Schweiz: Plädoyer für eine Neutralität der Besonnenen
(Red.) Die Schweiz ist, so steht es in der Verfassung, neutral. Ausgerechnet jetzt bei Ausbruch der Krieges in der Ukraine aber hat die Regierung, der Bundesrat, wie die Regierung in der Schweiz heisst, die Neutralität verletzt und sich – offensichtlich emotional überfordert – auf die Seite der Ukraine positioniert. Damit hat die Schweiz auch die in der Vergangenheit oft gehabte Chance, als Vermittlerin zu funktionieren, total vergeben. Jetzt läuft eine Unterschriftensammlung, um die Schweizer Neutralität wieder einzuführen und zu festigen. Die Schweizer Soziologin Verena Tobler hat dazu ein – zumindest für Schweizer – interessantes, wenn auch nicht ganz einfach zu lesendes Plädoyer verfasst. (Zur Autorin siehe am Schluss des Beitrags.)
In Reaktion auf den Ukraine-Krieg hat der letztjährige Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis, zusammen mit den drei Frauen im Bundesrat, die tradierte schweizerische Neutralität versenkt. Diese war allerdings seit längerem bedroht und zwar aus vielschichtigen Gründen – hier nur einige davon:
• Kritik an der Neutralität gab’s seit dem Zweiten Weltkrieg: Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Achsenmächten brachten den Verdacht auf, die Schweiz sei eine Kriegsgewinnlerin.
• Seit 1945 hat die Schweiz sich stark verändert: Das grenzenlose Weltwirtschaften hat unserem Land neue Abhängigkeiten und ein Übermass an Komplexität gebracht. Ein Tohuwabohu, das nicht nur die Parteien und die Stimmbürgerschaft, sondern manchmal auch den Staat oft überfordert.
• Die Bevölkerung hat sich durch die Einwanderung nahezu verdoppelt: Multikulturalisiert und globalisiert nimmt der Anteil an Neuschweizerinnen und Neuschweizern in der Stimmbürgerschaft rasch zu. Viele sind heute – direkt oder indirekt – mit dem Ausland verbunden und haben inzwischen zwei oder sogar noch mehr Pässe.
• Die Parteien sind zersplittert. Alt- und Neulinke verstehen sich nicht: Erstere sind systemkritisch, letztere, je nachdem, an individuenzentrierter Sensibilität oder Empfindlichkeit orientiert. Grüne und Grünliberale stehen in Konkurrenz, wollen aber genauso weiterwachsen wie die SVP, die Alt- und Neoliberalen – erstere nationalterritorial verortet, letztere an der Hyperglobalisierung interessiert.
• Zu unguter Letzt: Früher waren politische Ämter an Strukturen und damit verantwortungsethisch an- und eingebunden, heute werden sie oft als persönliche Rolle interpretiert ….und dann entsprechend gesinnungsethisch eingefärbt oder publikumswirksam zelebriert.
I Was tun in solch vertrackter Situation? – ein paar Vorüberlegungen
11. Zuerst, was wir ganz und gar nicht brauchen können, ist „Groupthink“ (1)
Gruppendenken hat sich bereits in der Corona-Krise angekündigt: Es kommt auf, wenn Menschen Angst haben oder verunsichert sind. Dann nehmen Schwarz-Weiss-Malerei und Lagerdenken überhand, die Eigengruppe wird idealisiert, Andersdenkende und Fremde werden dämonisiert; es gilt nur noch das Entweder-Oder – das sind Erlebens- und Verhaltensmuster, die mit Realitätsverzerrungen verbunden sind und die zu gravierenden Fehlentscheidungen führen.
12. Was wir stattdessen dringend brauchen ist ein Grundkonsens
Ein Grundkonsens über die zentralen staatspolitischen Institutionen – und dazu gehören in der Schweiz beide: Die Neutralität und die Direkte Demokratie.
• Die Direkte Demokratie gibt den Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern die Möglichkeit, über wichtige Gesetze und Sachgeschäfte direkt und eigenständig zu entscheiden. Beides setzt Sachkenntnisse und Sachverstand voraus, aber auch ein besonderes Verhältnis der Bürger und Bürgerinnen zu ihrem Staat und zu ihren Mitbürgern.
Denn lebendig bleibt die Direkte Demokratie nur auf der Basis von „Politischer Fairness“.
Diese schliesst ein:
• die Pflicht zu einer sachbezogenen Auseinandersetzung,
• den Mut, parteienübergreifend und kontrovers miteinander zu debattieren,
• den Respekt, der allen zukommt – auch dem politischen Gegner.
Das ist der Boden, auf dem die Direkte Demokratie auch künftig funktionieren und unser Land in einer Welt voller Widersprüche und Ambivalenzen langfristig bestehen kann.
In diesem Sinn will ich im Folgenden über die schweizerische Neutralität nachdenken. Nicht ihre staatspolitischen Regeln und Implikationen werde ich fokussieren, sondern jenen Aspekt der Neutralität ins Zentrum stellen, der unserem Land Besonnenheit bringt.
II Zur Neutralitäts-Initiative
„Neutralität“ – eine unparteiische Haltung in internationalen Konflikten – beinhaltet das Verhältnis der Schweiz zu sich selbst und zur übrigen Welt: Nicht nur zu Europa und zum Westen, sondern zu jener weit grösseren „Restwelt“, deren Bedeutung und numerisches Gewicht rasch zunimmt.
Weil derzeit die tradierte Neutralität der Schweiz von innen und von aussen bedroht ist, hat Altbundesrat Blocher eine Initiative angestossen. Konzipiert aber wurde die Neutralitäts-Initiative von einer parteien-übergrei-fenden Gruppe und zwar so, dass Herr Blocher w e i t – sogar sehr weit! – über seinen eigenen Schatten springen musste. Zu diesem Wagnis sei ihm herzlich gratuliert.
Nur ganz kurz zu dem, was von der tradierten Neutralität erwahrt werden soll. Wie bisher hat die Schweiz eine bewaffnete Neutralität mit einer Armee zur Selbstverteidigung. Sie beteiligt sich weder an Kriegen noch an nicht-militärischen Zwangsmassnahmen und sie tritt auch keinen Militärbündnissen bei. Aber ganz und gar UNO-konform trägt sie jene Sanktionen mit, welche die UNO verhängt.
21. Doch jetzt zum Neuen an der Initiative
Sie beinhaltet eine zukunftsweisende Chance für unser Land. Da heisst es nämlich:
„Die Schweiz nutzt ihre Neutralität,
für die Verhinderung und Lösung von Konflikten
und steht als Vermittlerin zur Verfügung.“
Dieser Passus ist ein Segen! – so wichtig, dass er Verfassungsrang braucht. Und zwar aus zwei Gründen:
Zum einen kann auf dieser Basis das IKRK weiterhin seine Arbeit machen:
• auf beiden Seiten eines Kriegsgeschehens die Opfer unterstützen,
• das Los der Flüchtlinge erleichtern
• Menschen in aller Welt vor staatlicher Willkür schützen.
Zum andern aber geht dieser Passus weit darüber hinaus: Die offizielle Schweiz wird dazu verpflichtet, sich aktiv für den Frieden zu engagieren. Denn die integrale Neutralität, die dem IKRK seine Arbeit ermöglicht, vermag das nicht. Deshalb soll unser Land künftig konfliktlösende und friedenstiftende Institutionen schaffen und anbieten, während seine „Staatsträger“ und „Staatsträgerinnen“ an ein Amt gebunden sind, das sie verfassungsgemäss und auf verantwortungsethischer Basis zu erfüllen haben. Damit wird – hoffentlich! – auch in der Schweizer Bevölkerung wieder jene Besonnenheit ermöglicht, die für das gelingende Zusammenleben unverzichtbar ist.
Gestützt auf diesem neuen Neutralitätsverständnis wird die Schweiz zu einem weltoffenen Land:
Zu einem Staat, in dem der Bundesrat, die Behörden und die Bürger und Bürgerinnen künftig lernen können, was nicht nur sie, sondern auch was andere brauchen, damit auf unserem Planeten ein gemeinsames und friedliches Überleben möglich wird. Denn dazu reicht die individualistische Optik, wie sie die liberale Ideologie vorgibt, nicht aus. Stattdessen sind – realitätsadäquat – sowohl die vorhandenen Ressourcen und der energetisch-technologische und juristische Machtapparat mitzudenken als auch die sozial konstruierte Wirklichkeit: die Institutionen und die verbindlichen Rollen, auf denen alle Gesellschaften seit je und je und überall basieren. Auch wenn die konkrete Ausformung dieser gesellschaftlichen Parameter zeit- und kontextspezifisch unterschiedlich und in der ungleichen Weltwirtschaft sogar konfliktiv sind – in ihnen steckt der Schlüssel zum Überleben.
22. Diesen neuen Spross habe ich „die Neutralität der Besonnenen“ getauft.
Besonnenheit braucht unser kleines Land, brauchen der Bundesrat, die Bundesbehörden und die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen, wenn in der Schweiz sowohl die Direkte Demokratie als auch der interne Frieden erhalten bleiben sollen. Besonnenheit braucht aber auch die grosse Welt – und zwar in Ost und West sowie in Süd und Nord, soll die Menschheit künftig auf sozial und ökologisch nachhaltiger Basis überleben.
• Was aber meint Besonnenheit?
Laut Wikipedia, jene überlegte Gelassenheit, die sich in schwierigen Situationen ausreichend Verstand erwahren kann, so dass es zu keinen vorschnellen und unüberlegten Entscheidungen und Taten kommt. Während Besonnenheit auf den rationalen Aspekt verweist, fokussiert Gelassenheit den emotionalen: eine innere Ruhe – trotz Tohuwabohu und Ambivalenzen!
In meiner eigenen Diktion setzt Besonnenheit „Ambiguitätstoleranz“ voraus: die Bereitschaft, Licht und Schatten zusammenzudenken. Das gilt für den eigenen Lebensstil, aber auch für die Moral (2). Denn Moral ist zwar nötig, aber leider auch schrötig. Und schrötig bleibt sie, so lange sie ihren eigenen Schatten ausblendet.
Gleichzeitig ist mit dem neuen Neutralitäts-Passus die Gefahr gebannt, dass die Schweiz – vor lauter Besonnenheit – gar nicht handelt. Im Gegenteil: Die Schweiz handelt! Aber nicht kriegerisch, sondern am Ausgleich orientiert und auf Dienste verpflichtet, die Konflikte verhindern und lösen helfen.
Im Folgenden will ich die Behauptung, dass beide, die grosse Welt und die kleine Schweiz, auf Besonnenheit angewiesen sind, mit einem Blick nach aussen und mit einem nach innen, in die Schweiz, unterlegen.
III Zuerst der Blick hinaus über die Zäune unseres Nationalstaats
31. Weshalb ist die grosse Welt – mehr denn je – auf Besonnenheit angewiesen?
„Earth4all“ (3), die Folgeschrift auf „Die Grenzen des Wachstums“, die Meadows vor 50 Jahren verfasst hat, listet fünf (4). Probleme auf, für deren Lösung es eine ausserordentliche Kehrtwende braucht. Ich greife hier nur die zwei dringlichsten auf: Zum einen die klimatische und ökologische Bedrohung in Form der Klimaerwärmung und sinkenden Biodiversität; zum andern die soziale Bedrohung: die gewaltigen Ungleichgewichte zwischen arm und reich. Die beiden Probleme sind dramatisch miteinander verknüpft und Earth4all prognostiziert:
„Wenn wir unseren derzeitigen ökonomischen und politischen Kurs beibehalten, steuern wir auf eine weiter wachsende Ungleichheit zu.“ Das löst soziale Spannungen aus, gesellschaftliche Zusammenbrüche, Kriege
„Diese Faktoren tragen (…) zu inadäquaten Antworten auf den klimatischen und ökologischen Notstand bei“ (5).
Kurz: Wir stecken in einem Teufelskreis, den wir uns nicht länger leisten können!
Ein Teufelskreis, den ich seit langem (6) – oft verzweifelt, bislang aber vergeblich – anmahne. Vielleicht greife ich ja nach einem Strohhalm? Doch nur keine unnötige Sorge! Auch mir ist klar, dass die kleine Schweiz die Welt nicht retten kann.
Was unser Land aber kann: Zum gelingenden Gang der Dinge beitragen.
Fakt ist: Kriege innerhalb und zwischen Staaten verunmöglichen, dass an der ökologischen und der sozialen Nachhaltigkeit gearbeitet werden kann. Kriege bewirken, zumindest kurz- und mittelfristig, das pure Gegenteil davon. Der Ukrainekrieg ist nur eines von vielen Beispielen dafür. Konflikte zu verhindern und zu lösen wird deshalb dringender denn je. Und präzis das schreibt die Neutralitätsinitiative der Schweiz in ihre Verfassung.
Kurz: Die Welt ist auf mehr Besonnenheit angewiesen und die Schweiz kann dazu beitragen!
32. Weshalb aber gebietet Besonnenheit der Schweiz, nicht der NATO beizutreten?
Eine weltoffene Schweiz schlägt sich nicht auf die Seite der westlichen Grossmächte. Wer ausreichend nüchtern ist, um genau hinzusehen, der weiss, dass die USA und andere NATO-Staaten seit Dekaden Kriege führen. Allein die USA haben seit 1991 251mal militärisch (7) interveniert und zwar oft völkerrechtswidrig und stets mit gravierenden Schäden für die dortigen Menschen und deren Umwelt. Und horribile dictu: Es sind Kriege, die zunehmend im Namen der Menschenrechte bzw. der westlichen Werte und der Moral geführt werden.
Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass es sich nicht um Moral handelt, sondern um system- und strukturblindes Moralisieren. Denn soll unser Urteil über eine Moral – präziser: über eine spezifische gesellschaftliche Moralität – ethischen Kriterien genügen, so haben wir den Zugriff auf die Ressourcen in Rechnung zu stellen, mit dem die beurteilte Gesellschaft ihren Mitgliedern das Überleben sichern kann. Und dieser Zugriff fällt systematisch aus dem westlichen Wahrnehmungsraster hinaus – aus dem liberalen und dem neoliberalen.
Wenn die USA für ihren Lebens- und Rechtsstandard aber derzeit sechs Planeten, die Schweiz immerhin noch drei vernutzen, dann stellen sich viele Fragen: Wozu misst der Westen die restliche Welt an seinem eigenen Lebensstandard, obwohl der mit massivem Überkonsum verbunden ist? Und warum massen sich ausgerechnet jene, die viel zu viel beanspruchen und die viel zu viel verbrauchen, an, den andern zu sagen, was rechtens ist und wo’s künftig lang gehen soll? Wird damit nicht zweierlei ausgeblendet: Erstens die Verbindung, die zwischen wirtschaftlichen Strukturen einerseits, rechtlichen und sozialen Leistungen andererseits besteht? Zweitens, dass der Westen seinen Lebensstandard und Überkonsum nur halten kann, so lange er über mehr Kapital, den besseren energetisch-technologischen Machtapparat, das überlegene juristische Instrumentarium verfügt? Wagen wir einen Blick ins Auge des Zyklons. Denn so ausgerüstet kommen wir derzeit in der Schweiz alle – reich und arm, wenn auch zu ungleichen Teilen – in den Genuss eines grenzenlosen Zugriffs auf die globalen Ressourcen. Ein Zugriff, den sich vermutlich die Mehrheit der Menschen wünscht, ein Zugriff, der aber zwangsläufig anderswo und oft weit entfernt mit unökologischer Bewirtschaftung und schwindenden Ressourcen zusammengeht.
Besonnene Alt- und Neuschweizer und -schweizerinnen wissen: Das system- und strukturblinde Moralisieren, das derzeit im Schwange ist, verdeckt die geostrategisch entscheidenden Interessen. Das, wozu der Kapitalismus laufend gezwungen ist
• neue Märkte zu erobern
• neue Investitionsmöglichkeiten zu ergattern oder zu erstreiten
• den Zugang zu Rohstoffen, seltenen Erden zu erschliessen oder zu kontrollieren.
Eine Dynamik, die, wie die Ungleichgewichte, direkt mit der grenzenlosen Wachstumswirtschaft verbunden ist.
Zugegeben – die Sache ist ambivalent: Der Westen hat mit seinem Wirtschaftssystem die Industrialisierung, die Wissenschaft, die weltweite Mobilität, das weltweite Netz ermöglicht und vielen Menschen ein besseres und längeres Leben gebracht. Ein Wirtschaftsmodell, das inzwischen von den meisten nicht-westlichen Staaten übernommen wurde: Sie hatten die Wahl – entweder erfolgreich mitzumachen oder aber unterzugehen.
Doch der Westen hat bereits vor 500 Jahren damit begonnen, sich die Restwelt zu seinem Vorteil zuzurichten und zu unterwerfen: Eroberung, Kolonialisierung, Sklaverei, Ausbeutung, Fremdherrschaft kamen zum Zug. Der Westen hat bereits zwei Weltkriege angezettelt und er scheint nicht zu zögern, einen Dritten zu entfachen. Und der Westen ist, obwohl hauptverantwortlich für die Klimaerwärmung, die sinkende Biodiversität, die rasch wachsende Polarisierung zwischen Armen und Reichen, wild entschlossen, sich „seine“ unipolare Welt zu erhalten und weiterzufahren mit seinem Titanic-Kurs. Liz Truss – die einstige britische Aussen- und Premierministerin – hat das im April 2022 bislang am klarsten formuliert:
„Wir brauchen eine Wirtschafts-NATO die unseren Lebensstandard verteidigt.“
Kurz: das westliche Grossmachtstreben verschärft die Probleme, statt sie zu lösen!
So kann es nicht weitergehen: Es reicht!
Auf der Basis der Neutralitäts-Initiative mit ihrem Besonnenheitspassus haben die offiziellen Vertreter und Vertreterinnen der Schweiz mit Blick auf die grosse Welt künftig einen verfassungsmässigen Auftrag zu erfüllen:
• Sie haben dafür zu sorgen, dass Konflikte verstanden, verhindert, vermitteln werden können.
• Sie haben über- oder allparteilich zu intervenieren – eine grosse und wunderbare Herausforderung!
Die Schweiz und ihre offiziellen Vertreter und Vertreterinnen nehmen künftig Partei für den Frieden und für den Ausgleich.
IV Zwei Blicke ins Innere der Schweiz
Zuerst sei klargestellt: Als Privatpersonen können Schweizer und Schweizerinnen selbstverständlich auch künftig Partei nehmen und sich der Probleme in aller Welt parteilich annehmen. Als eine, die lebenslang mit Migrierenden und Flüchtenden in und aus aller Welt und an den damit verbundenen Schwierigkeiten gearbeitet hat, bin ich aber überzeugt, dass in der Schweiz zwei Probleme anstehen. Zwei Schwierigkeiten, für die es ebenfalls Besonnenheit braucht, wenn sie denn konstruktiv gelöst werden sollen.
41. Besonne Neutralität ist nötig, damit unser Land nicht in im Tohuwabohu endet
Die Bevölkerung der Schweiz hat sich in den letzten sieben Dekaden beinahe verdoppelt und zwar aufgrund einer Immigration, die zuerst aus den südlichen Staaten Europas stammte, heute zunehmend aus aller Welt kommt. Inzwischen ist vermutlich ein grosser Teil der Schweizer Bevölkerung über die Einwanderung, die Eltern oder eine Heirat mit dem Ausland verbunden. Kurz: die Schweiz ist multiethnisch oder multikulturell, aber auch extrem heterogen zusammengesetzt und inzwischen – ebenso stark – soziokulturell polarisiert. Darüber mag man nun jubilieren oder jammern! Aber gelingt es nicht, mit diesen Faktoren besonnen umzugehen, riskiert unser Land sich politisch aufzureiben – weiter zu zersplittern – auseinanderzufallen – unterzugehen!
Wichtig für eine konfliktlösungsorientierte Aussen- und Innenpolitik ist es zu wissen, dass die meisten Neulinge in unserem Land im internationalen System aufgestiegen sind und in die Schweiz gekommen sind, weil es ihnen hier besser geht. Sogar Deutsche wandern ein, weil sie hier mehr verdienen. Sofern die Immigrierten aber aus dem armen Teil der Welt stammen, gehörten sie oder ihre Eltern meistens der dortigen Mittel- oder Oberschicht an. Das gilt sogar für Kriegs- und Armutsflüchtlinge, denn die Ärmsten können selten weg!
Und sofern sie inzwischen eingeschweizert wurden – und das sind viele, haben sie oft ihren Pass behalten oder besitzen sogar mehrere Pässe. Ein Kurde hat mir geraten, sie als „Neuschweizer“ zu bezeichnen. Viele davon, wenn auch nicht alle, nehmen selbstverständlich weiterhin und oft sehr aktiv am Geschick ihrer einstigen Heimat teil. Das ist gut so und darf auch so bleiben.
Ihr politisches Engagement in Ehren: Das soll und darf Sache der immigrierten Personen bleiben.
Aus zwei gewichtigen Gründen darf es aber nicht zur Sache der offiziellen Schweiz werden:
• Erstens hegen manche Immigrationsgruppen Umsturzpläne mit Blick auf ihr Heimatland und haben auch unter sich entsprechend heftige politische Differenzen – das ist kein Vorwurf: beides darf sein! Ihr politisches Engagement also in Ehren: Die offizielle Schweiz soll sich n i c h t darin verwickeln lassen. Sonst haben wir nicht nur den Parteiensalat, sondern nimmt das Tohuwabohu in unserem Land massiv zu. Bereits rufen iranische Neuschweizer und -schweizerinnen dazu auf, die Schweiz solle den Iran sanktionieren. Möchte-gern-Bundesrat Jositsch nahm dieses Begehren – bezeichnender Weise just noch vor den Bundesratswahlen – sofort auf. Dass er damit gegen wichtige Grundsätze im Völkerrecht (8) verstösst, ist dem Sozialdemokraten wohl genauso entgangen, wie dass Immigrierte aus der Türkei, aus Kurdistan, Eritrea oder Sri Lanka diese Einmischungspraxis ebenfalls einfordern könnten. Im Tagblatt habe ich vor Jahren gelesen, die Stadt Zürich beherberge Menschen aus 157 Nationen. Direkt damit verbunden die Gretchenfrage: Soll die Schweiz sich nun künftig in die inneren Angelegenheiten der Länder in aller Welt einmischen? Eine Hybris, welche die Neutralitätsinitiative untersagt: Die Schweiz trägt Sanktionen mit, aber nur wenn diese von der UNO formell beschlossen wurden.
• Zweitens ist es nicht nur unklug, sondern kontraproduktiv, wenn sich wirtschaftsmächtigere Staaten in die Innenpolitik von ärmeren Staaten einmischen. Diese Einmischungen sind weder demokratisch noch zielführend, weil unsachgemäss. Sicher: In vielen armen Ländern sind, genauso wie bei uns in der Schweiz, künftig Systemveränderungen nötig. Aber die Bevölkerung der betreffenden Staaten hat sich für Veränderungen zu entscheiden, die eigenständig aufgegleist werden und über die demokratisch entschieden wird. Derzeit ein Kampf, bei dem die dortigen Ober- und Mittelschichten oft in der Minderheit sind. Das gilt nicht nur für den Iran, aus dem sich die Oberschichten und viele Gebildete in den Westen abgesetzt haben – in die USA, nach Österreich, in die Schweiz. Es gilt prinzipiell, nämlich überall in den Staaten und für die Bevölkerungen, die in der ungleichen Weltwirtschaft am unteren Ende platziert sind oder an den Rand geraten sind.
Was die Einmischung von aussen und oben bringt, sei am Beispiel von Ägypten erläutert: Denn was der liberale Westen 2011 als arabischen Frühling bezeichnet und aktiv unterstützt hatte, war zum Scheitern verurteilt. Von jugendlichen Netz-Aktivisten und -Aktivistinnen lanciert, von den städtischen Mittelschichten beflügelt und von George Soros’ „Open Society Foundations“ (9) unterstützt, wurde Mubarak zwar gestürzt – zweifellos ein Despot! Er hatte das Militär zu einem wirtschaftlichen Machtfaktor ausgebaut, so dass andere Wirtschaftsagenten kaum Geschäfte führen oder gründen konnten. Auch demokratische Verfahren waren unmöglich. Vorauszusehen aber war, was bei demokratischen Wahlen passiere würde. Denn für die Bevölkerungsmehrheit, vorab für die vielen Armen in den Städten und auf dem Land, gab es keine staatlich organisierte Umverteilungs- und Solidarinstitutionen. Der überfamiliale Ausgleich wurde seit Dekaden von den Moscheen und den Muslimbrüdern auf der Basis von religiösen Regeln organisiert – etwas, das der Westen und Kairos liberal orientierten Wohlstandskinder übersehen hatten, ja verabscheuten und bekämpften: System- und strukturblind dafür, dass in einem Staat, in dem die formelle Erwerbsarbeit einer Minderheit vorbehalten ist, modernistische bzw. individualistische Werte aus strukturellen Gründen nicht oder nur selten demokratisch durchgesetzt werden können. Besonders peinlich für den Westen: Als General Abdel Fattah al-Sisi den demokratisch gewählten Präsident Mursi stürzte, herrschte weitherum Erleichterung. Und als der Präsident, der sich an die Macht geputscht hatte, dann Hunderte Islamisten ermorden liess, den demokratisch gewählten Mursi samt seinen Regierungsmitgliedern ins Gefängnis steckte und ohne ausreichend rechtliche Grundlagen zahlreiche Todesurteile vollstrecken liess, schauten alle weg! Alle, die sich angeblich für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte engagieren. Und die Schweiz? Sie macht bei dieser Drückebergerpolitik regelmässig mit – zu gewichtig ihre wirtschaftlichen Interessen; zu blind für die Schatten der liberalen Weltwirtschaft.
Wer nota bene ausreichend systembewusst ist, der weiss auch, dass die westlichen Hilfsprogramme in Afghanistan oder Haiti die dortigen Armutsprobleme in keiner Weise lösen, weil sie nicht sachgerecht sind. Im Gegenteil: Sie führen zu potemkinschen Staaten, fördern die vertikale Integration (10) und führen langfristig in die wirtschaftliche, soziale und politische Katastrophe. Wie erwähnt: Die liberale Optik fokussiert die Individuen und blendet aus, dass individuelle Freiheiten und Rechte wirtschaftliche Kapazitäten voraussetzen, die in armen Staaten fehlen. Die Welt lässt sich nicht von aussen und von oben integrieren! Es sei denn auf der Basis von extremen Ungleichgewichten und, direkt damit verbunden, einem ungeheuerlichen Totalitarismus.
2. Besonnene Neutralität verzichtet darauf, system- und strukturblind zu moralisieren!
Derzeit mehren sich die Stimmen, die sich unbedarft aus dem wirtschaftlichen und juristischen Hochoben der westlichen Wohlfahrtsstaaten in die internen Belange und Auseinandersetzungen in aller Welt einmischen. Auch die offizielle Schweiz läuft Gefahr, gegenüber Staaten in Afrika und Asien diesen arroganten Kurs einzuschlagen und system- und strukturblind auf die arme oder auf traditionale Restwelt hinunter zu moralisieren.
Besonnene Alt- und Neuschweizer und -schweizerinnen warnen davor, das Hohelied von Menschenrechten und westlichen Werten zu singen, o h n e die wirtschaftlichen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für den westlichen Rechtsstandard zu bedenken. Wir sind mit Widersprüchen und Ambivalenzen konfrontiert: Ambiguitätstoleranz ist erforderlich.
Was nun folgt, ist k e i n Plädoyer gegen die Menschenrechte! Ich plädiere dafür, genauer hinzusehen.
Denn bereits 1948, als der Menschenrechtskatalog erarbeitet wurde, wiesen die Vertretungen der sechs sozialistischen Staaten darauf hin, dass einige der Menschenrechte an wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden sind. Sie forderten deshalb ein Menschenrecht auf wirtschaftliche Teilhabe – ein Recht, das vom damals machtmässig weit überlegenen Westen abgeblockt wurde. Deshalb haben sich die sozialistischen Staaten in der Schlussabstimmung dann der Stimme enthalten.
Wie unsachgemäss und arrogant das system- und strukturblinde Moralisieren aus dem weltwirtschaftlichen Hochoben ist, sei zum Schluss an der Geschlechtergleichstellung und an der One-Love-Kampagne illustriert.
• Zuerst zur Gleichstellung von Mann und Frau
Nota bene ein wichtiges Ziel, um soziale und ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen. Was der Westen aber beharrlich ignoriert, sind die Voraussetzungen finanzieller, energetisch-technologischer, medizinischer und institutioneller Art, die es für diese Gleichstellung braucht. Im Bild oben knapp und gewitzt zusammengefasst.
Konkret: Was hat mich denn als Frau befreit? Fliessendes Wasser und Elektrizität, die Waschmaschine, der Staubsauger, der Geschirrspülautomat etc., Binden, Tampons und die Pille sowie eine gute Bildung und Ausbildung. Dazu kommt eine ausreichende Zahl von Erwerbsarbeitsplätzen, für die keine Spitzenmuskelkraft erforderlich ist. Dann die Kindergärten und Schulen, all die Krippen und Horte, in denen unsere Kinder versorgt werden. Ebenso teuer: Der aufwändige Rechtsapparat, der inzwischen in der Schweiz sowohl im öffentlichen Raum als auch in der Familie, sogar manchmal bis ins Ehebett für Ordnung sorgt – alles Errungenschaften, die im armen Teil der Welt für den Grossteil der Frauen aus wirtschaftlichen Gründen nicht zu haben sind.
• Als zweites Beispiel die One-Love-Kampagne
Sie hat in Qatar einen neuen Höhepunkt erreicht: eine Kampagne, die von einer Bewegung getragen wird, die sich seit drei Dekaden lauthals – wie an der Züricher Street-Parade – und publikumswirksam – wie die deutsche Innenministerin Nancy Faeser – in Szene setzt und das dank der neuen Medien immer effektiver kann. Als die Fussballer aufgefordert wurden, eine One-Love-Armbinde zu tragen, hat die Fifa diese öffentliche Inszenierung westlicher Werte gestoppt und damit “on the spot” für eine Quasi-Ordnung gesorgt.
Weit wichtiger: Die ganze Kampagne ist, obwohl ich persönlich die Anliegen der LGBTQ-Community durchaus verstehe und ernst nehme, erschreckend system- und strukturblind! Wir haben es erneut mit Moralisieren zu tun, statt mit einer Moral, die ihre Voraussetzungen beachtet und sich auf ihre Rahmenbedingungen besinnt.
Die LGBTQueers fragen nämlich nie, was das alles kostet:
• künstliche Befruchtung & Besamung
• Leihmutterschaft
• Geschlechtsumwandlung etc.
Auch nicht wie und von wem ihre Any-thing-goes-Wünsche finanziert werden sollen. (11) Stattdessen wird unethisch, weil weder auf dem Kontext noch auf die verfügbaren Ressourcen bezogen, ignoriert, dass im Jahr 2021 4.1 Milliarden Menschen ohne monetär abgesicherte Solidarnetze überleben mussten. (12)
Konkret heisst das: Bis heute sind für die Hälfte der Menschen die eigenen Kinder die einzige Altersversicherung! Er sei denn, die Kirchen, die Moscheen, die Tempel helfen. Konkret: Im armen Teil der Welt sind die Menschen, wenn sie alt und schwach werden, auf die Unterstützung ihrer physiologischen Kinder angewiesen. Deshalb ist in armen Staaten aus höchst rationalen Gründen die Homosexualität oft verpönt oder wird u. U. sogar bestraft. Nota bene sind die nicht-monetär abgesicherten Solidarinstitutionen auch ein gewichtiger Grund dafür, dass im armen Teil der Welt vielerorts an verbindlichen Verwandtschafts-, Generationen-, Geschlechtsrollen festgehalten wird.
Richtig: Es sind Ordnungsvorstellungen, die den Menschenrechten widersprechen bzw. mit den Erwartungen der LGBTQ-Community und von vielen Feministinnen unvereinbar sind! Doch wenn wir genauer hinsehen, sind die Gründe dafür wirtschaftlicher Art: Sie haben zu tun mit den weltweiten Ungleichgewichten und der damit verbundenen mangelnden energetisch-technologischen Ausrüstung, mit der geringen Zahl an formellen Erwerbsarbeitsplätzen und entsprechend mit den fehlenden überfamilialen Solidarinstitutionen.
Besonnene Neuschweizer und -schweizerinnen aus armen Ländern messen die Zustände in ihrer alten Heimat deshalb nicht am Schweizer Lebensstandard. Auch nicht am hiesigen De-Luxe-Rechtskonsum. Sie kennen die Ursachen der Armut in ihrem Herkunftsland und sind mit den Gründen für deren „menschenrechtliche Besonderheiten“ vertraut. Und genauso wie die Besonnenen unter den Altschweizer und -schweizerinnen wissen sie, dass jedes Recht an wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden ist, wenn es denn verlässlich und konstruktiv zum Tragen kommen soll. Und beide, besonnene Alt- und Neuschweizer und -schweizerinnen, sind sich bewusst, dass die anstössigen und problematischen Ungleichgewichte sich im Rahmen des westlichen Weltwirtschaftens herausgebildet haben: Wer einst über mehr Kapital und den effizienteren energetisch-technologischen Machtapparat verfügte, der konnte früher die Welt kolonisieren. Und er kann sie bis heute beherrschen. Nur passiert das seit der Entkolonialisierung über den Freihandel und seit den 70er Jahren noch effektiver im Rahmen der vier neoliberalen Freiheiten. Das sind die Grundlagen nicht nur für das Blocher’sche Wirtschaftsimperium, sondern für alle Schweizer Konzerne, die im Ausland erfolgreich sind und selbstverständlich auch für unseren Wohlfahrtsstaat. Es hat also nicht nur mit firmenspezifischen, sondern auch mit nationalen Interessen zu tun: mit dem energetisch-technologischen, finanziellen und juristischen Machtapparat, der unserem Land für den Zugriff auf die Ressourcen zur Verfügung steht. Und wer noch genauer hinsieht, wird irritiert oder sogar erschreckt feststellen, dass – damals wie heute – das mit dem Machtapparat assozierte Machtgefälle und die damit verbundenen Zumutungen in Namen einer angeblich höherer Kultur, einer besseren Moral bzw. von zivilisatorischen westlichen Werte legitimiert werden.
V Fazit und Ausblick
Karl Marx hat einmal gesagt: Die Geschichte wiederholt sich immer zweimal: Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Kolonialisierung, Sklavenhalterei, Ausbeutung – die einstige Tragödie. Und die heutige Farce? Das system- und strukturblinde Moralisieren, wie es derzeit von Woke-Linken und zahlreichen westlichen Staatschefs und Amtsträgern betrieben wird. Ein Wertegeschwurbel, das die realen Interessen verdeckt. Wer aber effektiv sensibel ist, der wird feststellen, dass dieses Gerede sowohl die Gemeinschaften und Gesellschaften als auch die Mehrheit der Frauen und Männer an den weltwirtschaftlichen Rändern abwertet und immer tiefer in Not und Bedrängnis bringt. Wer noch genauer hinsieht, wird auch erkennen, dass sogar jene Menschen in den USA, die von Hillary Clinton als die „Deplorables“ bezeichnet wurden, ebenfalls mit im Boot dieser Aussätzigen sitzen.
Veränderungen sind dringend nötig! Bei uns in der Schweiz und selbstverständlich auch in der armen Welt.
Was es für diese Veränderungen aber sicher nicht braucht, sind Kriege. Auch kein system- und strukturblindes Moralisieren – erst recht nicht im Namen der Menschenrechte!
Was es hingegen für die nötigen Veränderungen und für universelle Menschenrechte dringend braucht, sind neue Weltwirtschaftsregeln: Regeln, die einen Ausgleich zwischen arm und reich ermöglichen und die es uns ermöglichen, dass weltweit an der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit gearbeitet werden kann.
Dafür legen besonnene Alt- und Neuschweizer und -schweizerinnen ihre Hand ins Feuer.
Deshalb gilt: Lassen wir in der demokratischen Schweiz das Lagerdenken und die Schwarz-Weiss-Malerei hinter uns. Stehen wir ein für die Neutralitätsinitiative. Sie öffnet der Schweiz das Tor zu jener informierten und weltoffenen Besonnenheit, von der letztlich, da bin ich mir schier sicher, nicht nur besonnene Alt- und Neuschweizer und -schweizerinnen, sondern auch system- und strukturblinde Alt- und Neuschweizer und -schweizerinnen träumen.
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Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Zur Autorin: Verena Tobler ist Ethnologin, Soziologin sowie ausgebildete Beraterin und Mediatorin. Sie hat praktische Arbeit in Bangladesh, Pakistan, Liberia, im Sudan und in Kamerun geleistet und war an einer Feldforschung in Mozambik beteiligt. Sie war freiberuflich stets mit interkultureller Vermittlungs- und Integrationsarbeit beschäftigt, an Schulen, in Gemeindeämtern, in psychiatrischen Anstalten und auch in Gefängnissen.
Fussnoten:
(1) https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/gruppendenken In der Entscheidungsforschung von Janis (1971) eingeführt, um damit das Zustandekommen unangemessener und fehlerhafter Entscheidungen in Gruppen zu erklären.
(2) Ich spreche hier – vereinfachend – von Moral, weil sie unter dieser Bezeichnung in den Köpfen und Herzen der einzelnen Individuen und Subgruppen spukt. Aber in komplexen Gesellschaften müsste begrifflich differenziert werden: Erstens wären die persönliche oder individuelle Moral und die gesellschaftliche Moralität auseinanderzuhalten, also das, was in einer spezifischen Gesellschaft mehrheitlich als die richtige Moral gilt, zweitens, wären die Moralität und die jeweils verfestigten Rechtsformen zu unterscheiden. Diese legen Normen fest, deren Brüche formell sanktioniert werden. Das wiederum – je nach Urteilsspruch – mehr oder weniger verbindlich.
(3) Sandrine Dixson-Declève, Owen Gaffney, Jayati Ghosh, Jørgen Randers, Johan Rockström, Per Espen Stocknes: Earth for All: Asurvival guide for humanity. 2022.
(4) Die anderen drei Kehrtwenden sind laut Earth for All: Ermächtigung der Frauen; ein für die Menschen und Ökosysteme gesundes Nahrungsmittelsystem; der Einsatz von sauberer Energie.
(5) Ibd: 2022: 14
(6) Wege gegen die Ausländerfeindlichkeit, Wirtschaftswissenschaftliches Institut der Universität Basel1992. http://kernkultur.ch/resources/Lieblingsreferate/Wege_Auslaenderfeindlichkeit.pdf Nachdenken über die zunehmende Einwegmigration: Zur Quadratur des Kreises (In: VHS-Bulletin N. 4, November 2015: 42 – 52 oder: http://www.kernkultur.ch/resources/Artikel/Zur_Quadratur_des_Kreises.pdf
(7) Congressional Research Service: Instances of Use of United States Armed Forces Abroad, 1798 – 2022. Updated March 8, 2022.
(8) Generalversammlung der UNO 24.10.1970: Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts: Der eine wichtige Grundsatz betrifft die Pflicht, im Einklang mit der Charta, sich nicht in Angelegenheiten einzugreifen, die zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören. Der andere ist: Der Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker.
(9) Vgl. NZZ, 14.05.2019: Wie Georg Soroas vom Messias zum Volksfeind wurde.
(10) Ich erlaube mir eine ausführliche Anmerkung: Denn mit Vertikaler Integration bezeichne ich jenen vieldimensionalen Prozess, der jene Regeln, Prozesse, Mechanismen erfasst, die in der liberalen Wirtschaft zum Tragen kommen und die dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Ungleichgewichte zwischen und innerhalb der Staaten rasant zunehmen. Vertikale Integration hat zum Resultat, dass sich die wirtschaftliche und politische Macht zunehmend im transnationalen Hochoben konzentriert, d.h. in der Verfügungsgewalt von immer weniger, aber dafür umso mächtigeren Konzernen, Einzelpersonen und Staaten.
a) über den Markt bzw. den sog, Freihandel: Unternehmungen, die mit mehr Kapital und den besseren energetisch-technologischen Apparaturen ausgestattet sind, über das raffiniertere wissenschaftliche Know How und die effizientere Organisationskapazität verfügen, bewirken im transnationalen Kontext, dass schwächere Unternehmungen gar nicht erst aufkommen, aus dem Feld geschlagen oder aufgefressen werden. Der Neoliberalismus mit seinen vier Freiheiten verschärft die Ungleichentwicklung und die damit verbundene Vertikale Integration erst recht.
b) über transnationale Strukturen: Export von Landwirtschaftsprodukten und Rohstoffen aus den wenig entwickelten Ländern; Export von High-Tech-Produkten aus den hoch entwickelten Ländern – mit entsprechend sinkenden Terms of Trades für die landwirtschaftlichen Produkte der armen Staaten und einer enormen Massierung der Macht bei der Regierung im export-finanzierten armen Staat.
c) über die transnationale Migration: die ungleichen Lebensstandards in reichen und armen Staaten oder Regionen lösen die Migration von Süd nach Nord aus mit dem Resultat: Abwanderung aus armen Staaten, Zuwanderung in reiche Staaten – also Brain Gain für die HDC, Brain Drain für die LDC. Und der Irrsinn: All diese Menschen bewegen sich von dort, wo man i. d. R. noch einen kleinen ökologischen Fussabdruck hat, in jene Staaten, die für ihren Wohlstand 3, 4, ja 6 und mehr Planeten verkonsumieren.
d) über internationale Hilfe: Entwicklungszusammenarbeit und der Kampf für Menschenrechte können – müssen aber nicht! – zur Vertikalen Integration beitragen. Dabei kann die Entwicklungszusammenarbeit wichtige Voraussetzungen für Entwicklung bereitstellen: Ausbildung, Brücken, Strassenbau, Gesundheitsversorgung. Werden jedoch die Wirtschaftsregeln nicht so verändert, dass auch im armen Staat horizontale wirtschaftliche Verflechtungen mit lokaler Kapitalakkumulation, Gewerbebetrieben, KMUs und einer ausreichenden Zahl an Arbeitsplätzen, lokalen Märkten und einer ebensolchen Nachfrage möglich werden, dann münden Hilfsprojekte. Denn so lange die Bevölkerungsmehrheit keine formelle Erwerbsarbeit hat, weder Steuern noch Abgaben leisten kann, sind weder staatlich organisierte Solidarinstitutionen noch wird eine Demokratie möglich, die ihren Namen verdient. Entwicklungszusammenarbeit, die n i c h t dafür sorgt, dass effektive Entwicklung möglich wird, bringt viele „nur“ auf den Geschmack: Sie wandern, sofern sie nicht mehr oder nicht bei den NGOs angestellt sind, ab in hoch entwickelte Staaten. Jüngstes Beispiel für diese Form der Vertikalen Integration ist die Abwanderung der einstigen westlichen Hilfskräfte aus Afghanistan.
Bei der Vertikalen Integration handelt sich um einen Prozess, der zunehmend in jenen Totalitarismus mündet, den wir bereits in zwei Varianten kennen – in der stalinistischen und in der nationalsozialistischen. Längst ist er auch in den westlichen Staaten mit ihren alten Demokratien spürbar und beobachtbar: Die Bürgerlichen Freiheiten und Rechte verschwinden. Nicht nur die Rede- und Meinungsfreiheit, sondern auch das Recht auf umfassende und sachliche Information wird über die im entrückten Hochoben zentrierten Medienplattformen abgeschafft. Statt umfassende Informationen anzubieten, betreiben viele Medienmonopole inzwischen Manipulation. In der milderen Form: der Zugang zu anderen Auffassungen und zusätzlichen Fakten wird systematisch gesperrt; die schwerwiegendere Form: Es werden altbekannte Formen des Rassismus aufgewärmt. So hält z. B. die Slawenfeindlichkeit, mit der Hitler einst für seinen Russlandfeldzug mobilisiert hatte, nun auch in der Schweiz Einzug. Am 22.4.22 wurde in der Stadt St. Gallen ein Konzert von Tschaikowsky abgesagt, weil die Aufführung russischer Musik im öffentlichen Raum des Klosterhofs unzumutbar sei. https://www.tagblatt.ch/kultur/ostschweizerkultur/oper-tschaikowski-wird-als-staatskomponist-missbraucht-warum-das-theater-stgallen-kurzfristig-das-programm-der-festspiele-aendert-ld.2279018.
Nota bene konnten sich China und die asiatischen Tigerstaaten der vertikalen Integrationsdynamik entziehen. Der eine Grund dafür: Sie hatten seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden eine staatliche Organisation, die einerseits auf Märkte, professionelle Arbeitsteilung, Berufsausbildung und Geld abstellte, die andererseits mit Bürokratie, Steuern bzw. Abschöpfungs- und Organisationsprozessen sowie mit Schrift und Buchhaltung zusammenging. Der andere Grund: Diese Staaten öffneten sich erst für den Welthandel, als sie sich intern auf einen energetisch-technologischen Stand gebracht hatten, der es ihnen gestattete, im Freihandel erfolgreich mitzumachen.
(11) Ich war im Jahr 2000 an einen feministischen Kongress geladen, um dort über die Situation der Frauen im armen Teil der Welt zu referieren. Am Schluss der Tagung forderten LGBTQ-AktivistInnen eine neues Menschenrecht: Jeder Mensch soll nach der Geburt eigenständig sein Geschlecht bestimmen können. In der Schlussrunde stellte ich die Frage, wer denn dieses Recht finanzieren soll. Der Jurist Rainer Schweizer leitete die Diskussion und schloss sie mit der Bemerkung: „Jetzt haben wir alle Fragen beantwortet ausser jener von Verena Tobler. Und ich gebe zu, auch ich habe mir diese Frage noch nie gestellt. Aber ich versichere ihr: Ich nehme sie jetzt mit mir nach Hause!“
(12) Eine Welt Nr.2 / Juni 2022; DEZA-Magazin für Entwicklung und Zusammenarbeit: S. 25