Russland und Indien: Keine Verbündeten — enge Partner aber schon
(Red.) Indien, mittlerweile mit über 1,4 Milliarden Einwohnern der bevölkerungsreichste Staat der Welt, hat reichlich innenpolitische Probleme. Das Kastendenken ist noch nicht völlig verschwunden, die verschiedenen religiösen Gruppierungen werden zum Vorrang der Mächtigen missbraucht. Außenpolitisch aber zeigt das Land, dass es sich nicht so leicht vereinnahmen lässt. Auch auf der sogenannten Friedenskonferenz auf dem Schweizer Bürgenstock Mitte Juni hat Indien eine klare Nachricht hinterlassen: Es hat zwar einen (untergeordneten) Beobachter hingeschickt, das skandalös einseitige Abschlusscommuniqué aber nicht mitunterschrieben. – Heute und morgen weilt Premierminister Narendra Modi in Moskau zu Besuch bei Putin. Stefano di Lorenzo hat aus Moskau näher hingeschaut. (cm)
Heute und morgen wird der indische Premierminister Narendra Modi die russische Hauptstadt Moskau besuchen. Es ist ein spontaner Besuch, der erst vor einigen Tagen angekündigt worden ist. Ein Besuch, mit dem der indische Premierminister, wie viele beobachtet haben, auf die Tradition verzichtete, die erste Auslandsreise in ein Nachbarland wie Bangladesch oder Bhutan zu unternehmen. Indien hatte ja in den letzten Jahren nach dem Prinzip „Nachbarschaft zuerst“ seine Auslandspolitik gestaltet. Modi wurde vor kurzem zum dritten Mal gewählt.
Aber warum wählte Modi gerade Russland für seinen ersten Auslandsbesuch nach der Wiederwahl? Der amerikanischen Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge sei der indische Premierminister besorgt über die zu enge Partnerschaft zwischen Russland und China gewesen. China und Russland hatten 2022 ein „grenzenloses Bündnis“ geschlossen. Modi möchte mit seinem Besuch an Russland ein Freundschaftszeichen senden.
So weit, so nah
Russland und Indien: zwei Länder, die weit voneinander entfernt und sehr, sehr unterschiedlich sind. Doch trotz aller Unterschiede in Kultur, Sprache, Wirtschaft, Geografie und Klima sind die Beziehungen zwischen Russland und Indien seit der Sowjetzeit traditionell sehr eng gewesen. Und das, obwohl Indien nicht zum sowjetischen Block gehörte, sondern zur sogenannten „Dritten Welt“, zur Bewegung der Blockfreien Staaten – wobei der Ausdruck „Dritte Welt“ anfangs noch keine abwertende Bedeutung hatte. Die Bewegung der Blockfreien wurde zu Zeiten des Kalten Krieges von Jugoslawien und eben Indien angeführt. Die Sowjetunion versuchte, mit den blockfreien Ländern gute Beziehungen zu pflegen.
Indien ist heute kein irrelevantes Land, kein Land irgendeiner „Dritten Welt“, dessen Stimme nicht zählt und leicht ignoriert werden kann. Die Welt von 2024 ist nicht die Welt von 1945 und auch nicht die Welt von 1989 oder 1991. Es wäre schwierig zu erwarten, dass Bündnisse und Institutionen in einer Welt, die sich verändert, in einer fernen Vergangenheit für immer verankert bleiben sollten. Natürlich neigen große Institutionen aufgrund ihres schwerfälligen Wesens zur Trägheit und spiegeln nicht unbedingt den aktuellen Zustand der Welt wider. Auch Menschen stellen oft erst plötzlich fest, dass die Welt anders geworden ist, als ob ein systemischer Schocks nötig wäre, um alte Gewissheiten abzuschütteln und in der neuen Welt aufzuwachen. Die eurozentrische und amerikanisch geprägte Sichtweise der internationalen Politik, als ob die Welt heute von den G7-Staaten und ihren Verbündeten regiert würde, ist bereits zu einer anachronistischen Vorstellung geworden. In Europa ist dies aus vielen Gründen immer noch schwer zu verstehen und zu akzeptieren.
Heute ist Indien die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt (ca. 4 Billionen Dollar, zwischen Japan und dem Vereinigten Königreich), die drittgrößte in Bezug auf das BIP in Kaufkraftparität (ca. 14 Billionen Dollar, dreimal mehr als Deutschland). Im letzten Jahr hat Indien China überholt und ist nun das bevölkerungsreichste Land der Welt. In so einem Land wie Indien, selbst wenn in einigen Regionen noch immer große Armut herrscht, ist das Potenzial für Geschäfte aufgrund der Größe seiner Wirtschaft immens. Im Jahr 2023 exportierte Russland Waren im Wert von 60 Milliarden US-Dollar nach Indien, vor allem Erdöl – Indien ist der drittgrößte Erdölverbraucher der Welt –, andere Rohstoffe und Waffen. Zum Vergleich: Im Jahr 2021, dem Jahr vor Beginn der letzten Phase des Krieges in der Ukraine, belief sich das gesamte Handelsvolumen zwischen Russland und Deutschland, damals einer der wichtigsten Handelspartner Russlands, auf 60 Milliarden Euro jährlich. Im Falle Indiens ist die Handelsbilanz zwischen Russland und Indien heute sehr unausgewogen zugunsten Russlands, das weit weniger aus Indien importiert als es exportiert.
Indien und der Krieg in der Ukraine
Das letzte Mal hatte der indische Premierminister Narendra Modi Russland 2019 besucht, als er als Hauptgast am traditionellen „Östlichen Wirtschaftsforum“ in der Stadt Wladiwostok im russischen Fernosten teilnahm. Das Jahr 2019 scheint nun Lichtjahre entfernt, es war noch vor der Pandemie, noch vor dem Beginn der letzten Phase des Krieges in der Ukraine.
Der russische Besuch des indischen Premierministers wird von vielen als ein Zeichen dafür gesehen, dass die Isolation gegenüber Russland wegen des Krieges in der Ukraine nicht ganz hermetisch ist. Der russische Präsident wird wegen Kriegsverbrechen und der Verschleppung von Minderjährigen aus Konfliktgebieten in der Ukraine angeklagt. Gegen ihn liegt ein internationaler Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vor, seine Auslandsreisen wurden in den letzten zwei Jahren stark eingeschränkt. Trotzdem wird Modi zu ihm kommen.
In Bezug auf den Krieg in der Ukraine hat Indien eine neutrale und pragmatische Haltung eingenommen und dazu aufgerufen, den Konflikt durch Dialog und Diplomatie zu lösen. Eine Position, die in starkem Gegensatz zu der des Westens steht, der immer noch entschlossen ist, den Krieg in der Ukraine ausschließlich mit militärischen Mitteln und durch eine Niederlage Russlands auf dem Schlachtfeld zu lösen. Es versteht sich, dass Indiens Position dem Westen nicht gefällt. Der Druck des Westens auf Indien hat trotzdem bis jetzt wenig bewirkt. Die Neutralität Indiens in Bezug auf die Ukraine ist eine Position, die eine historische Kontinuität aufweist, schon zur Zeit der sowjetischen Invasion in Ungarn und in der Tschechoslowakei war es so gewesen, bis hin zum Irakkrieg 2003. In all diesen Konflikten hat Indien in der Regel die Gewalt beklagt, es aber abgelehnt, eine der beiden Seiten zu verurteilen.
Derartige Stellungnahmen wurden in den letzten Jahren oft vom indischen Außenminister Subrahmanyam Jaishankar vertreten. In einer berühmten Bemerkung, die später sogar vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz zitiert wurde, sagte der indische Außenminister 2022, dass „Europa aus der Denkweise herauskommen muss, dass Europas Probleme die Probleme der ganzen Welt sind, aber die Probleme des Rests der Welt nicht die Probleme Europas sind“.
Indien hat vor kurzem an dem groß angekündigten ukrainischen „Friedensforum“ in der Schweiz teilgenommen, aber das Abschlusscommuniqué nicht unterzeichnet. Im Gegensatz zu Ländern wie der Türkei oder China bot Indien nicht an, als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine aufzutreten und schlug keinen eigenen Friedensplan vor.
Die Ukraine und Pakistan
In gewisser Weise weist der heutige Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, wenn man einmal von der akuten Phase des heutigen Konflikts absieht, einige Parallelen zum Konflikt zwischen Indien und Pakistan auf, einem Konflikt, der in regelmäßigen Abständen reaktiviert wird und seit mehreren Jahrzehnten ungelöst ist. Es ist ein Konflikt, für den eine Lösung nicht so leicht in Sicht ist, wie für den Konflikt in der Ukraine. Russland und die Ukraine sind ebenso wie Indien und Pakistan das Ergebnis der Teilung eines größeren Staates, die in kurzer Zeit stattfand, beziehungsweise der Sowjetunion und Britisch-Indiens.
Russland und die Ukraine streiten sich seit 2014 um die Krim. Indien und Pakistan streiten sich seit 1947 um den Staat Kaschmir in Nordindien. Pakistan ist, wie die Ukraine heute, im Allgemeinen ein enger Verbündeter der USA und des Westens gewesen. Auch wenn es ein etwas spezieller Verbündeter ist, dessen innere Unruhen und Unberechenbarkeit dem Westen im Laufe der Jahre nicht wenige Probleme bereitet haben. Heute versucht Pakistan einen Balanceakt zwischen seinem alten Verbündeten, den Vereinigten Staaten, zu denen das pakistanische Armee-Establishment enge Sicherheitsbeziehungen unterhält, und der neuen Supermacht auf dem asiatischen Kontinent, China.
Dies scheint sicherlich ein schwieriges politisches Manöver zu sein, da der Konflikt zwischen den USA und China, der bisher nur wirtschaftlicher und diplomatischer Natur ist, in den kommenden Jahren eskalieren könnte. Den Preis für dieses riskante Manöver zahlte der ehemalige pakistanische Premierminister Imran Khan, der im vergangenen Jahr abgesetzt wurde und nun unter Arrest steht, ihm wird eine lange Liste von Verbrechen vorgeworfen, mehr als 150. Khan wurde oft beschuldigt, China zu nahe zu kommen. Könnte dies eine Lehre für die Ukraine sein, falls sie eines Tages vom Kurs der vollständigen transatlantischen Integration abweichen sollte, der vor zehn Jahren nach der Maidan-Revolution eingeschlagen wurde?
Die russisch-indische Kriegsmaschine
Mittlerweile kooperieren Russland und Indien auch weiterhin in den Bereichen Sicherheit und Rüstung. Die bilaterale Zusammenarbeit reicht von der Lieferung des russischen S-400-Komplexes zur Abwehr ballistischer Flugkörper, über die Lizenzproduktion von T-90-Panzern und Su-30 MKI-Kampfbombern, bis hin zur Lieferung von MiG-29- und Kamow-Hubschraubern. Die militärisch-technische Zusammenarbeit zwischen Indien und Russland hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Während anfangs die Sowjetunion und später Russland der alleinige Produzent und Verkäufer waren, gibt es heute zwischen Russland und Indien zahlreiche gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte für die gemeinsame Entwicklung und Produktion von fortschrittlichen Verteidigungstechnologien und -systemen.
Gleichzeitig haben einige in Indien die Möglichkeit ins Spiel gebracht, dass das Land eines Tages AUKUS beitreten könnte, dem Bündnis, das 2021 zwischen den USA, dem Vereinigten Königreich und Australien gegründet wurde, um dem wachsenden Einfluss Chinas entgegenzuwirken. Diesbezüglich sind die Gemüter in Indien heute gespalten. Denn während Indien sich gegenüber China stärken möchte – wie Modis bevorstehender Besuch in Moskau zeigt –, möchte Indien China weder provozieren noch verprellen. Dies beweist, dass internationale Politik, wenn sie klug betrieben wird, ein kunstvoller Balanceakt zwischen verschiedenen Interessen sein kann. Es wäre schön, wenn auch Europa in der Lage wäre, in so einer multidirektionalen Weise zu denken, anstatt unkritisch der amerikanischen Führung zu folgen. Aber wer würde im heutigen Europa jemals auf die Idee kommen, sich ein Beispiel an einem Land der Dritten Welt zu nehmen?