und harter Kampf sein: der Kampf darum, unser Land anders zu machen, viel stärker und gerechter, viel selbstbewusster und respektierter in der Welt. Und schließlich ein Land, das viel mehr Verantwortung für seinen eigenen Wohlstand übernimmt. Natürlich ein Land mit einer erneuerten Elite, mit erneuerter Technologie, ein Land, dessen wirtschaftliches, politisches und intellektuelles Zentrum sich in den Ural und nach Sibirien verlagern wird. Wir müssen uns in den Osten verlagern. Geistig, wirtschaftlich, politisch, denn im Westen stecken wir fest, was eine unserer grundlegenden Schwächen und einer der Gründe für unsere Schwierigkeiten in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren ist. Wir müssen uns auf eine neue Grenze zubewegen, uns auf eine weltweite Mehrheit zubewegen, um uns von dem Westen zu lösen, der uns zurückzieht.
Der Ukraine-Konflikt ist meiner Meinung nach auch deshalb gefährlich, weil wir uns in einer sinnlosen westlichen Richtung verzetteln und versuchen zu verhandeln, wo es doch niemanden gibt, mit dem wir verhandeln können. Und ich glaube nicht, dass es, mindestens im nächsten Jahrzehnt, etwas zu verhandeln geben wird, auch wenn wir so tun können, als ob wir verhandeln würden. Dort fallen die Dinge in sich zusammen. Und gegenüber dem Westen sehen wir jetzt viel stabiler und stärker aus als noch vor zwei oder drei Jahren.
Frage: Sie sagen, wir haben einen langen und harten Kampf vor uns. Haben wir die Kraft dazu, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht? Sowohl der Präsident als auch die Wirtschaft sagen, dass wir bereits jetzt überall einen Mangel an Arbeitskräften haben. Es mangelt an jungen Menschen. Es gibt zu viele Menschen, die umgesiedelt werden.
Karaganow: Das ist ein Problem für jedes Unternehmen und jede Institution. Wir müssen starke und neue Leute finden und ausbilden. Wir müssen die Menschen umschulen, ihnen die Hände frei machen. Jetzt läuft ein Prozess neuer Kreationen. Und die Tatsache, dass viele Menschen sich beklagen, ist nun mal schwierig in einer Ära des Wandels.
Aber auch für die Wirtschaft ist dies eine vielversprechendere Ära, denn es eröffnen sich enorme neue Möglichkeiten, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Wenn ich ein junger Mann gewesen wäre, wäre ich jetzt sicherlich im Geschäft. Ich musste es in den 1990er Jahren tun, um meine Institute zu retten, die ich gegründet und geleitet habe. Jetzt bin ich schon lange nicht mehr dabei, aber ich sehe, dass die Möglichkeiten in diesem Bereich enorm sind. Neue Nischen und neue Horizonte tun sich auf. Ich beneide die jungen Leute, die jetzt ins Geschäft einsteigen.
«Die Hauptsache ist, dass wir menschlich bleiben.»
Frage: Es wird viel über De-Globalisierung und den Aufbau einer neuen Welt gesprochen. Was glauben Sie, wie diese aussehen wird? Wird sie bipolar (USA und China) oder multipolar sein? Wenn letzteres, wer werden die neuen Machtpole sein? Hat Russland das Potenzial (abgesehen vom militärischen), dies zu tun?
Karaganow: Vor vierzig, fünfzig, aber auch vor zwanzig Jahren glaubten die meisten Menschen, dass die Welt auf etwas Einheitliches und Globales zusteuert. Im Westen und viele von uns träumten von einer Weltregierung, einem globalen Machtsystem, das auf transnationalen Unternehmen und internationalen nichtstaatlichen Organisationen beruht. In Davos (am WEF) gibt es dazu immer noch viel Blabla. Aber das ist eher wie eine komische Oper.
Die Welt steuert auf eine neue Souveränität zu. Es wird eine Welt mit einer großen Anzahl von Staaten sein. Eine Welt mit großer Mobilität. Eine Welt, die viel freier ist als heute und viel bunter, mit viel mehr Möglichkeiten. Es wird keine bipolare Welt geben. Man könnte sie multipolar nennen, aber ich würde sie vielfarbig und multidimensional nennen.
Im Allgemeinen gefällt mir die Welt, zu der wir kommen werden, wenn wir einen weltweiten thermonuklearen Konflikt vermeiden, was leider immer noch denkbar ist. Ich werde diese Welt wahrscheinlich leider nicht mehr erleben, aber das Bild gefällt mir sehr gut. Ich beneide die Menschen, die jetzt jung sind, die gerade geboren werden. Sie werden in einer sehr interessanten Welt leben. Aber es gibt viele Gefahren, die sie erleben werden. Eine davon ist der Verlust menschlicher Werte, den wir jetzt massenhaft im Westen erleben. Die Hauptsache ist, dass wir menschlich bleiben. Dafür wird übrigens auch jetzt gekämpft, auch in der Ukraine. Wir wollen, dass die Menschen menschlich bleiben und nicht zu Untermenschen werden.
Frage: In diesem Zusammenhang ist die Frage der Gerechtigkeit sehr wichtig und grundlegend. Der Westen sagt, dass Russland mit seiner Aggression gegen einen Mitgliedstaat der UNO, die es selbst anerkannt hat, nicht nur das Völkerrecht verletzt hat, sondern auch alle moralischen Grundsätze der Gerechtigkeit und der Menschenwürde. Es zerstört Städte und bringt Leid über die Menschen. Deshalb ist Russland der Inbegriff der Ungerechtigkeit. Wir aber sagen: „Nein, Leute, ihr habt in der Ukraine ein hasserfülltes, faschistisches Regime mit seiner ungerechten und hässlichen Einteilung der Menschen in «Richtig und Falsch» geschaffen, wo letztere der Vernichtung und allen Arten von Diskriminierung ausgesetzt sind“. Das heißt, beide Seiten verwenden das gleiche Wort in ihrer Interpretation der Situation. Glauben Sie, dass die neue Welt gerechter sein wird, und was ist unter dem Wort „Gerechtigkeit“ zu verstehen?
Karaganow: Gerechtigkeit sollte in erster Linie als Wahlfreiheit für die Völker verstanden werden, als Freiheit der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Wahl. Natürlich bedeutet Gerechtigkeit auch eine viel gleichmäßigere Verteilung des Reichtums in der Welt. Der gegenwärtige Kapitalismus ist hässlich, auch der unsere. Obwohl ich hoffe, dass er durch diesen Konflikt weniger hässlich wird. Es findet eine Umverteilung des Reichtums innerhalb des Landes an Menschen statt, die es mehr verdienen – Wissenschaftler, Militärs, Ingenieure, Familien mit Kindern – und dieser Prozess wird weitergehen.
Was diesen Konflikt betrifft, so sind wir dabei, das westliche Joch abzuschütteln. Der Westen hat die ganze Welt unterdrückt, ausgebeutet, getötet, zerstört. Man kann stundenlang über die Schrecken der letzten fünfhundert Jahre westlicher Vorherrschaft sprechen. Daraus sind schließlich zwei Weltkriege entstanden. Ich möchte Sie daran erinnern, dass auch der Nazismus, eine völlig menschenfeindliche Ideologie, im Westen geboren wurde, wo er gerade jetzt wieder genährt wird. Auch der Kommunismus wurde dort geboren. Ich setze ihn nicht mit dem Nationalsozialismus gleich, denn er ist immerhin eine viel humanere Ideologie. Außerdem wurde der Kommunismus von der Sowjetunion gepredigt, die gewonnen, während der Nazismus verloren hat.
Der Liberalismus ist etwas Ähnliches wie diese beiden „-ismen“, und auch er wird nun, so hoffe ich, in den tiefen Schatten der Geschichte zurücktreten. Jetzt bewegen sich die Länder, die ihn predigen oder sich ihm beugen, schnell in Richtung Totalitarismus, Faschismus, Abschaffung der Kultur.
Russophobie ist nur deshalb besser als Antisemitismus, weil Russland etwas hat, womit es sich verteidigen kann, während die Juden keine solche Möglichkeit hatten.
Frage: Wenn jetzt ein Frieden unterzeichnet wird, wird er dann nicht wie der Frieden von Versailles sein, der den Menschen nicht den Frieden und die Stabilität gebracht hat, die sie wollten, sondern nur zu einem weiteren großen Krieg geführt hat?
Karaganow: Deshalb sage ich, dass dieser Frieden letztendlich genau unter den Bedingungen erreicht werden muss, die ich genannt habe, d.h. dass der Wille des Westens zur Expansion und zur Konfrontation gebrochen werden muss. Das ist die erste Bedingung. Das zweite ist eine vollständig entmilitarisierte und entnazifizierte Ukraine, d.h. ein völlig anderes Land als das, was es jetzt ist. Nicht antirussisch! Dann wäre der Frieden gerecht. Wir schlagen einen solchen Frieden schon seit vielen Jahren vor. Aber unsere Bitten, Angebote und Forderungen wurden abgelehnt. Leider hat diese Politik zu einem offenen Zusammenstoß geführt, der sich gerade erst entfaltet.
Die meisten von uns stehen noch im ideologischen Schatten des Westens. Ich lese aber auch östliche Zeitungen, Indien, China, und dort ist das Bild der Welt ein völlig anderes. Wir sehen eine schrumpfende und zerfallende, aber immer noch sehr mächtige Zivilisation, und es gibt neue Zivilisationen, die aufsteigen und aufblühen. Lassen Sie uns dorthin blicken.
Frage: Wird es dazu kommen, dass sich die USA mit China einigen und die Welt in zwei Pole aufteilen, die allen anderen die Bedingungen diktieren werden? Gleichzeitig wird die Hegemonie der USA abnehmen, aber der Einfluss des östlichen Partners wird sich ausweiten. Stehen wir in diesem Fall auf der Seite des Westens oder des Ostens? Werden wir uns mit einem solchen Arrangement zufrieden geben – um erneut an der Peripherie eines der Machtzentren zu sein?
Karaganow: Wir werden mit uns selbst sein. Glücklicherweise ist diese Frage, die Sie aufwerfen, nicht mehr aktuell. Früher, in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren, gab es die Möglichkeit, dass wir mit dem Westen gehen. Das hat diese Möglichkeit verworfen und unsere Zukunft grundlegend unterminiert. Dieses Fenster der Möglichkeiten ist nun geschlossen. Russland wird niemals ein Satellit eines anderen Landes werden. Das ist im Prinzip unmöglich. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt: All die Leute, die so etwas sagen, sehen nicht, wohin sich die Welt entwickelt. Neue Kontinente, Zivilisationen, Zentren entstehen. Wie kann China diese im Entstehen begriffene Welt beherrschen, wenn es daneben ein großes Indien, ein großes Russland, ein großes Persien, eine große Türkei und schließlich starke Araber geben wird? Eine solche Situation ist unmöglich! Vielleicht werden sich einige Teile Europas um die Vereinigten Staaten von Amerika scharen, aber ich bin mir sicher, dass in zehn Jahren auch Teile eines zerfallenden Europas nach Osten gehen werden. In Ungarn, in vielen politischen und wirtschaftlichen Strömungen in Europa ist das bereits zu beobachten. Dies ist nur der Anfang. Deshalb ist es möglich, dass die USA mit einer Gruppe ihrer Satelliten hinter dem Rest der riesigen Welt zurückbleiben, in der es keinen Hegemon mehr geben wird. China kann niemals ein Hegemon in dieser Welt sein.
Frage: Sie sagen, dass Sie die chinesische Presse lesen und dass diese eine ganz andere Vision der heutigen Welt und ihrer Zukunft haben. Wie sehen sie das?
Karaganow: USie haben eine Vision, ungefähr so, wie ich sie habe. Ich möchte aber nicht meine Ideen mir zuschreiben und ihre ihnen, aber Hindus, auch wenn es pro-westliche und anti-chinesische Hindus gibt, sind dennoch sehr realistisch und haben eine äußerst interessante Sicht auf die moderne Welt. In Russland leidet unsere Intelligenz immer noch an einem physiologischen Defekt – wir betrachten die Welt mit westlichen Augen, obwohl wir selbst in eine völlig andere Welt gehen. Dieser Defekt ist ein Zeichen für intellektuelles Elend.
Frage: Um es kurz zu machen: Was ist ihre Vision? Was sehen sie für die Zukunft?
Karaganow: Viele Machtzentren, eine viel freiere Wahl der Völker, ein Abwerfen des westlichen Jochs, das fünf Jahrhunderte lang über sie geherrscht hat, ein unabhängiger Weg der Entwicklung.
Allerdings gibt es auch in diesen Ländern unterschiedliche Eliten. Es gibt Kompradoren-Eliten, und es gibt auch dort innere Kämpfe. Aber in diesen Ländern, in Arabien, in der Türkei und in Indien sind die Ansichten völlig anders als die, die zumindest bis vor kurzem von den meisten russischen Intellektuellen vertreten wurden. Auch diese Gewohnheit, die Welt mit westlichen Augen zu betrachten, scheint mir ein Zeichen intellektueller Erbärmlichkeit zu sein.
Frage: Sie sagen, dass wir niemals der Satellit von jemandem werden, der von einem Machtzentrum kontrolliert wird. Aber was haben wir selbst der Welt zu bieten? Was ist unser besonderer Weg?
Karaganow: Zunächst einmal sollten wir darüber nachdenken, was wir uns selbst zu bieten haben, und dann darüber, was wir dem Rest der Welt anbieten. Ich glaube, dass dies für Russland der Weg der Souveränität, der Weg der nationalen Freiheit, der Weg der Gerechtigkeit ist. Die Welt Russlands ist die Welt der normalen Menschen, die ihr Land, ihre Familie, ihre Geschichte und die Menschen um sie herum lieben. Ob sie an Gott glauben oder nicht, aber sie glauben an die hohe Bestimmung des Menschen. Russland hat die reichste Kultur, mächtige Streitkräfte. Russland ist eine kriegerische Nation, die dem Westen die Grundlage für seine Dominanz in Politik, Wirtschaft, Militär und Kultur entzogen hat. Wir werden diese Wahlfreiheit für Länder und Völker weiterhin unterstützen.
Wir sind ein Land, das den Menschen, Ländern und Nationen Befreiung bringt.
Frage: Was ist unsere Ideologie? Muss sie übrigens genau ausformuliert werden, wie sogar der Leiter des Ministeriums in letzter Zeit angedeutet hat? Und was könnte sie beinhalten? Werden traditionelle Werte diesen Platz einnehmen?
Karaganow: Ich habe Ihnen eine mögliche neue Ideologie so ungefähr beschrieben. Sie ist absolut durchschaubar. Diese Ideologie ist notwendig. Diejenigen, die sich ihr widersetzen, sind entweder dumm oder haben etwas zu verbergen. Eine wichtige Sache ist, dass wir keine verbindliche Ideologie brauchen. Eine Ideologie muss in Auseinandersetzungen und Kämpfen geboren werden, aber eine Ideologie des Patriotismus und der nationalen Größe, des Multikulturalismus und der kulturellen Offenheit – das ist die größte Errungenschaft Russlands. Wir brauchen diese Ideologie ganz klar, und sie ist im Prinzip vorhanden. Man kann sie in den Reden des Präsidenten und in den Werken vieler Intellektueller nachlesen. Bisher sind sie aber aus Gründen, die ich nicht ganz verstehe, nicht bereit, sie im Detail zu formulieren oder für sie zu werben. Obwohl viele seiner Elemente bereits aufgetaucht sind. Zum Beispiel in der außenpolitischen Doktrin Russlands. Mir gefällt es nicht, dass wir auf der mittleren Ebene von politischen Technokraten oder vulgären Materialisten regiert werden, für die „Geld das Böse besiegt“. Wir brauchen Menschen mit Geist und Tatkraft, die auf die Zukunft ausgerichtet sind.
Frage: Glauben Sie, dass es möglich und sinnvoll ist, eine Diskussion über diese neue Ideologie mit den föderalen Subjekten, mit Tatarstan, dem Kaukasus, dem Ural, mit den Moskowitern zu beginnen? Was uns eint, welche Werte, welche Zukunft – das alles auf der Grundlage einer Art Konsens zu formulieren?
Karaganow: Natürlich muss dies getan werden. Was mich ärgert, ist, dass ein bedeutender Teil unserer Führung sich dem verweigert und widersetzt. Die grundlegenden Postulate einer solchen neuen Ideologie sind ziemlich klar. Es geht um die Freiheit der Nationen, die kulturelle Offenheit, die Achtung der Souveränität, der Geschichte und der Vorfahren, eine gerechte internationale Weltordnung, das Vertrauen in eine gerechte Macht und natürlich die Liebe zum Vaterland und die Nächstenliebe. Dies ist die Grundlage der Orthodoxie und auch anderer Religionen. Das ist die Grundlage des Mensch-Seins.
Frage: Das heißt, es muss etwas für den Konsens in der Gesellschaft getan werden, dafür, dass die Menschen sich geistig und spirituell auf etwas einigen?
Karaganow: Das muss ständig geschehen, aber dafür ist unter den Bedingungen unseres politischen Systems ein systematisches Signal von oben nötig. Das kommt leider nicht. Noch nicht.
Zum Originalartikel in russischer Sprache. Die Übersetzung aus dem Russischen besorgten Anna Wetlinska und Christian Müller, mit Wort für Wort geprüfter, korrigierter und präzisierter Übernahme der Deepl.com-Übersetzung. Die beiden Zwischenüberschriften hat Christian Müller eingesetzt.
Zum Kommentar des Russland-Spezialisten Gilbert Doctorow zum vielkritisierten Artikel von Sergej Karaganow auf der Schweizer Plattform «Seniora.org»