Schweizer Medien fordern mehr Krieg in der Ukraine
«Einmal mehr holt Amerika für die freiheitliche Welt die Kohlen aus dem Feuer.»
Mir stockt der Atem.
Ich lese nochmals: «Einmal mehr holt Amerika für die freiheitliche Welt die Kohlen aus dem Feuer.»
Der Satz steht in einem Kommentar des Chefredakteurs der CH-Media-Zeitung «Schweiz am Sonntag» Patrik Müller in der Ausgabe vom 30. April 2022. «Schweiz am Sonntag» hat nach eigenen Angaben «rund 400’000 Auflage» und erscheint als Wochenendausgabe von 31 Deutschschweizer Regionalzeitungen – «von Basel bis Vaduz und von St. Gallen bis nach Altdorf». Der dahinterstehende Medien-Konzern heisst CH-Media. Und der Chefredakteur dieser für Schweizer Verhältnisse riesigen und in puncto Meinungsmache neben NZZ, Tages-Anzeiger und der Boulevard-Zeitung «Blick» dominanten Zeitung schreibt, dass die USA mit ihrem Einsatz zugunsten der Ukraine «einmal mehr für die freiheitliche Welt die Kohlen aus dem Feuer holt», weil sie der Ukraine am meisten Waffen und am meisten Geld schicken. Dass «Amerika» mit seiner aktiven und massiven Unterstützung der Putschisten auf dem Maidan 2014 einen substanziellen Beitrag zur anschliessenden Krise in der Ukraine geleistet hat – mittlerweile ist die Ukraine das ärmste Land Europas –, davon steht in Patrik Müllers Kommentar natürlich kein Wort.
Man könnte ob Patrik Müllers Schreibe echt wahnsinnig werden. Hitler-Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg wollte und, ohne von irgendeiner Seite bedroht zu sein, selber begann, zahlte dieses gigantische Kriegsverbrechen mit 7,7 Millionen eigenen Kriegsopfern, zum grössten Teil Soldaten. Die von Deutschland aber 1941 angegriffene Sowjetunion, deren Roter Armee es 1943 in gewaltigen Schlachten gelang, die deutschen Truppen in Stalingrad und in Kursk zu schlagen und damit letztlich die Niederlage Nazi-Deutschlands einzuleiten, hatte aber nach weitgehend übereinstimmenden Schätzungen 27 Millionen Kriegsopfer zu beklagen, etwa die Hälfte davon Zivilisten! Frankreich hatte etwa 570’000, Italien und das Vereinigte Königreich je etwa 450’000 Kriegsopfer zu beklagen, beide mit einem relativ kleinen Anteil an Zivilisten. Die USA, die erst Ende Dezember 1941 in den Krieg eintraten, vermeldeten am Ende des Krieges gerade noch 418’500 Kriegsopfer – alles Soldaten, da der Krieg ja nicht auf ihrem Staatsgebiet stattfand.
Der Vietnamkrieg forderte über eine Millionen Tote, ein Grossteil davon Zivilisten. Der Anteil der USA blieb bei unter 60’000, ausschliesslich Soldaten. Für wen holte «Amerika» dort «die Kohlen aus dem Feuer»? Beim Angriffskrieg der NATO unter Führung der USA 1999 in Jugoslawien gab es um die 5000 Tote auf Seite Jugoslawiens, aber keine auf Seite der NATO, die ja einfach nur bombardierte. Für wen holte «Amerika» dort die «Kohlen aus dem Feuer»? Beim Angriffskrieg der USA im Irak mit einer, wie man heute weiss, total erlogenen Begründung – es gebe dort Massenvernichtungsmittel – kam es zu einigen hunderttausend Kriegsopfern, die Schätzungen gehen auch hier bis über eine Million. Der Grossteil der Kriegsopfer waren Zivilisten. Die USA aber verzeichneten weniger als 5000 Opfer, alles Soldaten. Für wen holte «Amerika» dort im Irak die «Kohlen aus dem Feuer»? Auch im Krieg der USA in Afghanistan gab es Tausende Tote, darunter sehr viele Zivilisten. Für wen holte «Amerika» dort in Afghanistan die «Kohlen aus dem Feuer»? Die Realität ist: Es ging immer nur um Macht und im Falle von Bodenschätzen natürlich auch um Geld. Aber für den Schweizer Chefredakteur Patrik Müller holen die USA im Ukrainekrieg mit ihren gigantischen Waffenlieferungen, mit ihren militärischen Beratern, mit der Unterstützung durch ihre Geheimdienste und mit ihren riesigen finanziellen Zuschüssen einmal mehr «für die freiheitliche Welt die Kohlen aus dem Feuer».
Erstaunlich? Nicht wirklich. Schon am 5. Juni 2019 bezeichnete Patrik Müller die Landung in der Normandie vor 75 Jahren als «Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg». Schon damals wollte er vom wirklichen Wendepunkt in Stalingrad und Kursk, mit Hunderttausenden von Kriegsopfern auf sowjetischer Seite, nichts wissen – weil bekanntlich nicht sein kann, was nicht sein darf. Geschichts-Neuschreibung pur! Schon damals stellte sich die Frage: Ignoranz oder bewusste Geschichtsfälschung?
Der Krieg in der Ukraine muss mit Waffengewalt gelöst werden
Was allerdings noch schlimmer ist, als das Fehlen eines faktentreuen Geschichtsbewusstseins, sind die Kommentare der Ausland-Redakteure der CH-Media-Zeitungen, Samuel Schumacher und Fabian Hock. Am 12. April 2022 zum Beispiel schrieb Fabian Hock auf den Frontseiten dieser CH-Media-Blätter zum Besuch des österreichischen Kanzlers Karl Nehammer in Moskau wörtlich: «Statt dem Kreml-Chef das Antlitz eines verhandlungswürdigen Gegenübers zu verleihen, sollte Westeuropa alles daran setzen, die Ukraine mit schlagkräftigen Waffen zu beliefern. Das ist der einzige Weg, Putin aufzuhalten.» Mit Waffen! Konkret heisst das: Bitte keine diplomatische Lösung, sondern endlich mehr Waffen und also mehr Krieg und also viel mehr Tote! Ein Stellvertreterkrieg zwischen zwei Grossmächten auf Kosten des Lebens von Tausenden von Ukrainern! Diese Empfehlung eines verantwortlichen Auslandredakteurs in den meistgelesenen Tageszeitungen der neutralen Schweiz! Wo sind wir, wir Schweizerinnen und Schweizer, mit unseren Medien gelandet?
Zu den brillanten Geschichtsverdrehern in der CH-Media-Gruppe gehören aber auch noch andere, Philipp Löpfe zum Beispiel, jetzt Redaktor beim konzernnahen Internetportal «watson» – mit dem signifikanten Werbeclaim «News ohne Bla Bla». Löpfe am 30. April in den CH-Media-Zeitungen auf Seite 2: «Historische Vergleiche sind stets heikel, doch die Parallelen zwischen Putins Krieg und Hitlers Angriff auf Polen sind so offensichtlich, dass sie ein Blinder mit dem Stock sehen kann.» Wie recht Löpfe doch hat! Blinde mit Stöcken «sehen» genau das, was ihnen unsere einäugigen Medien vorlesen.
Joe Biden: ein brillanter Mann
All diese Kommentare nur tagesaktuelle Ausrutscher? Der Chefredakteur der CH-Media-Zeitungen doppelte eine Woche später, am 7. Mai, gleich nach. Wörtlich: «Doch seit sich die Ukraine-Krise zuspitzte erweist sich Joe Biden als exzellenter Präsident. Er setzte die Nato-Scherben zusammen, die Trump hinterlassen hatte, und baute in kürzester Zeit eine westliche Allianz gegen Putin. Mit seiner Entschlossenheit liess der 79-Jährige europäische Leader wie Frankreichs Emmanuel Macron, 44, oder Deutschlands Olaf Scholz, 63, alt aussehen. Sie wirken neben Biden wie Lehrlinge. Zu lange agierten sie ängstlich und brachten nicht den Mut auf, Putin mit wirtschaftlichen Waffen (scharfen Sanktionen) und dann auch militärischen Mitteln (Munitions- und Panzerlieferungen) entgegenzutreten.»
Und nach der Zwischenüberschrift «Der Wert von Erfahrung und Weisheit» schreibt Patrik Müller: «Doch die Strategie von Biden – der nicht nur Sanktionen und Waffenlieferungen beschloss, sondern auch früh von ‹Kriegsverbrechen› und ‹Genozid› sprach – setzte sich durch. Sonst hätte Putin womöglich längst gewonnen. Es zeigt sich nun, wie wertvoll jahrzehntelange Führungserfahrung und auch ein hohes Lebensalter in Krisen von epochaler Dimension sein können. Der als verschlafen und trottelig verspottete Biden ist ein Vollprofi, der die grossen Linien erkennt und weiss, wie er die staatlichen Institutionen effektiv einsetzen kann.»
Nach einem Loblied auf die US-amerikanischen Geheimdienste, Patrik Müllers Schlusswort: «Doch nach zehn Wochen Krieg, den Putin leicht zu gewinnen glaubte, darf man feststellen: Dank Bidens Brillanz gibt es berechtigte Hoffnung, dass die Ukraine gewinnen wird – und mit ihr die Freiheit und Demokratie.» Auch hier also wieder die Forderung: Bitte nicht verhandeln, sondern mit Waffen siegen! Tote in beliebiger Zahl – notabene keine US-Amerikaner! – sind für Patrik Müller kein Thema.
(An dieser Stelle sei auf die stets aktuelle und höchst lesenswerte Brüsseler Plattform «Lost in EUrope» verwiesen. Auch Eric Bonse, ihr Herausgeber, hat Joe Bidens Verhalten zum Ukraine-Krieg analysiert. Er kommt allerdings zu einem ganz anderen Resultat.)
Putin ein «Stümper»?
Constantin Seibt, der 56jährige Gründer und Miteigentümer der Schweizer Internet-Plattform «Republik», ist nach eigenen Angaben «ein schüchterner Mensch mit abenteuerlichem Herz». Schüchtern? Auch er, in der Medien-Szene als sogenannte «Edelfeder» bekannt und mit etlichen Journi-Preisen ausgestattet, auch er hat zum Ukraine-Krieg in die Tasten gegriffen – und wie! Seine Putin-Biographie vom 14. April 2022 unter der Headline «Russisches Kriegsschiff, fick dich!» ist über 60’000 Zeichen lang und ist zum echt grausam emotionalen Pamphlet verkommen. Vor allem thematisiert Seibt darin die militärischen Misserfolge Putins und kommt zum Schluss: «Es ist fast egal, was die Zukunft bringt. Eine solche Blamage [wie jetzt im Krieg in der Ukraine, Red.] lässt sich nicht korrigieren. Putins Platz in den Geschichtsbüchern ist nun klar – die Frage ist nur, ob unter den Stümpern oder den Verbrechern.»
Bedrückend ist nicht nur Seibts Pamphlet, das mit sachlichem Journalismus wenig gemein hat, bedrückend sind auch die begeisterten Kommentare dazu etlicher «Republik»-Leserinnen und -Leser. Ob die «Republik» stolz sein kann auf solche Zurufe, bleibe dahingestellt. Immerhin gab es da auch den sachlichen und längeren Kommentar des Genfer Ethik-Professors Christoph Stückelberger: «So ein aggressiver Beitrag giesst Öl ins Feuer des bereits heissen Feuers des Konflikts! Der ‹Kampf der Systeme› als Kampf zwischen Demokratie und Diktatur wirft uns zurück nach 1991, als der Westen lauthals und siegesgewiss den Sieg der Demokratie und liberalen Wirtschaftsordnung verkündete (Verkündigung: mit religiöser Gewissheit). Wer heute mit Russ/innen, mit Chinesen/innen und Afrikaner/innen spricht – und ich tue es beruflich täglich – stellt fest, dass sie genau in dieser westlichen triumphalistischen Selbstgewissheit eine Ursache der gegenwärtigen Konflikte sehen. Als Schweizer aus demokratischem Urgestein ist mir die Demokratie sehr sehr wichtig. Meine Tätigkeit als Ethikprofessor auf allen Kontinenten hat mich aber Bescheidenheit gelehrt. Eine multipolare Welt, zu der sich in den letzten drei Jahrzehnten so manche bekannten, heisst auch, verschiedene Wertesysteme, Religionen sowie ökonomische und politische Systeme anzuerkennen! [ ] Der Beitrag ‹Russisches Kriegsschiff, fick dich› [von Constantin Seibt] ist in seiner Aggressivität und ‹Shitstorm›-Sprache der Zeitung Republik unwürdig. [ ]» – Da kann man nur sagen: Danke, Christoph Stückelberger!
Constantin Seibts Pamphlet erinnert natürlich auch an seinen Offenen Brief in englischer Sprache – damals noch im Zürcher TagesAnzeiger – an die US-Amerikaner vor den Präsidentschaftswahlen 2016, wo er ebenso emotional für die Wahl von Hillary Clinton eingetreten war – für Hillary Clinton, die als Top-Politikerin unter Präsident Obama immer zu den dezidierten Befürwortern von militärischen Einsätzen gehörte: «Dear Americans: Vote for Hillary!»
Und die anderen grossen Schweizer Zeitungen?
Die anderen grossen Zeitungen der deutschsprachigen Schweiz, die NZZ, der TagesAnzeiger und der «Blick», auch sie feuern verbal kontinuierlich und massiv gegen Russland. Die NZZ holte sich dabei sogar intellektuelle Verstärkung bei Josef Joffe, dem Herausgeber der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit», der in seinem eigenen Blatt schon seit Jahren für eine stärkere Militarisierung Deutschlands plädiert. Aber die in den Texten dieser anderen Zeitungen publizierten Berichte und Kommentare sind wenigstens ein klein bisschen weniger aggressiv und weniger hasserfüllt. Und die NZZ brachte am 3. Mai sogar eine lange Analyse des Verhaltens des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, in der Ausland-Chef Andreas Rüesch, man muss das fairerweise erwähnen, sogar auf das politische Versagen von Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj und auf seine miserable Politik in der Ukraine vor dem 24. Februar 2022 hinzuweisen den Mut hatte.
Und was ist mit den Öffentlich-Rechtlichen Medien, mit Radio und TV?
Es genügt ein Zitat von Urs Leuthard, dem jetzigen Leiter der Fernseh-Bundeshausredaktion, zum Krieg in der Ukraine : «Es soll hier gar nicht der Versuch unternommen werden, den Wahrheitsgehalt der russischen Argumentation zu überprüfen und zu widerlegen; es würde den mittlerweile Tausenden Getöteten und Verletzten des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine, den Opfern von Mariupol, Butscha, Borodjanka, Kramatorsk und anderen Orten nicht gerecht. Denn mit Information oder Diplomatie haben diese Aussagen wenig, mit Propaganda sehr viel zu tun.» Genau hinschauen, nachfragen, recherchieren, beide Seiten anhören, und nachschauen, warum und wie etwas entstanden ist: All das macht gemäss Urs Leuthard keinen Sinn. Er weiss es: Die Ukrainer sind die Guten und sagen die Wahrheit, die Russen sind die Bösen und lügen. Und Achtung: Das sagt ein Schweizer Medien-Mann in verantwortlicher Position, der von uns Schweizer Steuer- und Gebührenzahlern ein Gehalt von – geschätzt – weit über 100’000 Franken im Jahr kassiert! («Media Relations SRF» vermeldete auf Anfrage, dass darüber keine Auskunft gegeben wird.) Wofür brauchen wir Journalisten, wenn sie ohne eigene Arbeit sowieso wissen, dass alle Informationen von der einen Seite wahr, von der anderen Seite falsch sind?
Wie sinnvoll war Zeitungslesen und Radiohören doch in vergangenen Zeiten: Man informierte sich, aus der ganzen Welt ebenso wie auch aus der eigenen Region. Man erfuhr, wie auf allen politischen Ebenen für vernünftige Lösungen aktueller Probleme diskutiert und gekämpft wurde und wird. Man wurde auf aktuelle Veranstaltungen oder auch auf lesenswerte Bücher aufmerksam gemacht. Auch wer Unterhaltung suchte – Zeitvertrieb! – kam auf seine Rechnung.
Und heute? Heute wird man – zum Beispiel als Leser einer CH-Media-Zeitung, und dort auch im Kultur-Teil – jeden Tag belehrt, dass die USA das positive Vorbild der Welt sind und dass Russland – nicht nur Putin, auch alle anderen Russen und Russinnen – nur noch unseren Hass verdienen. Und mit dieser Hass-Verbreitung machen die Schweizer Medienkonzerne jedes Jahr Millionen-Gewinne – und wir müssen dafür zahlen.
Es ist nur noch traurig.