Der Schreibtisch Michail Sergejewitschs in der Gorbatschow-Foundation, Moskau

„Sehr verehrter Michail Sergejewitsch …“ – oder: Brief an einen vor zwei Jahren verstorbenen Ausnahmepolitiker

Vor zwei Jahren starb Michail Gorbatschow, der für eine neue Friedensordnung in Europa alles gegeben hatte. Es blieb ihm nicht erspart, zuvor noch – ohnmächtig, aber mit vollem Verstand – ansehen zu müssen, wie sein einzigartiges Lebenswerk mutwillig an die Wand gefahren wurde. – Die Quittung dafür bekommen wir schon heute.

Sehr verehrter Michail Sergejewitsch,

  vor zwei Jahren, am 30. August 2022, sind Sie im Alter von 91 Jahren von uns gegangen. Fünf Monate, nachdem Ihr Land, Russland, in das Land Ihrer Mutter Marija und Ihrer über alles geliebten Frau Raissa einmarschiert war und damit der schon lange auf ukrainischem Territorium tobende Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland eine neue brandgefährliche Eskalationsstufe erreicht hatte. (Die ja noch keinesfalls die letzte sein muss…)

Diese Monate seit „Kriegsbeginn“ – ich schreibe das in Anführungszeichen, denn der Krieg hatte für mich schon viel früher begonnen, spätestens mit der Beschießung des Donbass durch die Kiewer Zentralmacht oder mit dem vom Westen finanziell, politisch und publizistisch promovierten Staatsstreich vom 22. Februar 2014 auf dem Euromaidan; seine Vorgeschichte reicht mindestens bis zum NATO-Gipfel von Bukarest, als der damalige US-Präsident George Bush die Ukraine und Georgien möglichst schnell in die NATO hineinziehen wollte; ja, manchmal erwische ich mich bei dem Gedanken, ob der Westen den Kalten Krieg überhaupt jemals beendet hat, das schnelle nassforsche Triumphgeschrei vom „Sieg im Kalten Krieg“ direkt nach dem Untergang der Sowjetunion war entlarvend! – jedenfalls: diese fünf Monate seit „Kriegsbeginn“, in denen Sie noch unter uns weilten, habe ich sehr viel an Sie denken müssen. Noch mehr als in der Zeit zuvor.

Das Leben kann so ungerecht sein!

Die beiden letzten Jahre Ihres Lebens mussten Sie ja aufgrund der Coronamaßnahmen und einer Reihe von Krankheiten, die Sie schon seit Längerem plagten, von Verwandten, Freunden und Kollegen weitgehend isoliert in einer Suite des Moskauer „Krankenhaus der Präsidentialadministration“ verbringen. Selbst Ihren 90. Geburtstag konnten Sie mit Ihren langjährigen Mitarbeitern der „Gorbatschow Foundation“ nur online feiern! Nur in höchst seltenen Ausnahmefällen, wenn die akute Coronalage sich in Moskau gerade etwas entspannt hatte, war es für Sie noch möglich, Besuch von Ihrer Tochter oder engsten Freunden zu empfangen.

Fast täglich habe ich mich in dieser Zeit gefragt: Wie mag es sich anfühlen, wenn man am Ende seines Lebens ohnmächtig, aber bei klarem Bewusstsein mitansehen muss, wie das eigene einzigartige Lebenswerk für die gesamte Menschheit mit voller Wucht mutwillig an die Wand gefahren wird? Wie wird man sich fühlen, wenn man sich dabei auch noch seit mehr als zwei Jahren im Krankenhaus aufhalten muss, vom gesamten sozialen Umfeld weitestgehend isoliert? Wenn der Körper zusehends schwächer wird, Diabetes Aufstehen und Gehen fast unmöglich macht, man mehrfach in der Woche zur Dialyse muss? Aber der Geist – der kluge, der scharfsinnige – immerfort unbarmherzig wach bleibt?

Sehr geehrter Michail Sergejewitsch, Sie haben in Ihren Reden und Interviews oftmals „das Leben“ bemüht. Am Bekanntesten ja am 6. Oktober 1989 in Ostberlin am Rande der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR, als Sie – Ihr Satz ist später, zugespitzt, ein ‚Klassiker‘ geworden – einem Journalisten in die Kamera diktierten: „Ich glaube, Gefahren lauern nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ – Und ausgerechnet Ihnen hat „das Leben“ noch auf den allerletzten Metern eine grausame Lektion erteilt: 

Es kann so atemberaubend ungerecht sein!

„Der Westen hat nur genommen und nichts gegeben“

Wir wissen es von Antje Vollmer, die ja nun auch schon bald anderthalb Jahre nicht mehr unter uns weilt und mit der Sie sicherlich in der Zwischenzeit lange angeregende Gespräche geführt haben, dass Sie zumindest einmal, im Sommer 2015 in Moskau, einigen ausgewählten westlichen Politikern einen höchst seltenen Einblick in Ihre Seele gewährt haben. Geben wir ihr für einen Moment das Wort:

„So sehr das historische Bild inzwischen umgedeutet und übermalt wird: Es waren nicht die USA mit ihrer Politik der Dominanz, schon gar nicht die eher zögerlichen Briten und Franzosen und auch nicht allein die friedlichen Demonstranten auf den Straßen der DDR: Es waren Michail Gorbatschow und die UdSSR, die es wagten, ihre Soldaten (immerhin 500.000 auf dem Boden der DDR) im entscheidenden Moment in den Kasernen zu lassen und jedes Blutbad zu vermeiden. 

Gorbatschow hat damals alles riskiert für seine vielleicht zu idealistische Vision vom ‚Gemeinsamen Haus Europa‘. Aus der Sicht der meisten heutigen Russen hat er zu viel zu schnell und zu ungeschützt riskiert, weswegen sein Bild im eigenen Vaterland inzwischen sehr eingetrübt ist, trotz der großen inneren Freiheiten, die es in der Zeit von Glasnost und Perestroika gab und die heute nicht mehr existieren. 

Zweimal habe ich Michail Gorbatschow im vertrauten Kreis über seine eigene Bilanz dieser Zeit reden hören, das letzte Mal 2015 während eines letzten Treffens mit Egon Bahr. Bei seinen selten gewordenen öffentlichen Reden vor deutschen Medien war Gorbatschow immer noch gefasst, um Vertrauen und Verständnis werbend. Im kleinen Kreis aber brach es aus ihm heraus: Gemessen an seinem eigenen Einsatz für eine grundlegend veränderte Friedensordnung in Europa habe der Westen nichts gewagt, nichts riskiert. Er habe nur genommen und nichts gegeben. Das grenze an Verrat und habe Vertrauen, das in Jahrzehnten mühselig gewachsen sei, zerstört. Ohne dieses zerstörte Vertrauen sei Putin nicht zu erklären, ja, er sei das direkte Ergebnis dieses Prozesses.“

Man schämt sich als Deutscher zu Tode, das lesen zu müssen, und es stürzen einem die Tränen der Wut und der Verzweifelung ins Gesicht. Aber Sie spiegeln uns hier unmissverständlich zurück, wie „wir, der Westen“ die Jahrhundertchance einer friedlichen Neugestaltung unseres europäischen Kontinents fahrlässig vergeigt haben! 

Russland wollte nach Europa

Nach dem Ende des Kalten Krieges – besiegelt durch die großartige „Charta von Paris“, deren Prinzipien heute dringlicher denn je sind –, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wollte Ihr neues Land, Russland, ja nach Europa. Es wollte als europäisches Land, das zu großen Teilen in Asien liegt, mit seiner russischen Identität Teil der europäischen Völkerfamilie oder, in Ihrer Sprache, ein Zimmer im „Gemeinsamen Haus Europa“ werden. Selbst Ihr Nach-Nachfolger Wladimir Putin äußerte noch zu Beginn seiner Amtszeit, er könne sich einen Beitritt Russlands zur NATO durchaus vorstellen, „solange Russlands Interessen Berücksichtigung finden und es ein gleichberechtigter Partner ist“. 

Es wäre damals eine Herausforderung für kluge westliche Diplomatie gewesen, historisch gewachsene Bedrohungsängste vor Russland, vor allem in Polen und im Baltikum, mit den durch wiederholte westliche Überfälle verursachten Bedrohungsängsten von Russland und dessen alten Einkreisungsängsten auszutarieren. Statt dessen schlugen sich USA und NATO und später auch die EU ausschließlich auf die Seite der osteuropäischen Staaten, Ihrem Land wurde in den Neunziger Jahren bestenfalls gönnerhaft eine Kooperation als Juniorpartner und zu westlichen Bedingungen am Katzentisch zugebilligt. 

Kurz: Der Westen hat Ihrem Land keinen gleichberechtigten Platz in einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur eingeräumt, er hat die alte Kalte Kriegs-Rivalität unter neuen Bedingungen fortgesetzt, er hat vor allem all Ihre grandiosen Erfolge auf dem Gebiet wirklicher Abrüstung – für eine kurze Sternstunde schien es sogar, als hätten Sie die Logik des Wettrüstens selbst besiegt – gnadenlos abgeräumt!

Die Rückkehr der Logik von Krieg und Gewalt

Lieber Michail Sergejewitsch, einer unserer bedeutendsten Intellektuellen, Hans-Magnus Enzensberger, er ist Ihnen ein Vierteljahr später ins Jenseits gefolgt, hat Sie mal einen „Helden des Rückzugs“ genannt. Denn Sie haben der Welt damals gezeigt, dass eine Großmacht im Niedergang – ja, sogar eine Atommacht – auch zivil von der weltpolitischen Bühne abtreten kann: ohne den Rest der Welt mit in den Abgrund zu reißen! Heute steht Ihr damaliger geopolitischer Antipode vor einer ähnlichen Herausforderung – und es sieht nicht danach aus, als sei er gewillt, Ihrem Beispiel zu folgen …

Sie mussten die Anfänge noch ohnmächtig mit ansehen und Sie hatten in Ihren letzten Monaten noch Zeit genug, eins und eins zusammenzuzählen. Es wird Sie also leider nicht überraschen: 

Der blutige Stellvertreterkrieg in Europa auf dem Territorium des Landes Ihrer Mutter und Ihrer geliebten Frau tobt nun schon zweieinhalb Jahren lang. Und ein Ende ist nicht abzusehen! Längst ist, gegen jede Vernunft, die Logik des Krieges und der Gewalt wieder salonfähig. Mit Krieg zu kokettieren gilt – für diejenigen, die nicht an die Front müssen – schon fast als schick. Weltweit wird atomar aufgerüstet ohne Ende. Und in zwei Jahren stehen in Deutschland wieder – wie Mitte der Achtziger Jahre, als Sie an die Macht kamen – Mittelstreckenraketen, die innerhalb von maximal zehn Minuten die westlichen Städte Ihres Landes pulverisieren können. Als hätte es Sie und Ihre Politik des „Neuen Denkens“ niemals gegeben! 

Und manche vergleichen die gegenwärtige Situation in Europa gar mit den Monaten vor dem Ersten Weltkrieg.

Die Aktualität des „Neuen Denkens“

Lieber, verehrter Michail Sergejewitsch, Sie haben ein Jahr, bevor Sie von uns gegangen sind, in Ihrem langen Essay „Perestroika verstehen – Neues Denken verteidigen“ nochmals Ihre Politik erläutert und Ihr ‚politisches Testament‘ formuliert. Das Wichtigste, was Sie uns hinterlassen haben, ist das von Ihnen mitentwickelte und erstmals auf der weltpolitischen Bühne auch umgesetzte „Neue Denken“. Sie haben es in Ihrem Text folgendermaßen zusammengefasst:

„Im Mittelpunkt des Neuen Denkens stand die These vom Vorrang der universellen Interessen und Werte in einer zunehmend integrierten, interdependenten Welt. Das Neue Denken verleugnet nicht nationale, Klassen-, Unternehmens- und andere Interessen. Aber es rückt das Interesse an der Erhaltung der Menschheit in den Vordergrund, um sie vor einem drohenden Atomkrieg und einer Umweltkatastrophe zu bewahren. Wir haben uns geweigert, die weltweite Entwicklung als einen Kampf zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftssystemen zu betrachten. Wir haben unser Sicherheitskonzept überarbeitet und uns die Entmilitarisierung der Weltpolitik zur Aufgabe gemacht. Daraus ergibt sich der Grundsatz der angemessenen Verteidigungsfähigkeit auf niedrigerem Rüstungsniveau.“

Wie überlebensnotwendig eine Rückkehr zu diesen Prinzipien gerade in der aktuellen Weltlage ist, das bedarf keiner weiteren Erläuterung. Sie selbst schrieben in diesem Zusammenhang:

„Keine Herausforderung oder Bedrohung, der die Menschheit im 21. Jahrhundert gegenübersteht, kann militärisch gelöst werden. Kein großes Problem kann von einem Land oder einer Gruppe von Ländern im Alleingang gelöst werden. Solange es Atomwaffen gibt, besteht die Gefahr eines Atomkriegs. Es kann kein anderes Endziel geben als die Abschaffung der Atomwaffen. Aber das Gerede von einer Welt ohne Atomwaffen – und alle Länder, einschließlich der USA, geben weiterhin Lippenbekenntnisse zu diesem Ziel ab – wird eine leere Phrase bleiben, wenn die derzeitige Militarisierung der Weltpolitik und des politischen Denkens nicht überwunden wird. Heute ist es besonders relevant, dass keine Seite militärische Überlegenheit anstreben darf.“

Lieber Michail Sergejewitsch, solange Sie noch unter uns weilten, fühlte ich mich sicherer auf dieser Welt. Nun liegt es an uns, gute Erben zu sein, wenn wir nicht alle im schlimmsten Falle im Atomblitz verdampfen wollen. Ein wunderschöner Satz von Ihnen könnte uns dabei unterstützen:

„Sieger ist nicht, wer Schlachten in einem Krieg gewinnt, sondern wer Frieden stiftet!“