Wladimir Putin am «World Youth Festival» am 6. März 2024 in Sochi (Photo Viacheslav Prokofyev / TASS)

Sieg für Putin, Niederlage für den Westen?

(Red.) Unser Korrespondent in Moskau, Stefano Di Lorenzo – mit italienischen Wurzeln und deutscher akademischer Ausbildung – hat in Moskau die am vergangenen Wochenende angehaltenen russischen Präsidentschaftswahlen genau beobachtet. Und er kann bestätigen, was Russlandkenner überhaupt nicht überrascht: Putin genießt in Russland wirklich ein hohes Ansehen – und vielleicht gerade in einer Zeit, in der Russland in den westlichen Medien jeden Tag schlecht gemacht wird, in besonders hohem Ausmaß. Die Stimmbeteiligung war hoch, der stille Protest in Form der Stimmabstinenz fand nicht statt und die von Navalnys Ehefrau Navalnaja organisierte Protestaktion «Mittag gegen Putin» hielt sich in absolut marginalem Ausmaß. (cm)

Samstag, der zweite Tag der Wahlen in Russland. „Und Sie übrigens, Jekaterina Nikolajewna, haben Sie schon gewählt?“, fragt eine fleißige Postangestellte, in ungewöhnlich guter Laune, eine Kundin, die ein Paket abholen will. „Und wenn ich noch nicht gewählt habe, kann ich mein Paket nicht bekommen?“, antwortet die Dame scherzhaft.

Am Samstagabend um 21 Uhr lag die Wahlbeteiligung bereits bei über 58 Prozent, in Moskau waren es 48 Prozent, in Sankt Petersburg 43 Prozent. Am Ende der drei Tage erreichte die Wahlbeteiligung den Rekordwert von 73,33 Prozent. 

In den Tagen vor den Wahlen wurde unablässig und ständig zur Stimmabgabe aufgerufen. In diesen drei Tagen der Wahlen liegt eine merkwürdige Aufregung in der Luft, es scheint fast wie ein Fest zu sein. Nur eine Inszenierung, ein Potemkinsches Dorf im 21. Jahrhundert, wie so viele in der westlichen Presse behaupten?

Am Ende gab es keine Überraschungen und Putin gewann mit 87,29%. Für den Westen besteht kein Zweifel, es war eine Farce. Anstatt die Gründe zu verstehen, die zu Putins Sieg geführt haben, wiederholen westliche Kommentatoren unisono, nicht wirklich durch Originalität glänzend, dass die Wahl nur eine Show war. Ein Beispiel für Verleugnung im Freudschen Sinne? 

„Alle westlichen Länder weigern sich, die Wahlen in Russland als fair und demokratisch anzuerkennen. Vor ein paar Jahren wäre das noch eine Tragödie gewesen. Jetzt hat es den Beigeschmack einer Farce. Russland anerkennt nicht die moralische Autorität der westlichen Länder, über die Integrität der Wahlen zu urteilen. Der Westen hat seine moralische Autorität mit seiner Unterstützung für das eindeutig undemokratische, rechtswidrig repressive und sogar terroristische Regime in der Ukraine zerstört. Die westliche Meinung ist jetzt irrelevant. Deshalb ist Putins Sieg eine große Niederlage für den Westen. Und die Tatsache, dass der Westen sich weigert, die enorme Unterstützung Putins anzuerkennen, die für jeden offensichtlich ist, schmälert die Autorität des Westens noch weiter“, schrieb der russische Politikwissenschaftler Sergej Markow.

Versuchen wir also, ohne Vorurteile zu verstehen, warum Putin auch dieses Mal gewonnen hat.

Der Krieg

Im Westen haben wir uns an den Gedanken gewöhnt, dass im heutigen Russland das Thema Krieg das wichtigste sein muss. Alles soll sich in Russland um den Krieg in der Ukraine drehen. Die jüngste Phase des Krieges, in die Russland direkt eingegriffen hat, dauert nun schon zwei Jahre. Doch in diesem Wahlkampf wurde nicht wirklich viel über den Krieg gesprochen. Von Putins Gegenkandidaten war der Vertreter der Partei „Nowje Ljudi“ (zu Deutsch Neue Leute), der 40-jährige Wladislaw Dawankow, der einzige, der das wirklich thematisierte und sich zu den Verhandlungen äußerte, allerdings in einer fast zu ruhigen Art und Weise. Die Debatten und die Wahlprogramme sprachen meistens von anderen Dingen. Schließlich lebt man nicht von der Außenpolitik allein. Der Krieg ist da, aber für die große Mehrheit der russischen Bürger ist er eine ferne Erscheinung, die sie nur aus dem Fernsehen kennen. Ansonsten scheinen die Russen heute nicht allzu viel über den Krieg nachzudenken.

In Moskau und den meisten russischen Städten verläuft das Leben mehr oder weniger normal, ohne dass die Sanktionen, das umfangreichste Sanktionsregime, das jemals gegen ein einzelnes Land verhängt wurde, die russische Wirtschaft kaputt gemacht hätten. Oder sind die Russen wirklich in der Lage, mehr wirtschaftliches Leid zu ertragen als andere, wie oft behauptet wird? Einerseits wahrscheinlich ja, andererseits scheint die Zeit der größten wirtschaftlichen Nervosität vorbei zu sein. Die russische Wirtschaft hat sich definitiv als widerstandsfähiger erwiesen als erwartet. Nach dem Schock der ersten Monate des Jahres 2022 blicken die Russen wieder mit Optimismus in die Zukunft.

Auch wenn der Krieg als materieller Faktor fast nicht vorhanden zu sein scheint, hat der Mythos des Krieges sicherlich zur Konsolidierung der Gesellschaft und der Wählerschaft beigetragen. Der 9. Mai, an dem der Tag des Sieges über den Nationalsozialismus 1945 gefeiert wird, bleibt für Russland zusammen mit Silvester wohl der wichtigste Feiertag. Wie zur Erinnerung daran, dass die Russen nicht zurückweichen, wenn es darum geht, zu kämpfen. Während man in Europa nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs den Eindruck hatte, dass man dem Krieg und allen Anzeichen von Militarismus abgeschworen hat — zumindest war das bis vor kurzem der Fall —, hat sich in Russland ein gewisser kämpferischer Geist des Patriotismus erhalten. Wer das nicht anerkennt, wird Russland nicht verstehen können.

„Die Wahlen sind dieses Jahr eine Art Plebiszit über den Krieg“, sagt Dmitrij Babich, Radiojournalist und Experte für internationale Politik.

„Putin verkörpert für viele Russen das Ideal des Staatsmannes. Er ist keine Person, über die man lachen kann, wie es zum Beispiel bei Breschnew oder Jelzin der Fall war. Er ist ein ernstzunehmender Politiker.“

„Putin ist nicht immer derselbe gewesen. Er hat sich in 24 Jahren stark verändert. Der erste Putin war ein Politiker, der sich dem Westen zuwandte und wollte, dass Russland Teil der westlichen Welt wird.“

„In gewisser Weise hat die Haltung des Westens gegenüber Russland die Russen überzeugt, Putin zu wählen.“

„Russland ist ein europäisches Land. Aber von vielen Europäern wurde es historisch nicht als solches gesehen, und deshalb befinden sich die Russen in dieser Situation der Zweideutigkeit.“

„Im Westen ist die Vorstellung weit verbreitet, dass Putin ein schlechter Politiker und damit ein würdiger Vertreter eines schlechten Volkes ist. Viele Russen denken also: ‘OK, wenn ihr davon überzeugt seid, dass wir ein schlechtes Volk sind, dann nehmt das!’“, so Dmitrij Babich. 

Das Bedürfnis nach Respekt erwies sich als einer der Hauptgründe für das russische Handeln und die Art und Weise, wie die Russen die internationalen Beziehungen interpretieren. „Der Westen selbst hat Wladimir Putins historischen Sieg bei den russischen Präsidentschaftswahlen garantiert, indem er dafür gesorgt hat, dass die NATO im Land als gefährlicher Feind wahrgenommen wird“, kommentierte die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa.

Und nicht nur der russische Präsident hat sich verändert, sondern auch die Russen selbst. Andrej, ein junger Informatiker, der nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Europa nach Russland zurückgekehrt ist, sagt: „Bevor ich nach Europa ging, hielt ich mich für einen Linken, ich sympathisierte mit Nawalny. Heute würde ich mich als zentristisch bezeichnen. Nachdem ich in Europa gelebt habe, verstehe ich Putin in gewisser Weise. Ich fühle mich den traditionellen Werten näher. Nachdem ich Europa gesehen habe, habe ich gelernt, Russland zu schätzen“. 

«Mittag gegen Putin»

Aber in Russland gibt es, wie wir wissen, trotz der unbestrittenen Unterstützung, die Putin genießt, auch viele Unzufriedene. Das ist ganz normal. Das Land durchläuft in der Tat turbulente Zeiten. Und sicherlich kann die hyperpatriotische Rhetorik einer mobilisierten Gesellschaft nicht allen gefallen. Das Problem ist, dass die russische Opposition gegen Putin nicht so umfassend und bedeutend ist, wie man uns im Westen glauben machen möchte.

Für die diesjährigen Wahlen hatte die Opposition, die sich um die Figur von Julia Nawalnaja, der Ehefrau des kürzlich verstorbenen Aleksej Nawalny, vereinte, eine einzigartige und kreative Initiative angekündigt, „Mittag gegen Putin“ hieß das. Die Sympathisanten der Opposition wurden aufgefordert, sich am Sonntag um 12 Uhr mittags zu den Wahllokalen zu begeben, alle zu derselben Zeit, um einen visuellen Effekt zu erzielen, ihre Präsenz auf unmittelbare Weise zu demonstrieren, und natürlich gegen Putin zu wählen. 

Der Zugang zu den Wahllokalen an den beiden vorangegangenen Tagen, Freitag und Samstag, war noch relativ einfach gewesen. Am Sonntag bilden sich pünktlich um 12 Uhr neben den Wahllokalen in Moskau, Sankt Petersburg und vielen anderen Städten, kleine Menschengruppen. In zwei Wahllokalen in einem ziemlich zentralen Moskauer Bezirk kann man mehr oder weniger fünfzig Personen zählen, die alle zur gleichen Zeit zur Wahl gekommen sind. Die Polizei in der Nähe der Wahllokale scheint sich nicht sonderlich darum zu kümmern, und wenn sie die Schlange beobachtet, so tut sie dies eher lustlos. Es handelt sich dem Anschein nach meist um junge Studentinnen und Studenten im Alter zwischen 18 und 22 Jahren. Mehr oder weniger die Zielgruppe von Nawalny und vielen anderen Oppositionellen auf YouTube. Junge Menschen mit dem großen Wunsch, Russland und die Welt zu verändern, offensichtlich. Sie sind aber bei weitem nicht genug. Innerhalb einer Stunde dünnen selbst diese kleinen Versammlungen aus. Am Nachmittag ist von den Versammlungen keine Spur mehr. Was dabei nicht hinderte, dass die Aktion die Aufmerksamkeit der westlichen Presse erweckte.

„Schlangestehen gegen Putins Scheinwahl. Noch nie ist eine russische Wahl so manipuliert worden. Tausende Russen setzten dennoch ein mutiges Zeichen gegen Putins Pseudobestätigung. Doch er erhebt sich zum Machthaber eines angeblich geeinten Volkes“, schrieb zum Beispiel der Spiegel. Doch am Ende war der Erfolg der von den westlichen Medien viel beachteten Protestaktion „Mittag gegen Putin“ mehr als bescheiden.

Die Initiative „Mittag gegen Putin“ schien im Ausland erfolgreicher gewesen zu sein, neben den russischen Konsulaten vieler europäischer Länder, wo viele Russen zur Wahl gingen. Die langen Warteschlangen sind jedoch nicht neu und wiederholten sich bei jeder Wahl, auch in den vergangenen Jahren. Also nicht unbedingt ein Zeichen von Protest. 

Die Opposition muss anerkennen, dass die große Mehrheit der Russen auf der Seite Putins steht. Sogar der oppositionelle Fernsehsender Dozhd („Regen“), der von massiven Fälschungen spricht, muss zugeben, dass Putin mindestens 75 Prozent der Stimmen erhalten hat. Nur die westlichen Medien, die von der Notwendigkeit besessen sind, die Illusion zu erwecken, dass Putin keinen großen Rückhalt in der Bevölkerung genießt oder dass dieser Rückhalt nur vorgetäuscht ist, scheinen diese Tatsache nicht akzeptieren zu können.

Westlicher Narzissmus

Der Sieg Putins kam sicherlich nicht überraschend. Und er hat im Westen unzufriedene Reaktionen hervorgerufen, was auch nicht überraschend ist. Als ob Putins Sieg wirklich eine Niederlage für den Westen wäre. Aber warum sollte sich der Westen berechtigt fühlen, den Willen der russischen Wähler zu missachten? Sind Demokratie und Respekt vor der Macht des Volkes nicht das Wichtigste, die Werte, die den Westen dem Rest der Welt so unendlich überlegen machen? Sind die Wahlen in Russland nur ein abgekartetes Spiel, wie eine Reihe von Artikeln in der westlichen Presse, einer nach dem anderen, fast unisono behaupten?

Der durchschnittliche westliche Leser oder Fernsehzuschauer, auch derjenige, der noch nie einen Fuß in Russland gesetzt hat, hat daran keine Zweifel. Schließlich ist dies auch die einzige Sichtweise, die man auf Russland erhält. Die Wahlen in Russland sind eine Farce, jeder, der es wagt, etwas anderes zu denken, ist nichts anderes als ein nützlicher Idiot Putins. Doch eine solche Reaktion des Westens ist etwas merkwürdig. Sollte es bei den Wahlen in Russland nicht in erster Linie um Russland gehen und nicht um den Westen und darum, was der Westen über diese Wahlen denkt?

Auf Russisch sagt man „Принять желаемого за действительное“, also „das Gewünschte für das Wirkliche annehmen“, was auf Deutsch mit „Wunschdenken“ wiedergegeben werden kann. Dies ist die Haltung, die in der westlichen Presse gegenüber Russland zu herrschen scheint, wenn sie sich obsessiv auf die russische Opposition konzentriert und dabei die Realität der hohen, für westliche Verhältnisse nachgerade stratosphärische Unterstützung leugnet, die der russische Präsident Putin trotz allem zu genießen scheint. 

Nun wird man sagen, nein, das sei unmöglich, denn im Gegensatz zur russischen Presse sei die westliche Presse frei und niemand zwinge die Journalisten der westlichen Presse, die Dinge so oder so zu sehen. Doch wie sonst lässt sich das Phänomen erklären, dass sich die westliche Presse so sehr in die russische Opposition verliebt, dass sie sich einbildet, diese könne Putins Macht ernsthaft herausfordern, wenn nicht als reines Wunschdenken?

Natürlich mag man im Westen Putin nicht, schließlich hat sich der russische Präsident entschieden, sich nicht vor dem Westen zu verbeugen, und ist nicht zurückgewichen, als die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen in der Ukraine unvermeidlich wurde. Aber gerade aus diesem und vielen anderen Gründen wird Putin in Russland respektiert. Auch von denen, die ihn nicht unbedingt immer geliebt haben. Aber das ist für den Westen unerklärlich und inakzeptabel. Wie kann ein Politiker, der sich auf Konfrontationskurs mit dem Westen gesetzt hat, beliebt sein? Die Wahl Putins kann nur eine Lüge sein. Stets besorgt über eine mögliche ausländische Einflussnahme, will der Westen seine Bürger vor jeder nicht konformen Perspektive schützen, insbesondere was große geopolitische Rivalen wie Russland oder China betrifft. Aber warum soll es immer um den Westen gehen?

So berichtete der den Globalbridge.ch-Lesern ebenfalls bekannte deutsche Journalist Ulrich Heyden über die Wahlen in Moskau auf den NachDenkSeiten.

Und auch der Korrespondent des Öffentlich-Rechtlichen Radios der Schweiz, Calum MacKenzie, bestätigte den marginalen Erfolg der Aktion «Mittag gegen Putin» und sprach von „ein paar Dutzend” Teilnehmern an dem von ihm besuchten Wahllokal in Moskau.