Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder rechnet vor, wie einfach es doch wäre, Russland in der Ukraine zu besiegen. Man müsste nur mehr Geld in die Ukraine schicken. («Die Schweiz am Wochenende» vom 27.1.2024.

Schweizer Zeitungen: Man kann sich nur noch schämen.

Als Medien-Angehöriger – ich war Journalist, Redakteur, Chefredakteur und schließlich Medien-Manager – kann man sich nur noch die Augen reiben. Was die heutigen großen Schweizer Zeitungen zu geopolitischen Themen absondern, ist eine Katastrophe – und brandgefährlich dazu. Also einfach wegschauen? Oder lesen und schlaflose Nächte in Kauf nehmen? 

Schlimmer geht nimmer, habe ich am 13. Januar gedacht, als ich auf Globalbridge.ch auf einen politisch und inhaltlich absolut grauslichen Artikel von Andreas Rüesch in der NZZ vom 12. Januar aufmerksam machte. Doch Irrtum! In der Samstagausgabe vom 27. Januar hat eine Frau, die NZZ-Redakteurin Meret Baumann – wenn auch in einer anderen Thematik – Andreas Rüesch noch fast übertroffen. Sie schrieb zur Klage Südafrikas am Internationalen Gerichtshof gegen Israel einen Kommentar mit der Headline «Genozidvorwurf muss gegen die Hamas erhoben werden» (im Internet sogar noch klarer: «Der Genozidvorwurf muss gegen die Hamas erhoben werden statt gegen Israel». Die ganze Geschichte Israels verschwindet dabei unter dem Teppich, inklusive die Nakba um 1948, als Hunderttausende von Palästinensern mit Waffengewalt vertrieben wurden. (Siehe dazu Karin Leukefelds Interview mit einem damals Vertriebenen.) Und weil ja keine NZZ erscheinen darf, in der nicht auch irgendwo gegen Russland Stimmung gemacht wird, wird auch diese redaktionelle Vorgabe erfüllt. Wörtlich: «Wo etwa ist der Aufschrei Südafrikas gegen die genozidären Handlungen Russlands in der Ukraine?» «Genozidäre Handlungen Russlands in der Ukraine»? Wo doch selbst die NZZ am 7. September 2023 die Rakete auf den Markt in Konstantjinivka speziell vermelden musste, weil dort – Achtung! – 16 Zivilisten zu Tode kamen und sich hinterher erst noch herausstellte, dass die Rakete von der ukrainischen Armee abgeschossen worden war. Und es war damals, wie man im «Echo der Zeit» hören konnte, eine der «folgenschwersten Angriffe» auf ein ziviles Ziel. Aber für Meret Baumann von der NZZ ist das Verhalten Russlands in der Ukraine «genozidär» – was wohl so etwa mit «völkermörderisch» übersetzt werden müsste. 

Doch lassen wir das. Es gibt ja nicht nur die NZZ, es gibt zum Beispiel auch die «Schweiz am Wochenende» des CH-Media-Konzerns, die, wie sie selber meldet, meistgelesene Zeitung in der Schweiz. Und was brachte sie am letzten Samstag? 

Ja, auch hier: Es muss auf Teufel komm raus irgend etwas Gewichtiges gegen Russland ins Blatt. Diesmal ein Interview mit dem US-amerikanischen Historiker Timothy Snyder, fast zwei Zeitungsseiten groß. Das Interview hat anlässlich des WEF auf Wunsch Timothy Snyders im Ukraine-Haus in Davos stattgefunden. 

«Biden war ein historisch gesehen grossartiger Präsident», steht da als Aussage Timothy Snyders geschrieben, wenn auch nur irgendwo im Text. Die Headline über dem Interview besagt dagegen alles: «Es wäre wirklich einfach, diesen Krieg zu gewinnen», steht da. Man muss der Ukraine nur geben, was sie braucht: Geld. Und selbst wenn Donald Trump im Herbst die Wahlen gewinnen und die US-amerikanischen Gelder für die Ukraine ausfallen sollten, wäre auch Europa allein in der Lage, der Ukraine so viel Geld zu geben, dass sie diesen Krieg gewinnen kann. Man müsste nur wollen – und, so Timothy Snyder, man sollte eben wollen!

Selbst Timothy Snyder macht allerdings darauf aufmerksam, dass die USA ein Problem hat. «Wir haben in den USA ein erschreckendes Ausmass an Ungleichheit. Es gibt sehr viele sehr, sehr arme Menschen», sagt Timothy Snyder an anderer Stelle. Immerhin, ein bisschen Selbstkritik macht sich auch für einen US-amerikanischen Universitätsprofessor ja nicht schlecht. Und auch die Redaktion der CH-Media-Zeitungen weiss natürlich von dieser Ungleichheit – theoretisch. Aber sie hat gerade vorgesorgt, dass in der eigenen Leserschaft ob diesem Faktum keine zu starke Kritik an den USA aufkommen kann. Um die – politisch gefährliche – Beobachtung, dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird, zu entschärfen, hat der CH-Media-Konzern nun einen neuen Kolumnisten angeheuert: René Scheu, seines Zeichens Geschäftsführer des «Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik» IWP an der Universität Luzern. Was man dabei wissen muss: Dieses Institut ist nur pro forma an der Universität. De facto wird es zu hundert Prozent von einer privatwirtschaftlichen Stiftung finanziert, hinter der maßgebend die Familie Schindler vom gleichnamigen Fahrstuhl- und Rolltreppen-Konzern steht, die ihrerseits unter den 300 Reichsten der Schweiz mit 12 bis 13 Milliarden (gemäß Schätzung im Jahr 2018) Platz Nr. 18 einnimmt. 

Mit Verlaub: Was soll ein Kolumnist zum Thema Wirtschaftspolitik – oder eben auch zum Thema Kluft zwischen Arm und Reich –, der seinerseits von Multimilliardären finanziert wird? Aber zu René Scheu und seiner bemerkenswerten Journalisten-Laufbahn habe ich schon auf einer anderen Plattform geschrieben, man kann es hier nachlesen

Es passt alles zusammen: In der Ukraine muss Krieg geführt werden, es sterben dabei ja keine US-Amerikaner, Israel als US-Verbündeter muss geschont werden, und sobald auch noch die Wirtschaft zum Thema wird, muss die US-amerikanische Finanzindustrie und die neoliberale Wirtschaftspolitik verteidigt werden, das Geld muss ja schließlich wie seit vielen Jahren gehabt aufwärts fließen. Woher sollen denn sonst die Milliardäre und Multimilliardäre kommen?